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Die Auferstehung von Atlantis
Die Auferstehung von Atlantis
Die Auferstehung von Atlantis
eBook759 Seiten11 Stunden

Die Auferstehung von Atlantis

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Über dieses E-Book

Vor zehntausend Jahren versank die bisher fortschrittlichste Zivilisation der Welt im Meer. Bisher ging die Menschheit davon aus, es hätten normale Menschen dort gelebt. Sie dachten, die Götter hätten die Insel versenkt und dass nichts die Zerstörung überstanden haben konnte. Sie nannten die Insel Atlantis und ersannen Mythen und Legenden um ihren Untergang. Doch die Wahrheit blieb gut unter dem Meer verborgen. Nun hat Atlantis jedoch lange genug geschlafen, und ein Junge Namens Craibian wird bald feststellen, wie wenig die Menschheit eigentlich über die alten Atlantae wusste.
SpracheDeutsch
HerausgeberBurg Verlag
Erscheinungsdatum14. Nov. 2017
ISBN9783944370736
Die Auferstehung von Atlantis
Autor

Daniel Whitmore

Der Stoiker und Hobbyphilosoph Daniel Whitmore wurde im November Ende des letzten Jahrtausends in Deutschland geboren. Als leidenschaftlicher Leser von Fantasy- und Sciencefictionromanen tauchte er in die Welten von Lucas, Tolkien, Heitz, Rowling, Paolini und vielen weiteren ein und erschuf sich nach und nach eine eigene Welt, in der er die Gegensätze zwischen den beiden Genres, die ihn fesselten, zu vereinen suchte. „Der Weg von Atlantis“ ist die Fortsetzung seines ersten Werkes „Die Auferstehung von Atlantis“. Wie schon sein erstes Werk soll „Der Weg von Atlantis“ in erster Linie unterhalten, doch der Leser ist auch zum Nachdenken über Verbindungen zur realen Welt eingeladen.

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    Buchvorschau

    Die Auferstehung von Atlantis - Daniel Whitmore

    Artikel

    Daniel Whitmore

    Die Auferstehung von Atlantis

    Für meine Freunde

    Für meine Familie

    und alle Träumer dieser Welt

    Seht die Welt durch meine Augen

    Prolog

    Der Untergang von Atlantis

    In einer einzigen Nacht die Stadt ist versunken

    und alle ihre Bewohner verschwunden.

    Nur in einem ist sich die Menschheit im Klaren:

    Die Stadt, sie ging unter vor Tausenden Jahren.

    Mit Feuer und Wasser sie haben gestritten.

    Durch Erde und Luft, ihre Feinde gelitten.

    Doch ihr Verderben, das sahen sie nicht.

    Ihr größter Feind trat erst durch sie ins Licht.

    Im Schatten verborgen sie alle nun warten,

    auf dass das Schicksal neu mischt die Karten.

    Bald schon aus der Tiefe sie sich erheben,

    und Atlantis erwacht zu neuem Leben.

    Rana von Atlantis, Vision zum Niedergang ihrer Heimat

    Es war eine dunkle und stürmