Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Am Scheideweg: Tarnas B300433-A
Am Scheideweg: Tarnas B300433-A
Am Scheideweg: Tarnas B300433-A
eBook762 Seiten9 Stunden

Am Scheideweg: Tarnas B300433-A

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dies ist nach Sternenflug, Drachenfeuer und Himmelfahrtskommando die Fortsetzung und zugleich der vierte Band der Geschichte um Marc Ewert und die Mission rund um den extrasolaren Planeten Tarnas B300433-A.
Mit der Ausschaltung eines Stützpunktes des aggressiven Draconis-Kartells errangen die zwölftausend Menschen des Raumschiffes Independence ISV-11 einen wichtigen Sieg. Doch ist damit schon eine endgültige Entscheidung in der gewaltsamen Auseinandersetzung mit dem Industriesyndikat gefallen? Kann man sich nun tatsächlich dem eigentlichen Missionsziel zuwenden und auf Tarnas B300433-A landen, um eine Bodenbasis auf dessen Oberfläche zu errichten? Noch während die Menschen sich diese Fragen stellen, werden sie mit neuen Problemen konfrontiert. Denn je mehr Informationen sie über den Himmelskörper gewinnen, desto mehr begreifen sie, dass es keineswegs einfach sein wird, dessen Oberfläche zu erreichen. Die Tarnas-Mission steht an einem Scheideweg. Und nicht nur sie. Auch Marc Ewert muss ein paar sehr persönliche Entschlüsse fassen, die sein Leben erneut dramatisch verändern könnten. Wie soll es in seinem Leben weitergehen, und welche Rolle will er bei der Mission rund um den Exoplaneten Tarnas B300433-A zukünftig spielen? Es sind sehr schwierige Entscheidungen mit großer Tragweite. Doch er muss sie treffen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. März 2020
ISBN9783750488663
Am Scheideweg: Tarnas B300433-A
Autor

Peter Schindler

Der Autor wurde 1966 in Ostdeutschland geboren. Nach dem Abschluss der Schule und des Gymnasiums absolvierte er ein vierjähriges Hochschulstudium an der damaligen Offiziershochschule der Landstreitkräfte der Nationalen Volksarmee in Löbau zum Panzerkommandeur und erlangte dabei auch den zivilen Abschluss eines Diplom-Ingenieurpädagogen. Im Anschluss an das Hochschulstudium diente er als Leutnant und führte einen Panzerzug. Nach der Wende und der Deutschen Wiedervereinigung war er als Offizier auf Zeit in den Reihen der Panzertruppe der Bundeswehr tätig. Nach Ablauf seiner Dienstjahre verpflichtete er sich nicht weiter, sondern wechselte ins Zivilleben, wo er viele Jahre für einem großen deutschen Medienkonzern tätig war. Momentan vollzieht er einen beruflichen Wechsel in den Öffentlichen Personennahverkehr als Busfahrer. Peter Schindler ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er lebt in Thüringen.

Mehr von Peter Schindler lesen

Ähnlich wie Am Scheideweg

Titel in dieser Serie (5)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Science-Fiction für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Am Scheideweg

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Am Scheideweg - Peter Schindler

    Süden.

    Kapitel 1 – Die Lebenden

    4. April 2173

    Auf der Oberfläche des Zentralasteroiden

    Felsmulde / 2.000 Meter südlich der Draconis-Flugbasis

    Der junge Space -Infanterist am Rand der Felssenke wirkte etwas verloren und kam sich in diesem Moment auch genauso vor.

    Vielleicht lag es an der Landschaft, die ihn umgab. Die umliegenden Bodenwellen besaßen gezackte und zum Teil sehr scharf geschnittene Kämme. Die Oberfläche des Asteroiden zeigte sich insgesamt sehr rau und stark durchschnitten. Sie war mit unzähligen Wunden übersät, welche kleinere Materiebrocken im Verlaufe von hunderttausenden Jahren mit ihren Einschlägen hinterlassen hatten.

    Es war ein furchtbar düsterer Ort, an dem sich Starman Second Class Marc Ewert gerade aufhielt. Er sah nicht nur so aus, als läge er am Ende der Welt – er war das Ende der Welt.

    Der Deutsche hob den Blick und starrte auf die beiden Cyclone-Raumjäger, die im Tiefflug beinahe direkt über ihn hinwegfegten. Einen Moment lang konnte er die Hornissen-Symbole an ihren Rümpfen und den Winglets ausmachen. Da der Überflug im luftleeren Weltraum in vollkommener Stille erfolgte, wirkte die Szene seltsam.

    Die Maschinen drehten gleich darauf ein und verschwanden hinter einem gezackten Bergkamm.

    Marc Ewert wandte sich wieder der Tätigkeit zu, mit der er sich schon die ganzen letzten Minuten beschäftigt hatte. Er kratzte mit den dicken Handschuhen über die Ärmel seines Raumanzuges, um den krustigen Belag von diesem herunterzubekommen. Was auf den ersten Blick wie dunkelroter, hart gewordener Gelee aussah, war gefrorenes Blut. Es gehörte nicht dem Starman selbst, sondern anderen Menschen. Menschen, die alle mindestens zwei Dinge gemeinsam hatten – sie waren Angehörige der Samurai-Kompanie des Space-Marines-Corps-Bataillons der Independence gewesen – und es gab sie jetzt nicht mehr.

    Von der ersten Gruppe des zweiten Zuges der Samurai-Kompanie hatte kein einziger Marine überlebt – keiner mit Ausnahme Marc Ewerts. Der Deutsche begriff diese Tatsache inzwischen mehr und mehr. Er begann sich bereits mit dem Gedanken abzufinden. Womit er sich dagegen nicht so einfach abfinden konnte, waren das Blut und die Gewebefetzen, die überall an ihm hafteten.

    So lange er sich hier draußen im All auf der Oberfläche des Asteroiden aufhielt, stellten diese Dinge nur eine unschöne Äußerlichkeit dar. Denn den Anzugsensoren nach betrug die Außentemperatur derzeit annähernd minus zweihundertsiebzig Grad, sodass die fremden Körperflüssigkeiten zuverlässig gefroren blieben.

    Doch man würde die einhundertsechsundneunzig überlebenden Space-Infanteristen des Kommandounternehmens, die jetzt hier in dieser Felssenke hockten, gemeinsam mit den rund achtzig geborgenen Toten bald abholen. Die Transportfähren befanden sich den letzten Meldungen nach bereits auf dem Weg.

    Sobald Marc Ewert an Bord in die Wärme der Kabine einer der Maschinen kam, musste alles, was jetzt tiefgefroren an ihm hing, auftauen. Und das würde nicht sehr schön sein – weder für ihn selbst, noch für all jene, die sich dann in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten. Doch sehr viel machen konnte er dagegen nicht. Zudem stellte er mit einem Blick auf die anderen Frauen und Männer hier in der Senke fest, dass er längst nicht der einzige war, der die Reste seiner Kameradinnen und Kameraden an sich kleben hatte. Es würde wohl eine ziemlich große Schweinerei geben, wenn sie nachher in die Fähren stiegen.

    Der Deutsche fühlte sich unendlich erschöpft, denn er befand sich seit dreiunddreißig Stunden unablässig auf den Beinen und hatte dabei Dinge durchgemacht, die man keinem Menschen wünschte. Sein geschundener Körper sendete unzählige Schmerzsignale aus. Die rasenden Kopfschmerzen, wegen denen der Starman annahm, eine leichte Gehirnerschütterung zu haben, waren inzwischen einem dumpfen Pochen gewichen. Um sich von all dem abzulenken, rief er sich die Bilder der zerstörten Draconis-Basis auf sein Helmvisier.

    Die Aufnahmen stammten von einem Beobachtungsgerät, das auf einem nahen Felsturm stand und von diesem aus auf das etwa zwei Kilometer nördlich liegende Flugfeld des Feindes blickte.

    Marc betrachtete das Basisgelände, das auf einem hohen, festungsartigen Betonfundament thronte.

    Die Brände waren inzwischen erloschen, sodass das Basisgelände nun nur noch von jenem seltsam fahlen Licht erhellt wurde, das scheinbar überall im gewaltigen Hohlraum der Gravitationsanomalie herrschte. Die Helligkeit reichte allemal aus, um erkennen zu lassen, dass von der Feindbasis nicht mehr sehr viel übrig war.

    Genugtuung empfand Marc Ewert deshalb nicht. Obwohl er eigentlich allen Grund dazu besaß. Denn dieser Stützpunkt des Draconis-Kartells hier trug die Verantwortung für all jene Dinge, die der Antares nach ihrer Ankunft im Siriussystem und ihm selbst widerfahren waren.

    Im Kommandogebäude der Basis, das nun nur noch einen riesigen, zerglühten Geröllhaufen darstellte, war sehr wahrscheinlich die Idee geboren worden, das Raumschiff mit drei in dessen Richtung gelenkten Asteroiden zu zerstören. In einem der beiden Hangars wiederum, der jetzt nur noch eine hohläugige Ruine bildete, hatte man vermutlich die thermonukleare Bombe zusammengeschraubt, die mit einem Trick schließlich den Weg an Bord der Antares gefunden und deren Schicksal besiegelt hatte. Gleichzeitig hatten sich wohl von hier aus die Raumkampfdrohnen auf den Weg gemacht, um auch noch den vierzehn überlebenden Raumeinheiten des vernichteten Interstellarschiffes den Garaus zu machen.

    Obwohl Marc Ewert bei all diesen furchtbaren Ereignissen wie durch ein Wunder nicht gestorben war, fiel es ihm sehr schwer, sein Überleben in einem durchweg positiven Licht zu betrachten. Zum einen wegen des Verlustes jener Menschen, die ihm wichtig gewesen waren. Zum anderen wegen der langen Abfolge dramatischer und zugleich tragischer Vorgänge, die sein Leben ins Chaos gestürzt hatten. Denn seiner Rettung durch eine Suchgruppe der Independence waren eine Anklage, ein Gerichtsprozess sowie eine Verurteilung gefolgt. Aus dem Leutnant und Raumjägerpiloten war ein einfacher Soldat und schließlich ein Space-Infanterist geworden.

    Die vorläufige Endstation dieses ganzen Wirrwarrs bildete dieser Kommandoeinsatz hier, der den Starman zusammen mit fast eintausend anderen Marines des Space-Infantry-Corps-Bataillons der Independence auf die Oberfläche eines gewaltigen Asteroiden im Inneren einer Gravitationsanomalie geführt hatte.

    Die Unternehmung sah mit der erwarteten Evakuierung der überlebenden Space-Infanteristen nun ihrem Ende entgegen. Wenn man die gewaltigen Verluste an Menschen mal ausklammerte, konnte man sie als Erfolg betrachten. Denn mit der Zerstörung der Radaranlage und des Kommandogebäudes der Draconis-Basis waren die Einsatzziele erreicht und der Weg für das Bombardement der Solaren Raumflugeinheiten freigemacht worden.

    Doch zu welchem Preis?

    Hunderte Space-Infanteristen waren auf zum Teil sehr grässliche Weise ums Leben gekommen.

    Vermutlich stellte das Wissen darum den Hauptgrund dar, weshalb der Deutsche jetzt angesichts der zerstörten Feindbasis keine Genugtuung empfand.

    Hinzu kam aber noch etwas anderes. Während des Einsatzes in und rund um die Feindbasis hatte sich Marc Ewert nicht ein einziges Mal mit einem menschlichen Gegner auseinandersetzen müssen, sondern ausschließlich gegen seelenlose Maschinen gekämpft.

    Vollautonome Waffentürme und Panzer, Kampfroboter und Flugdrohnen – auf dem feindlichen Stützpunkt hatte es eine Menge Kriegsgerät mit einer eigenständigen Künstlichen Intelligenz gegeben. Nicht jedoch ein einziges menschliches Wesen.

    Dass hinter dem Draconis-Kartell Menschen standen, hatte der Starman aber im Kommandogebäude gesehen. Denn dessen drei Wohngeschosse hatten neben zahlreichen Quartieren auch eine Krankenstation, Fitnessräume, Bars, Restaurants und andere Dinge besessen, die für Menschen wichtig waren, nicht jedoch für Roboter.

    Trotzdem schien es in der Flugbasis keine einzige lebende Seele gegeben zu haben. Oder die Basisbewohner hatten sich zum Zeitpunkt des Angriffes durch das Space Infantry Corps sämtlich in den beiden tiefen Stollen im Bergmassiv aufgehalten und sich während der Kämpfe einfach nicht blickenlassen.

    Der Deutsche glaubte nicht daran. Er nahm vielmehr an, dass Draconis, das sich offenbar sehr intensiv mit kybernetischer Technologie beschäftigte, auf dem Asteroiden einfach nur eine vollautomatische Basis betrieben hatte. Man konnte es auch als eine Art autonomen Vorposten betrachten. Dass der Großrechner dieses Vorpostens den beiden Schiffen der Solaren Union sofort sehr aggressiv und auf kriegerische Weise begegnete, war wohl kaum aus einem eigenen Antrieb der Künstlichen Intelligenz heraus geschehen. Es musste vielmehr ein menschlicher Wille dahintergestanden haben. Eine Person aus Fleisch und Blut, die innerhalb der Führungshierarchie des Kartells sicher sehr weit oben oder gar ganz oben an der Spitze stand, hatte irgendwann einmal gewisse Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, auf deren Grundlage die gesamte KI-gesteuerte Draconis-Maschinerie die Solare Union als feindlich einstufte und dementsprechend handelte.

    Die Angehörigen des Space Infantry Corps sowie die Piloten und Crews der Raumeinheiten des Kampfgeschwaders hatten nun zwar einen Teil dieser Maschinerie vernichtet, doch es war längst nicht sicher, dass dabei auch die menschlichen Drahtzieher umgekommen waren.

    Marc Ewert wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken. In ihm war im Moment vor allem Leere. Ganz unterschwellig gab es da auch noch Trauer, die sicher noch an Kraft gewinnen würde. Obwohl er erst seit zwei Monaten Angehöriger des Space Infantry Corps war und somit kaum die Zeit besessen hatte, die Mitglieder seiner Marines-Gruppe wirklich richtig kennenzulernen, ging dem Starman der Tod der Leute nahe. Vermutlich lag es daran, dass er das Ende der meisten hautnah miterlebt hatte.

    Der Deutsche blickte sich um und starrte in die Senke hinein, die voll mit jenen Angehörigen des Space Infantry Corps war, die das mörderische Himmelfahrtskommando überlebt hatten. Was für ein armseliger Haufen, dachte er und vermied es dabei, zu den langen Reihen der Toten hinüberzusehen die man an der Seite abgelegt hatte. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Sammelpunkt für die Verwundeten.

    Viele waren es nicht, insgesamt nur zweiunddreißig. Diese sehr niedrige Zahl stellte nichts Ungewöhnliches dar, sondern bei Gefechten im All eher die Regel. Denn Lasertreffer und Splittereinschläge sorgten hier nicht nur für Verletztungen, sondern fast immer auch für Schäden am Raumanzug des Betreffenden. Selbst wenn man sich nur einen leichten Streifschuss einfing, der eigentlich nicht tödlich war, starb man möglicherweise einen sehr elenden Erstickungs- oder Kältetod, weil man das Loch oder den Riss im eigenen Anzug nicht schnell genug abzudichten vermochte.

    Allen Übungen in der Weltraumsimulationskammer zum Trotz gelang dies in vielen Fällen nicht rechtzeitig. Denn oftmals stand man bei einem Treffer unter Schock, was die eigene Reaktionsfähigkeit stark einschränkte. Und ehe die Kameradinnen und Kameraden des Opfers überhaupt bemerkten, was vor sich ging, war es meist schon zu spät.

    Einige Gruppensanitäter unter dem Kommando eines erfahrenen Unteroffiziers mit dem Dienstgrad eines Master Chief Petty Officers kümmerten sich um die Verwundeten. Sie konnten allerdings nicht sehr viel mehr tun, als einen ständigen Kampf darum zu führen, die Verletzten bis zur Evakuierung stabil zu halten. Sie bewegten sich ständig zwischen ihren „Problemfällen" hin und her, kontrollierten deren Vitalwerte und lösten bei Bedarf über die Raumanzüge der Betroffenen neue Injektionen aus.

    Irgendwo zwischen den Verwundeten auf dem felsigen Boden lag auch Starman Second Class Despoina Scala.

    Die Space-Infanteristin gehörte nicht zu Marcs Gruppe, immerhin aber zum zweiten Zug. Der Deutsche wusste kaum etwas von ihr. Sein Wissen erschöpfte sich darin, dass Scala Griechin war und in der dritten Gruppe den Platz einer Sturmschützin eingenommen hatte. Obwohl Marc die Frau insofern eigentlich gar nicht kannte, war sie ihm in den zurückliegenden Stunden des Einsatzes auf gewisse Weise vertraut und insofern wichtig geworden. Was daran lag, dass sie beide gemeinsam im Kommandogebäude gegen die feindlichen Kampfroboter gekämpft und als einzige ihrer Einheit die Draconis-Zentrale erreicht hatten. Beim Zusammenfallen des Bauwerks war die Schützin verschüttet worden.

    Marc Ewert hatte sie ausgegraben und hierher zum Sammelpunkt gebracht. Das verband ihn mit ihr. Sein ganzes Hoffen war nun darauf ausgerichtet, dass die Griechin irgendwie am Leben blieb. Nach all dem Sterben, dem er hatte zusehen müssen, war ihm das jetzt unglaublich wichtig. Die Beinverletzung Despoina Scalas schien ziemlich schwer zu sein. Inwiefern der weibliche Starman möglicherweise auch noch innere Verletzungen davongetragen hatte, wusste der Deutsche nicht zu sagen. Er musste aber immer wieder an das blasse Gesicht der Griechin und ihre flatternden Augenlieder denken, die beides nichts Gutes verhießen.

    Despoina Scala lag inzwischen gleich allen anderen Verwundeten festgeschnallt auf einer Krankentrage.

    Eine Sanitäterin beugte sich gerade über sie und starrte ihre durch die Helmscheibe ins Gesicht. Dann fummelte die Frau an der Anzugsteuerung der Griechin herum.

    Marc wusste nicht so recht, ob er das Ganze als gutes oder eher schlechtes Zeichen werten sollte.

    Die Griechin war immer noch nicht wieder zu sich gekommen. Das mochte zum Teil an den Medikamenten liegen, die man ihr injiziert hatte.

    Woran es vielleicht noch lag, darüber mochte der Deutsche jetzt nicht nachdenken. Er starrte auf die Zeitangabe in seinem Helmvisier.

    Es war nach Independence-Bordzeit 17.45 Uhr. Das Ende des Bombardements der Flugbasis lag damit inzwischen beinahe anderthalb Stunden zurück.

    Wann endlich kam jemand, um sie alle hier abzuholen?

    Marc war zwar kein Sanitäter, doch ein solcher musste er auch gar nicht sein, um zu wissen, dass die Zeit gegen Starman Second Class Scala und all die anderen Verwundeten arbeitete. Es wurde Zeit, dass die Verletzten endlich professionelle ärztliche Hilfe bekamen. Um sich von diesem Gedanken abzulenken, sah er wieder auf die Aufnahmen, die das Beobachtungsgerät auf dem Felsturm von der zerstörten Gegnerbasis lieferte.

    Über Letzterer erschienen gerade eben zwei Tornado-Radaraufklärer, gingen über der weiten Fläche in den Schwebeflug über und sondierten die schwelenden Gebäuderuinen im östlichen Bereich mit ihren Sensoren. Mit hochauflösenden Kameras zeichneten sie die noch sichtbaren Dinge auf dem Flugfeld für spätere Dokumentationen auf. Viel zu entdecken gab es für die Kameraobjektive vermutlich nicht mehr, da die ungeheure Hitze des bis zu viertausend Grad heißen Feuersturms viele Dinge am Boden einfach bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzen, pulverisiert oder verdampft hatte – die Flugmaschinen genauso, wie die Bodenfahrzeuge, die Kampfautomaten und die Verteidigungstürme.

    Von manchen Dingen war gar nichts mehr geblieben. Dies galt nicht zuletzt auch für die gefallenen Space-Infanteristen im Bereich der Basis, die man nun nicht einmal mehr würdig bestatten konnte.

    Im Weltraum über den Resten der Draconis-Basis tat sich jetzt wieder etwas.

    Starlifter- und Starmaster-Fähren, begleitet von einer wachsamen Raumjägereskorte, tauchten auf. Ihr Ansinnen galt weniger dem feindlichen Flugfeld selbst, als vielmehr dem Weltraum über diesem. Sie bildeten das Bergekommando, sollten treibende Wracks sowie Wrackteile orten und diese einsammeln.

    Sicher wurde auch nach ausgestiegenen Piloten und Crewmitgliedern der abgeschossenen Raumeinheiten gesucht, ganz egal, ob sie noch am Leben waren oder nicht.

    Marc wischte die Videoaufnahmen auf der Innenseite seines Helmvisiers beiseite und rief sich stattdessen die Daten seines Raumanzuges und des Raketenrucksacks auf. Er besaß noch Luft und Energie für dreiunddreißig Stunden, also knapp anderthalb Tage.

    Der Dyophen-Treibstoffvorrat im Jetpack betrug noch 2,36 Liter, was etwa fünfunddreißig Prozent entsprach.

    Im Trinkbeutel des Anzuges befand sich momentan noch knapp ein Liter Flüssigkeit. Das Zeug hatte inzwischen schon mehrfach den Regenerationskreislauf durchlaufen und schmeckte daher längst nach einer müden Plärre.

    Kaum angerührt war die Nahrungspaste.

    Marc Ewert hatte während des Kampfeinsatzes in den zurückliegenden anderthalb Tagen kaum etwas zu sich genommen. Selbst jetzt fühlte sich sein Magen noch wie ein harter Stein an und signalisierte keinerlei Hungergefühl. Gut war das sicher nicht.

    Über dem buckeligen Geröllmassiv am südlichen Rand der Senke tauchten drei leichte Starbird-Raumfähren auf. Die fast dreiundsechzig Meter langen Maschinen waren vor allem für den Transport von Personen bestimmt und kamen wohl auch jetzt zu diesem Zweck. Sie glitten in niedriger Höhe heran, bremsten ab und gingen in den Schwebeflug über.

    Colonel Cynthia Mertens, die Kommandeurin des Space-Infantry-Corps-Bataillons, hatte drei Gruppen ihrer Führungs- und Stabskompanie Sōhei befohlen, in der näheren Umgebung des Felskessels nach halbwegs geeigneten Landepunkten für die Maschinen zu suchen, und sie entsprechend zu präparieren.

    Im Ergebnis dessen erwachten nun rings um den Sammelpunkt der Marines auf drei halbwegs ebenen, großflächigen Plateaus grüne Laserleuchtfeuer zum Leben.

    Die Cockpitcrews der Fähren orientierten sich.

    Dann setzten sie ihre drei großen 290-Tonnen-Fluggeräte wieder in Bewegung und ließen sie den markierten Landepunkten zustreben.

    Die Raumfähren schoben ihre Fahrwerke aus den Schächten und senkten sich auf den felsigen Asteroidenboden herab.

    Marc musterte die silbernen Reiher-Symbole an den Rümpfen und den Seitenleitwerkern, die verrieten, dass es sich um Fähren der Heron-Transportstaffel handelte. Der Starman Second Class verspürte Erleichterung. Endlich – endlich kam man, um sie abzuholen. Erst jetzt, in diesem Moment, wagte er daran zu glauben, dass der irrsinnige Einsatz wirklich zu Ende war, und er vielleicht tatsächlich wieder heil auf die Independence kam. Gleichzeitig aber spürte er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Es waren zehn Starbirds nötig gewesen, um die knapp eintausend an der Operation beteiligten Space-Infanteristen inklusive ihres Equipments zum Einsatzort im Zentrum des großen, kugelförmigen Asteroidenfeldes mit der Gravitationsanomalie zu schaffen. Nun hätte theoretisch eine einzige, lächerliche Starbird-Raumfähre ausgereicht, um die Überlebenden wieder nach Hause zu bringen.

    Cynthia Mertens, die als Kommandeurin des Space-Infantry-Corps-Bataillons der Independence das Kommandounternehmen direkt geleitet hatte, meldete sich über den Funkkanal. „Hier spricht Mission-Leader. An alle Marines. Wie Sie sehen können, sind unseres Taxis eingetroffen. Wenn Sie Ihre Blicke auf die Maschinen richten, werden in Ihren Helmvisieren die Rufkennungen angezeigt. Für die Evakuierung gilt folgende Einteilung. Die Verwundeten und Toten werden mit Heron-Bravo-1 den Heimweg antreten. An Bord dieser Maschine steht medizinisches Personal bereit, um sich um die Verletzten zu kümmern. Die Leute von Ninja helfen beim Verladen. Der Rest hält sich bedeckt und wartet ab, bis das erledigt ist. Erst dann werden die anderen beiden Starbirds bestiegen. Die Überlebenden von Ninja und Samurai gehen an Bort von Heron-Bravo-2, Ronin und Sōhei besetzen Heron-Bravo-3. Die komissarisch eingesetzten Einheitsführer sorgen dafür, dass alle vollständig an Bord kommen. Die Verluste sind hoch genug. Wir müssen nicht noch mehr Leute verlieren, indem wir aus Versehen jemanden hier an diesem von Gott verlassenen Ort zurücklassen."

    Die drei Raumfähren öffneten ihre Frachtluken.

    In der Hecköffnung der Maschine mit der Rufkennung Heron-Bravo-1 erschienen Gestalten, bei denen es sich den orangefarbenen Raumanzügen nach um ziviles, medizinisches Personal handelte. Sie schoben Rollbetten auf die herabgesenkte Heckluke.

    Die Space-Infanteristen von Ninja machten sich ans Werk und schafften die Tragen mit den zweiunddreißig Verwunden zur Fähre. Angesichts der niedrigen Schwerkraft des Asteroiden stellte das keine besonders schwere Arbeit für sie dar.

    Marc beobachtete das Treiben und verfolgte dabei besonders aufmerksam, wie auch die Schützin der dritten Gruppe mitsamt ihrer Trage auf ein Rollbett gepackt und dann ins Innere der Fähre hineingeschoben wurde. Er atmete tief durch, denn er wusste Starman Despoina Scala jetzt in guten Händen. Ihre Chancen, am Ende nicht doch noch auf der langen Liste der Gefallenen zu landen, hatten sich für sie soeben vervielfacht.

    Nachdem die Verwundeten verladen waren, kamen die achtzig Marines an die Reihe, die keiner medizinischen Versorgung mehr bedurften, da jede Hilfe für sie zu spät kam.

    Beinahe zwanzig Minuten vergingen. Dann befanden sich auch die Gefallenen an Bord von Heron-Bravo-1.

    Die Raumfähre hatte es plötzlich eilig.

    Für manchen der an Bord genommenen Patienten mochte es jetzt einen Wettlauf gegen die Zeit geben. Vielleicht galt dies sogar für Starman Second Class Despoina Scala.

    Während sich noch die Heckklappe der Starbird schloss, flammten bereits die Positions- und Abstandslichter auf.

    Die rote Beaconleuchte begann zu blinken und warnte vor der Zündung der Raketentriebwerke.

    Kurz darauf schlugen Gasstrahlen aus den vertikalen Schubdüsen unter dem Rumpf sowie den Tragflächen hervor und ließen die Maschine von der Oberfläche des Asteroiden abheben.

    Marc Ewert sah ihr mit brennenden Augen nach.

    4. April 2173

    Auf der Oberfläche des Zentralasteroiden

    2.000 Meter südlich Draconis-Flugbasis / Evakuierungspunkt

    Senior Starman Kumari Patil war gerade einmal zweiunddreißig Jahre alt. Obwohl die Inderin lediglich den Mannschaftsdienstgrad eines Stabsgefreiten bekleidete, hatte sie in den zurückliegenden Stunden eine geradezu rasante Karriere hingelegt. Denn statt ihrer bisherigen Funktion als Stabsbedienstete und zugleich Adjudantin Captain Michelle Ringdahls führte sie nun höchstselbst die Samurai -Kompanie des Space-Infantry-Corps -Bataillons der Independence .

    Allerdings war der abrupte Aufstieg auf der Rangleiter weder freiwillig erfolgt, noch wurde er von Patil wirklich begrüßt. Er stellte einfach nur eine dienstliche Notwendigkeit dar – ganz der Tatsache geschuldet, dass die eigentliche Kompaniechefin gefallen war, und sämtliche Zugführer von Samurai entweder ebenfalls dieses Schicksal teilten oder aufgrund ihrer schweren Verwundungen als etwas unpässlich betrachtet werden mussten.

    Die junge Frau mit dem kaffeebraunen Teint und den tiefdunklen Augen bemühte sich nach Kräften, die ihr kommissarisch zugefallene Aufgabe zu erfüllen. Erleichtert wurde ihr das Ganze durch den Umstand, dass die Kompanie aktuell nicht aus zweihunderteinundvierzig Space-Infanteristen bestand, sondern seit dem Kommandoeinsatz sowie dem Abtransport der acht Verwundeten lediglich noch aus vierunddreißig Leuten – einschließlich Patils selbst. Die Inderin aktivierte jetzt den Funkkanal und befahl mit leicht belegter Stimme: „Alle Überlebenden von Samurai sofort bei mir sammeln."

    Die betreffenden Marines fanden sich bei ihr ein.

    Kumari Patil überblickte das ziemlich jämmerlich anmutende Häuflein und zählte rasch durch. Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie alle ihre Schäfchen beisammenhatte, wies sie auf eine der unweit der Senke stehenden beiden Starbirds. „Wir sind vollständig. Alle mir nach."

    Dem kleinen Zug der zusammengeschmolzenen Samurai-Kompanie schlossen sich gleich darauf die vierundvierzig überlebenden Frauen und Männer der Ninja-Kompanie an. Zusammen bewegten sie sich auf die Hecköffnung der ihnen zugewiesenen Raumfähre mit der Rufkennung Heron-Bravo-2 zu.

    An dieser wurden sie schon erwartet.

    Die Frachtmeisterin der Maschine, eine etwas beleibte Frau mit dem Dienstgrad eines Warrant Officer Class 2 – dies entsprach einem Fähnrich – stand auf der geöffneten Heckluke und starrte wenig begeistert auf die schmutzig und sehr derangiert aussehenden Marines. Sie hob in einer Abwehrhaltung beide Hände, so als wolle sie die Ankömmlinge mit aller Gewalt wieder von sich wegschieben. „Moment mal, Ladies und Gentlemen. Hören Sie mir bitte gut zu. In Ihrem derzeitigen Zustand und Aufzug können wir Sie unmöglich an Bord lassen."

    „Machen Sie hier bloß keine Zicken, Warrant Officer, erklärte einer der Space-Infanteristen mit deutlich ungemütlichem Unterton. „Wir sind allesamt fertig auf den Gräten und haben unsere Anzugwindeln bis zum Rand voll. Und das meine ich im absolut wörtlichen Sinne, verstehen Sie? Also lassen Sie uns gefälligst ohne großes Theater an Bord gehen.

    Die Frachtmeisterin wich angesichts des etwas gewalttätig wirkenden Marine unwillkürlich einen Schritt zurück, straffte sich dann aber. „Tut mir leid. Ich befolge nur die strikten Anweisungen der Geschwaderführerin. Commodore Hajdari hat in Übereinkunft mit Ihrer aller Chefin, Colonel Mertens, befohlen, Sie alle vor dem Anbordgehen einer gründlichen Dekontamination zu unterziehen. Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Die meisten von Ihnen bewegten sich im Zuge des Kampfeinsatzes auf dem Gelände der Draconis-Basis, und niemand weiß, welchen unschönen Dingen Ihre Anzüge dort vielleicht ausgesetzt waren. Wir wollen lediglich sichergehen, dass Sie uns keine giftigen chemischen oder biologischen Substanzen an Bord schleppen, die auf diesem Wege dann vielleicht auch noch auf die Independence gelangen. Das läuft jetzt folgendermaßen ab. In der Frachtschleuse im Heckraum der Starbird steht eine Dekontaminationsdusche. Jeder von Ihnen hat sie zu passieren und sich der Prozedur zu unterziehen. Auf diese Weise werden Sie dann auch gleich die unappetitlichen Dinge los, die Ihnen", der weibliche Warrant Officer betrachtete vielsagend die ihm am nächsten stehenden Marines, in ihren blutverschmierten Raumanzügen „noch anhänglich sind."

    Die Marines gehorchten jetzt ohne Widerrede und traten in einer langen Reihe an.

    Das Anbordgehen und die Dekontaminierung erfolgten ruhig und geordnet.

    Als Marc die Prozedur hinter sich hatte, fühlte er sich leichter und irgendwie auch befreit, so als habe man zusammen mit den ganzen Blut- und Geweberesten auch eine Zange entfernt, die ihn ständig gefangengehalten und zusammengepresst hatte. Als er schließlich mit einer Reihe anderer Space-Infanteristen durch eine der beiden inneren Schleusentüren die große Passagierekabine betreten durfte, überkam ihn zudem ein Gefühl von Geborgenheit. Er lebte, und es ging nun „nach Hause" zur Independence. Es fiel ihm zwar immer noch etwas schwer, diese Tatsache mit allen ihren Konsequenzen zu akzeptieren, doch er gewöhnte sich langsam an den Gedanken. Beinahe wie in Trance tappte er zu einem Sitzplatz an einem der Fenster mit guter Sicht nach draußen, stellte sein Lasersturmgewehr ab und löste die Gurte des Raketentornisters. Als er den fünfundzwanzig Kilo schweren Jetpack sowie den Waffengürtel abnahm, fühlte er sich von einer riesigen Last befreit. Und das nicht nur rein physisch. Auch mental entkrampfte er sich etwas. Er öffnete sein Helmvisier und entriegelte die Kragenmanschette. Dann zog er den Helm ganz ab und atmete tief durch. Dabei spürte er, wie erschöpft er war. So erschöpft, dass er das Gefühl hatte, auf der Stelle einschlafen zu können.

    Immer mehr Marines traten nach dem Dekontaminationsvorgang in die Kabine, suchten sich Plätze und legten ihre Ausrüstung ab.

    Irgendjemand ließ sich neben dem Deutschen nieder, der das jedoch kaum beachtete, sondern stattdessen durch das Fenster nach draußen starrte.

    Vom Heck her waren Geräusche zu vernehmen. Die große Frachtluke schloss sich. Es war ein Zeichen, dass sich nun alle an Bord befanden.

    Die Anschnallzeichen leuchteten auf.

    Der Boden und die Wandverschalung in der Kabine begannen leicht zu vibrieren, als die Crew die Triebwerke startete.

    Dann ging ein kaum wahrnehmbarer Ruck durch die Starbird, als Ströme heißer Verbrennungsgase aus den acht Vertikaldüsen unter dem Rumpf und den Tragflächen hervorbrachen.

    Die Maschine hob sanft von der Felsoberfläche des Asteroiden ab, stieg etwas hoch und drehte dabei schon in Kursrichtung ein.

    Marc blickte aus dem Fenster und sah, wie sich auch die zweite Raumfähre vom Boden löste und bereits beim senkrechten Aufsteigen ihre Fahrwerke einzog. Die Piloten schienen es eilig zu haben, von diesem Ort hier fortzukommen.

    Der Starman Second Class begrüßte diese Hast, denn sie entsprach ganz seinem eigenen Wunsch.

    Die beiden Starbirds formierten sich.

    Gleich darauf erschienen zwei schwere Typhoon-Raumjäger, die sich aufteilten und als Flankensicherung an den Seiten positionierten. Die Vierer-Formation setzte sich daraufhin endgültig in Bewegung.

    Der Deutsche sah noch einmal auf die sich nun rasch entfernende Oberfläche des gewaltigen Asteroiden mit dem Zentralberg zurück. Die zerstörte Draconis-Basis konnte er aufgrund des ungünstigen Flugwinkels der Fähre nicht ausmachen. Ein Problem stellte das nicht dar, denn er brauchte diesen letzten Anblick auch nicht. Die Bilder vom Flugfeld hatten sich auch so tief genug in sein Denken eingebrannt.

    Die Maschinen passierten einen der drei großen Materieströme, die den Hohlraum der Gravitationsanomalie durchzogen. Das Ding sah aus, wie ein gigantischer, gebogener Schlauch, dessen Wände plötzlich transparent geworden waren, sodass man den hindurchfließenden Inhalt betrachten konnte.

    Die vier Raumeinheiten folgten diesem Strom aus unendlich vielen Asteroidenbrocken.

    Der Deutsche starrte eine Weile auf das seltsame Gebilde. Dann lehnte er sich in seinem Sitz zurück und schloss die Augen. Er war sich nun endgültig sicher, dass er nicht träumte. Dies alles hier war wirklich echt, und es ging nun tatsächlich heimwärts.

    4. April 2173

    Starbird-Raumfähre „Heron-Bravo-2"

    15.000 Kilometer bis zum Rand des Asteroidenfeldes

    Marc Ewert spürte die tiefbraunen Augen Lieutenant Yini Changs auf sich gerichtet. Der Blick der Chinesin, die innerhalb des Kite-Alpha -Raumjägerschwarms an Bord von Solarion Union Ship Antares ISV-12 seine Rottenführerin war, wirkte vorwurfsvoll.

    Der Deutsche bemühte sich darum, den Vorwurf in den braunen Augen zu ignorieren. Stattdessen konzentrierte er sich auf das hübsche, schmale Gesicht der zierlichen Asiatin. Es war eine ganze Weile her, dass er dieses Gesicht zuletzt gesehen hatte. Doch in diesem Moment nahm er es mit aller Deutlichkeit und in seiner ganzen Schönheit wahr. Wieso er das überhaupt konnte, wusste er nicht. Denn eigentlich war Yini Chang tot. Der Blick des Starmans richtete sich schließlich auf den kleinen Anhänger mit der filigran gearbeiteten Drachenfigur, der an einer Kette um ihren Hals baumelte.

    Die Chinesin hatte diesen Anhänger das erste Mal kurz nach der Ankunft der Antares am vorläufigen Ziel ihres interstellaren Raumfluges getragen, einer Warteposition in anderthalb Millionen Kilometern Entfernung zu Tarnas B300433-A. Wohl als Reaktion auf einen Albtraum, der sie das erste Mal während des rund anderthalb Jahre währenden Kälteschlafes der Interstellarreise heimgesucht und dann nie wieder in Ruhe gelassen hatte.

    In diesem Traum hatte ein gewaltiger, schwarzer Drache die Antares mit seinem Höllenfeuer verschlungen.

    Als die Cyclone-Pilotin bemerkte, wohin die Augen ihres Rottenkameraen abglitten, krauste sie leicht die Stirn und strich mit ihren Fingern vorsichtig über den Anhänger, der den goldenen Drachen Long symbolisierte. Dann sagte sie leise: „Siehst du, ich hatte Recht."

    „Womit?", fragte Marc zurück, obwohl er ganz genau wusste, was sie meinte.

    „Mit dem schwarzen Drachen. Es war nicht einfach nur ein alberner Traum. Alles ist wahr – alles!"

    Der Deutsche schwieg, denn er wusste einen Moment lang nicht, was er darauf erwidern sollte.

    Natürlich war es nicht wirklich das schwarze Fabeltier selbst gewesen, welches die Antares und die zwölftausend Menschen an Bord mit der Hitze seines feurigen Atems ausgelöscht hatte, sondern eine thermonukleare Bombe. Doch der Effekt hatte sich als derselbe erwiesen. Und der Erbauer der Bombe führte immer noch einen schwarzen Drachenkopf als Flaggensymbol.

    Marc war kein Esoteriker. Er glaubte nicht an Vorsehungen und genauso wenig an ein vorherbestimmtes Schicksal. Dass Yini Changs Albtraum auf bizarre Weise eine Bestätigung gefunden hatte – jedenfalls im übertragenen Sinne – stellte aus seiner Sicht einfach nur einen Zufall dar, der sich durchaus rational erklären ließ.

    So, wie viele Leute ihrer Landsleute, beschäftigte sich die chinesische Kampfpilotin sehr stark mit dem Drachen als Fabelwesen. Da wunderte es nicht, dass er ihr eben manchmal auch im Traum erschien.

    Und dass ein riesiges Industriekonsortium, das sich selbst als Draconis-Kartell bezeichnete, den Drachen als Unternehmensfigur und Wappentier führte, war nun auch nichts Außergewöhnliches.

    „Der schwarze Drache, er hat sich die Antares geholt. Und nun will er auch noch die Independence haben", flüsterte Yini Chang.

    „Tja, wie es aussieht, hat sich dein Drache diesmal aber an seinem eigenen Feuer verbrannt, Yini", sagte Marc endlich. Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. Er zuckte gleich darauf zusammen und erkannte erschauernd, wie plötzlich hinter seiner Schwarmkameradin die in Flammen stehende Draconis-Flugbasis sichtbar wurde.

    Die Jägerpilotin drehte sich ein Stück und blickte auf das Feuerinferno. Sie wirkte dabei völlig ruhig und zugleich nachdenklich.

    Das gleißend helle Ereignis in der Ferne gewann immer mehr an Größe. Und es kam rasch näher. Seine Wand aus haushohen Flammen bewegte sich rasend schnell auf die Asiatin und den Deutschen zu.

    Yini Chang wandte sich wieder Marc zu und blickte diesen aus ihren tiefbraunen Augen an. Es war ein warmer, liebevoller Blick. Er ließ allerdings auch das Wissen darum erkennen, was gleich geschehen würde, und dass es keine Chance gab, dem Bevorstehenden zu entfliehen.

    Der sich heranwälzenden Flammenhölle ging ein sengender Gluthauch voraus, welcher die langen, schwarzen Haare der Chinesin zuerst leicht bewegte und sie dann in Brand setzte.

    „Nein", schrie Marc und wollte Yini Chang packen, um sie mit sich fortzuziehen. Dann jedoch verspürte er einen harten Ruck, als die Feuerwand zuerst die zierliche Asiatin verschluckte und gleich darauf ihn traf.

    Der Ruck war gleich darauf noch einmal spürbar – so heftig, dass der Starman Second Class zusammenzuckte und aus seinem tiefen Erschöpfungsschlaf hochfuhr. Er riss die Augen auf und fragte sich benommen, wo er war. Als er den Kopf drehte, bemerkte er die schmale Hand auf seiner linken Schulter, die ihn wohl soeben noch gerüttelt hatte.

    Diese Hand gehörte einer Frau auf dem Nebensitz, die Marc mit ihren grauen Augen besorgt anstarrte. Als sie bemerkte, dass sie ihn durch ihre Rüttelei tatsächlich aus seinen albtraumbehafteten Erschöpfungsschlaf bekommen hatte, zog sie vorsichtig ihre Hand weg. „Es ist alles gut, Starman. Bist jetzt hier und nicht mehr dort, wo auch immer du da gerade warst. Der Spuk ist vorbei."

    Marc begriff endlich, wo er sich befand. Er saß immer noch auf der Steuerbordseite an einem der Fenster in der Kabine der Starbird-Fähre.

    Dies inzwischen aber nicht mehr allein. Neben seiner direkten Sitznachbarin hatte sich hier auch noch ein Mann mit dem tiefdunklen Teint eines Indonesiers und den Abzeichen eines Sprengstoffspezialisten niedergelassen.

    Marc kannte die beiden nur ganz oberflächlich vom Sehen her. Sie gehörten zur zweiten Gruppe seines Samurai-Bravo-Zuges. Weshalb sie sich ausgerechnet die beiden Plätze neben ihm ausgesucht hatten, wo doch die Passagierkabine nicht einmal zur Hälfte besetzt war, entzog sich seiner Kenntnis. Vielleicht lag es daran, dass er gleich ihnen zum zweiten Zug gehörte. Das verband sie ja doch irgendwie miteinander.

    „War wohl ein ziemlich mieser Traum, hm?", fragte die Frau und klang dabei mitleidig.

    „Ja."

    „Dann war es auch kein Fehler, dich zu wecken."

    „Nein, das war es nicht. Danke." Marc wurde bewusst, dass die Frau ihn duzte, obwohl sie beide sich nicht wirklich kannten.

    Nach dem Kommandoeinsatz spielte das aber wohl keine Rolle mehr, denn sie alle stellten jetzt einfach nur noch Überlebende der Ereignisse dar. Das schuf auf gewisse Weise eine sehr persönliche Verbindung zwischen ihnen.

    „Diese doofen Albträume erwarten mich sicher auch noch, murmelte die Frau mit einiger Besorgnis und auch einer leichten Resignation in der Stimme. „Deshalb will ich jetzt auch nicht die Augen zumachen, obwohl ich todmüde bin.

    Marc hielt das für eine ziemlich nutzlose Taktik, die seine Sitznachbarin ihrem erschöpften Aussehen nach wohl auch nicht sehr lange durchhalten würde. Er sah sich um.

    Tatsächlich schliefen die meisten Space-Infanteristen hier in der Kabine, deren Beleuchtung stark gedimmt war. Wer das nicht tat, träumte entweder vor sich hin oder unterhielt sich leise flüsternd mit seinem Nachbarn.

    Die vier Flugbegleiterinnen liefen hin und wieder leise umher und verteilten Essen an diejenigen, die einen diesbezüglichen Bedarf angemeldet hatten.

    Viele waren das zwar nicht. Doch diejenigem, die es betraf, aßen zumeist mit sichtlichem Appetit. Nicht unbedingt, weil sie wirklich Hunger hatten. So mancher wollte wohl einfach nur spüren, dass er tatsächlich noch lebte.

    Der Deutsche starrte aus dem Fenster und nahm sehr weit draußen einen vorbeiziehenden Materiebrocken wahr. Die Zeitanzeige seines Handgelenkcomputers verriet ihm, dass seit dem Abheben von der Oberfläche des Asteroiden schon mehr als drei Stunden verstrichen waren.

    Die zwei Raumfähren sowie ihre beiden Begleitjäger hatten die Anomalie inzwischen über eine der insgesamt achtzehn nach außen führenden Gravitationsströmungen verlassen. Aufgrund der hohen Dichte des Asteroidenfeldes flogen sie nur mit Hyperschallgeschwindigkeit, was für kosmische Verhältnisse nicht sehr viel mehr als ein Kriechen darstellte.

    Bis zum Rand des großen, kugelförmigen Materiehaufens, der einen Durchmesser von zirka siebzigtausend Kilometern besaß, blieben noch etwa zwei Stunden Flug.

    Die Space-Infanteristin mit dem Unteroffiziersdienstgrad eines Petty Officer Second Class neben dem Deutschen flocht ihre blonden Haare zu einem dicken Zopf und spielte im Anschluss eine Weile gedankenverloren damit. Ihren Abzeichen am Raumanzug nach war sie Richtschützin des Thor-APC-Manschaftstransporters der zweiten Gruppe des Samurai-Bravo-Zuges. Da der Kommandoeinsatz ohne Beteiligung der schweren Planetar-Kampfwagen erfolgt war, hatte sie gleich allen anderen Marines als Fußsoldat kämpfen müssen. Sie warf ihrem Sitznachbarn ihrerseits einen abschätzenden Blick zu und räusperte sich vernehmlich. Dann hielt sie dem Deutschen überraschend die Hand entgegen: „Entschuldigung, hab ich ganz vergessen – ich bin Emma Dickson. Nenn mich Emma."

    Marc stellte sich seinerseits vor. „Ich glaube, wir beide haben wohl schon einmal kurz über Funk miteinander gesprochen – in der Empfangshalle des Kommandogebäudes, kurz nach dem von Ensign Tyrrell befohlenen Angriff."

    Dickson krauste die Stirn. „Ja richtig, ich entsinne mich, erwiderte sie dann. „Du warst der Typ, der von mir wissen wollte, wer jetzt nach dem tragischen Dahinscheiden des Ensigns das Kommando hat.

    „Das stimmt. Marc dachte an die reichlich genervte Antwort, die er auf seine Anfrage hin von dem weiblichen Petty Officer Second Class erhalten hatte. In Anspielung darauf fragte er: „Und? Habt ihr die Kommandogewalt dann tatsächlich noch ausgelost?

    Dickson grinste schief. „Nee, haben wir nicht. War zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wichtig. Wir befanden uns da wohl schon längst an jenem Punkt, ab dem es so schön heißt: Rette sich, wer kann. Tut mir leid, wenn ich in dieser stressigen Phase vielleicht etwas garstig zu dir war, Kamerad. Ich stand da gerade ziemlich unter Druck, wenn du verstehst, was ich meine."

    Marc verstand ganz genau, was sie damit meinte. Wenn man sich permanent der Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sah, gleich einen gewaltsamen Tod zu sterben, spielte ein gepflegter Konversationsstil nicht mehr eine ganz so große Rolle.

    Dickson betrachtete prüfend ihren Gesprächspartner. „Sag mal, du bist doch der Frischling aus der dritten Gruppe. Wie zum Teufel hast du es fertiggebracht, im Gegensatz zum Rest deiner Truppe noch am Leben zu sein?"

    Marc fand die Frage seltsam. Er zuckte schließlich mit den Schultern und murmelte: „Keine Ahnung. Pures Glück, vermute ich mal."

    „Ja, meinte Dickson versonnen. „Ein bisschen Glück braucht man schon. Ich hatte wohl einen ganzen Sack voll davon. Bin schließlich noch rechtzeitig mit einigen anderen aus dem Kommandogebäude rausgekommen, bevor das Ding wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Was ist mit dir? Wie bist du der Mausefalle entronnen?

    „Übers Dach."

    „Übers Dach? Willst du damit sagen, du hast es echt nach oben geschafft?"

    „Ja."

    „Allein?"

    „Nein."

    „Wer war noch dabei?"

    Marc kaute unbehaglich auf seiner Lippe herum. „Starman Scala. Und eine Zeit lang auch noch Chief Petty Officer Belyakova."

    „Aber du bist als einziger rausgekommen?"

    „Nein. Starman Scala hat es auch geschafft. Sie wurde allerdings schwer verletzt."

    „Und deine Gruppenführerin?"

    Marc wandte Dickson das Gesicht zu und starrte sie an. Die Frage berührte eine Sache, die seine Seele schwer belastete. So schwer, dass er ständig darum kämpfen musste, sie nicht immer wieder an die Oberfläche seines Denkens kommen zu lassen. „Nein, die hat es nicht geschafft", antwortete er endlich tonlos.

    „Verdammt."

    „Warst du mit ihr befreundet?"

    „Das jetzt nicht. Ich gehörte allerdings eine Zeit lang ihrer Gruppe an und kenne sie von daher noch als verdammt zähes Luder. Sie machte uns allen immer etwas vor. Auch den Männern. Ich hätte echt nicht gedacht, dass sie bei diesem Einsatz draufgehen würde. Ich hielt sie eigentlich für beinahe unkaputtbar, wenn du verstehst, was ich meine."

    „Ja, ich verstehe dich. Der Starman zögerte, sprach dann aber wie unter Zwang weiter: „Sie… sie wurde schwer am Kopf verletzt und konnte schließlich nicht mehr weiter. Sie befahl uns, allein weiterzugehen, um den Auftrag zu erfüllen. Und das haben wir dann auch getan. Wir marschierten ohne sie weiter. Den letzten Satz brachte er nur noch heiser und mit halb erstickter Stimme heraus.

    Emma Dickson entging das nicht. „Ihr habt sie also zurückgelassen", stellte sie bedächtig fest.

    „Ja", gestand Marc gequält.

    „Hättet ihr sie noch retten können, als der Selbstzerstörungscountdown einsetzte? Wäre euch die nötige Zeit dazu geblieben?"

    „Nein."

    Die Thor-APC-Richtschützin schwieg eine Weile, erklärte aber dann: „Wenn das so ist, dann denk nicht weiter darüber nach. Das macht dich nur kaputt. Davon abgesehen kenne ich niemanden, der mehr für das Space Infantry Corps übrig hatte, als Chief Petty Officer Belyakova. Man könnte sagen, sie war mit ganzer Seele ein Vollblut-Marine. Und ich denke, sie wusste ganz genau, was das bedeutete, und welches Risiko sich damit verband. Ich könnte sogar wetten, dass sie sich wünschte, einmal auf diese Weise zu sterben – im Kampf."

    Das hielt Marc für ein Gerücht. Er sah die Gruppenführerin mit ihrer nur noch aus rohem Fleisch bestehenden Kopfhälfte wieder vor sich. Nein, einen solchen Tod hatte sich die Russin ganz bestimmt nicht gewünscht.

    Emma Dicksons Gedanken waren währenddessen schon ein ganzes Stück weitergewandert. „Was ist mit dem anderen Teil ihres Befehls?"

    Marc begriff nicht. „Was meinst du?"

    „Nun, du sagtest, sie hätte euch befohlen, den Auftrag zu erfüllen. Habt ihr das getan?"

    „Ich weiß es nicht."

    „Was heißt das, du weißt es nicht? Wie weit seid ihr denn gekommen?"

    „Bis in die Kommandozentrale."

    „Dann habt ihr den Selbstzerstörungs-Countdown ausgelöst?"

    „Keine Ahnung."

    „Es hält sich das hartnäckige Gerücht, dass einer der IT-Spezialisten von Ninja beim Versuch, sich über die Steuerkonsole einer Panzerschleuse in das System zu hacken, den Countdown in Gang setzte. Er soll später aber innerhalb des Gebäudes umgekommen sein, sodass ihn niemand mehr fragen kann. Andere wiederum sind der Meinung, dass die Zerstörung der Radarstation das Ganze in Rollen brachte. Ihr seid jetzt Version Nummer drei."

    Marc hob die Schultern. Ihm war es völlig egal, wer sich am Ende für den Zerstörungscountdown verantwortlich zeigte.

    Der Indonese auf dem Sitz neben der Thor-APC-Richtschützin rührte sich jetzt, schien zu erwachen. Er sah sich um. Sein Blick blieb schließlich an dem Deutschen hängen. „Heh, du da, Starman, ich bin Malachi Sambo, Sprengstoffspezialist der zweiten Gruppe." Er streckte Marc die Hand entgegen.

    Der ergriff diese und stellte sich selbst vor.

    „Ja, ja, ich weiß, wer du bist, Frischling." Sambo grinste. „Da das SIC-Bataillon so viele Leute verloren hat, wird es sich wohl neu aufstellen müssen. Ich vermute daher, dass wir alle zukünftig in der gleichen Einheit unterkommen. Davon abgesehen kam ich nicht umhin, eure Diskussion darüber mitzuhören, auf wessen Kappe der Zerstörungscountdown im Kommando geht. Also wenn ihr meine ungebetene Meinung dazu hören wollt – diese Kacke spielt doch absolut keine Rolle für irgendjemanden. Viel wichtiger ist, dass wir Draconis so richtig kräftig in den Arsch getreten haben. Leute, macht euch das bitte klar – wir haben verdammt noch mal gewonnen!"

    4. April 2173

    Starbird-Raumfähre „Heron-Bravo-2"

    7 km Distanz zu Solarian Union Ship „Independence"

    Es war eine Stunde vor Mitternacht, als die beiden Typhoon -Jäger des Geleitschutzes mit den Tragflächen wackelten und dann zur Seite wegdrehten.

    Die zwei Starbirds legten sich gleich darauf ebenfalls in eine weite Kurve, um in den Endanflug auf einen der beiden Backbordlandetunnel der Independence überzugehen.

    Marc konnte durch das Fenster hindurch auf das riesige Interstellarschiff mit seinen unglaublichen Ausmaßen schauen.

    Exakt 5.896,75 Meter maß die Independence vom Bug bis zu ihren sechzehn gewaltigen Kernfusionstriebwerken am Heck. Wenn die beiden gewaltigen Antikollisionsschildantennen im unteren Bereich ihres breitgezogenen Buges wirklich vollständig ausgefahren wurden (was in der Praxis aber nur zu Wartungs- und Reparaturzwecken geschah), kam sie sogar auf mehr als sieben Kilometer Länge. Der kantige und etwas abgewinkelte Rumpf konnte sich mit seinen 558 Metern Höhe locker mit einem Wolkenkratzer messen. Tatsächlich war der 166-Megatonnen-Koloss nicht einfach nur groß – er war gigantisch. Er zählte zu den größten Raumfahrzeugen mit einem Eigenantrieb, welche die Menschheit jemals gebaut hatte.

    Marc starrte aus dem Seitenfenster der Fähre auf das Schiff, das zwölftausend Menschen eine Heimstatt bot und mit seinem etwas plattgedückten Rumpf, den trapezförmigen Flügelsektionen sowie den sechs mächtigen Steuerleitwerken am Heck in seiner Form durchaus an ein Flugzeug erinnerte. Allerdings ließ es die schnittige Eleganz und die fein geschwungenen Linien eines solchen vermissen. Stattdessen wirkte es kantig und klobig. Eine Rolle spielte das nicht, denn für Atmosphärenflüge sowie Landungen und Starts auf Planeten war die Independence aufgrund ihrer Größe und unglaublichen Masse denkbar ungeeignet. Ihr Metier stellte der Weltraum dar, in dem Aeorodynamik keine Bedeutung besaß. Wenn es etwas gab, was das Schiff ausstrahlte, dann waren das Wehrhaftigkeit, Macht und Stärke.

    All diese Dinge gingen dem Deutschen jetzt durch den Kopf, während er die Independence betrachtete, die er zusammen mit beinahe eintausend anderen Marines vor knapp vierzig Stunden verlassen hatte. Der Anblick des Schiffes ließ ihn nicht kalt. Er spürte plötzlich ein Brennen in den Augenwinkeln und fuhr sich, dabei tief durchatmend, übers Gesicht. Dann blickte er verstohlen zu seinen beiden Sitznachbarn hin.

    Emma Dickson rieb sich ebenfalls gerade über die Augen, als hätte sie irgendein Insekt hineinbekommen. Als sie die Hand wegzog, schimmerten ihre Wangen verräterisch.

    Starman First Class Malachi Sambo bot ein ganz anderes Bild. Sein tiefbraunes Gesicht wirkte wie eine geschnitzte hölzerne Maske, die nicht die geringste Regung verriet. Er hatte seine Emotionen und seine Mimik mit kompromissloser Härte vollständig unter Kontrolle und ließ nichts von den Dingen, die ihn vielleicht innerlich bewegten, nach außen dringen.

    In der gesamten Passagierkabine herrschte tiefe Stille. Sämtliche Gespräche waren verstummt. Stattdessen starrten die Space-Infanteristen entweder direkt durch die Kabinenfenster nach draußen oder auf die beiden Videoschirme an der vorderen Stirnseite, die das riesige Mutterraumschiff über verschiedene Außenkameraansichten der Starbird-Fähre zeigten. Gerade die tiefe Stille war es, die verriet, welche Erregung und welche überwältigenden Gefühle die in der Passagierkabine befindlichen Menschen gerade beherrschten.

    „So eine verdammte Scheiße, murmelte Emma Dickson in einer Mischung aus Selbstspott und Verschämtheit. „Was ist nur mit mir los? Wir werden gleich landen, und jetzt seht mich mal an. Was wird sich das Empfangskomitee nur denken, wenn ich als Heulsuse aus der Fähre steige? Sie schniefte leicht und fuhr sich erneut über das Gesicht.

    Ihre beiden männlichen Sitznachbarn erwiderten nichts.

    Der Deutsche wusste schlicht nicht, was er sagen sollte, und der Indonesier verspürte offenbar keine Lust zu irgendeiner Äußerung gegenüber der mental etwas angegriffenen Thor-APC-Richtschützin.

    Die beiden Starbirds passierten das Interstellarschiff in seiner gesamten Länge und drehten dann in einem weiten Bogen ein, um den kilometergroßen Koloss von hinten anzufliegen. Ihr Ziel bildete die obere Kante der Backbordflügelsektion des Schiffes mit den dort befindlichen beiden Landetunneln. Ihre Fluglage wieder stabilisierend, richteten sie sich für den Endanflug auf den Landetisch mit den beiden beleuchteten Landebahnen aus.

    Rechterhand zogen die mehr als dreihundert Meter weit ins All ragenden Hecksteuerflossen des Raumschiffes vorbei.

    Als nur noch eintausend Meter bis zum Aufsetzpunkt blieben, begannen weit voraus am Schleusentor des linken Landetunnels grüne Lichter zu blinken. Dann schoben sich die riesigen Torhälften langsam auseinander.

    Die Starbirds fuhren die Vektorflächen für den Umkehrschub aus und zündeten nun ein letztes Mal die Schubdüsen ihrer vier Marschtriebwerke, um weiter Geschwindigkeit abzubauen.

    Hydraulik arbeitete summend, als die Fahrwerke aus ihren Schächten herausklappten.

    Die Fähren schwebten der hinteren Oberkante der Backbordflügelsektion entgegen und setzte dann sanft auf der Landeplattform auf, die bereits unter dem Einfluss eines künstlichen Schwerkraftfeldes stand. Nach dem Passieren des Schleusentores nahm der einhundertfünfundachtzig Meter lange Landetunnel mit seinen vertrauten Leuchtbändern die beiden Maschinen auf.

    Die zwei Starbirds kamen schräg hintereinander zum Stehen, während sich hinter ihnen die Torhälten schon wieder zusammenschoben.

    Das Winseln der Raketentriebwerke erstarb.

    Gleichzeitig knackte es in der Bordsprechanlage.

    Der Flugkapitän von Heron-Bravo-2 hatte sich während des gesamten Fluges kein einziges Mal an die Space-Infanteristen in der Passagierkabine gewandt. Nun jedoch tat er es – zunächst mit einem Räuspern, dann mit den Worten: „Willkommen daheim, Marines."

    In der Kabine herrschte einen Moment lang tiefe Stille.

    Dann begann jemand zu klatschen und mit den Füßen auf den Boden aufzustampfen.

    Immer mehr Hände und Füße fielen in den Rhythmus ein und erzeugten so ein Wummern, das sich ins Hirn einbrannte.

    Kurz darauf wurde es schlagartig wieder still.

    Die meisten Frauen und Männer im Passagierraum rangen auf die eine oder andere Weise erneut mit ihren Gefühlen.

    Währenddessen pumpten riesige Ventilationsanlagen mehr als eine halbe Million Kubikmeter Luft in den Schleusentunnel, um Druckausgleich herzustellen. Der Vorgang wurde von einem wechselnden Farbenspiel mehrerer Signallichter begleitet.

    Die beiden Hälften des inneren Schleusentores fuhren auseinander. Jetzt, da das Tosen der Triebwerke nicht mehr jegliche anderen Geräusche überlagerte, konnten sogar die Bordinsassen der Starbirds trotz der gut gedämmten Rumpfwandung ihrer Raumfähren das dumpfe Dröhnen vernehmen.

    Plötzlich war der Weg frei. Die beiden 290-Tonnen-Maschinen rollten wieder an und drehten in die Verbindungsröhre hinein, diesmal beinahe lautlos von den Elektromotoren in den Fahrwerken vorangetrieben.

    Dann wichen die stählernen Wände zu beiden Seiten endgültig zurück.

    Die Fähren passierten die großen Liftanlagen und erreichten das weite Rollfeld des Hangardecks.

    Das Bild, das sich dem Deutschen jetzt durch das Seitenfenster bot, besaß etwas Magisches. Denn es war ihm vertraut und gab ihm das unglaublich erleichternde Gefühl, tatsächlich zu Hause angekommen zu sein.

    Die zwei Starbirds rollten nicht über das Netz der Taxiwege zu ihren regulären Stellplätzen, sondern wurden in einen abgetrennten Bereich neben den Liftanlagen dirigiert.

    Dort standen Wartungsfahrzeuge, Roboter, Arbeitsdrohnen und Bodenpersonal in Bereitschaft.

    Emma Dickson tippte ihre beiden Sitznachbarn an den Schultern an und wies wortlos durch das Fenster hinaus.

    Marc musste mit den Augen nicht lange suchen, um zu erkennen, was die Thor-APC-Richtschützin meinte.

    Man hatte Heron-Bravo-1, die Raumfähre mit den Verwundeten und Gefallenen an Bord, ebenfalls in den abgeteilten Bereich beordert. Die Fähre war von Krankentransportfahrzeugen und einem ganzen Schwarm medizinischen Personals umringt und wurde bereits entladen. Das große Aufgebot ließ erkennen, dass man mit weitaus mehr Verwundeten gerechnet hatte, als mit nur zweiunddreißig Personen.

    Währenddessen kamen Heron-Bravo-2 und Heron-Bravo-3 jetzt auf den ihnen zugewiesenen Positionen zum Stillstand.

    Marc Ewert nahm wahr, wie Starman First Class Malachi Sambo zwei Sitze links neben ihm sich zurücklehnte, die Augen schloss und lautlos die Lippen bewegte. Er war offenbar Muslim und dankte jetzt Allah im Stillen dafür, ihn heil zurück auf das Raumschiff geführt zu haben.

    Das Kabinenlicht flackerte einen Moment lang, als die Cockpitcrew vom Bordnetz auf die externe Stromversorgung umschaltete. Mit einem melodischen Ton erloschen die Infotafeln mit den Anschnallzeichen an den Kabinenwänden. Gleichzeitig war das Knirschen der sich herabsenkenden Frachtluke am Heck zu vernehmen.

    Die Space-Infanteristen erhoben sich schwerfällig aus ihren Sitzen und nahmen ihre Waffen sowie die Ausrüstung auf. Statt der Kampfhelme stülpten sie sich jetzt ihre magentafarbenen Baretts über.

    Marc fühlte sich völlig steif. Noch immer schmerzte ihm jeder Knochen in seinem Körper, und das dumpfe Pochen im Kopf wollte einfach nicht weichen. Er legte mit eckigen Bewegungen den Ausrüstungsgürtel an, hing sich den Düsentornister um und schulterte sein Lasergewehr. Dann gliederte er sich in die Reihe der Marines ein, die zwischen den Sitzreihen hindurch nach hinten tappten.

    Draußen wurden die aussteigenden Space-Infanteristen vom hellen Licht der Flutlichtplatten empfangen, die in vierzig Metern Höhe von der Decke herab das gesamte Flugfeld bestrahlten.

    Das Hangardeck war schlicht gewaltig. Es bildete den größten umbauten Innenraum des Schiffes und ließ mit einer Freifläche von achthunderttausend Quadratmetern sogar die gewaltigen Laderäume in der Frachtsektion wie Besenkammern erscheinen. Die Independence besaß insgesamt vier Hangardecks – in jeder Flügelsektion zwei Stück, die übereinander lagen. Drei Stück befanden sich regulär in Betrieb.

    Ihr Platz wurde dringend gebraucht, denn sie mussten zwei Geschwader mit insgesamt mehr als dreihundert Raumflugeinheiten verschiedener Größe beherbergen – von vergleichsweise kleinen und nur zehneinhalb Tonnen schweren Hornet-Raumdrohnen über die mittelgroßen Raumjäger, Radaraufklärer und Raumbomber bis hin zu den ganz großen Transportfähren mit bis zu eintausendsechshundertdreißig Tonnen Gesamtgewicht.

    Hinzu kamen zusammengenommen etwa einhundertzwanzig Bodenfahrzeuge sowie unzählige Arbeitsroboter, Bodenarbeitsdrohnen und Geräteanlagen aller Größen.

    Hier in den beiden Backbordhangardecks arbeiteten in Spitzenzeiten bis zu eintausendfünfhundert Menschen. Jetzt allerdings war von denen nichts auszumachen. Auf dem Hangardeck herrschte kein quirliges Treiben, sondern weitgehend Stille.

    Marc schirmte die Augen mit der Hand ab und bemerkte die weit auseinandergezogene Reihe der Sicherungsposten, welche den Bereich mit den Stellplätzen der soeben eingetroffenen Raumfähren absperrten.

    Es handelte sich um Space-Infanteristen der Corsair-Kompanie. Letztere bildete eine Sondereinheit des Space Infantry Corps und nahm auf der Independence die Funktion der Schiffspolizei wahr. Zugleich war sie als unterstützende Hand für die bordeigene Schiffsgerichtsbarkeit tätig, indem sie zum Beispiel das Bordgefängnis betrieb. Aufgrund seiner besonderen Aufgaben hatte Corsair nicht am Kampfeinsatz gegen die Draconis-Flugbasis teilgenommen und stellte nun die einzige noch vollständige Einheit des SIC-Bataillons an Bord des Interstellarschiffes dar.

    Als die Frauen und Männer bemerkten, dass die Ankömmlinge zu ihnen herübersahen, führten einige von ihnen willkürlich die Hände zur Ehrenbezeigung an ihre magentafarbenen Baretts, ein stummer Willkommensgruß an die zurückgekehrten Kameradinnen und Kameraden.

    Starman First Class Malachi Sambo, der vor Marc die Heckrampe der Fähre herabtrampelte, blieb abrupt stehen und sah sich um. „Leute, das ist seltsam, murmelte er. „Ich meine, ich habe jetzt wirklich nicht erwartet, dass man uns gleich mit einer Musikkapelle und großem Tamtam empfangen würde. Aber ganz ehrlich, das hier ist jetzt echt dürftig. Kein Empfangskomitee, keine Abordnung der Schiffsführung, absolut nichts.

    Tatsächlich verlief ihre Ankunft hier an Bord des Schiffes ziemlich unspektakulär, um nicht zu sagen, in stiller, ja beinahe gedrückter Atmosphäre.

    „Wie auch, es ist kurz nach Mitternacht Bordzeit. Die schlafen alle. Und wahrscheinlich weiß – mit Ausnahme einiger verantwortlicher

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1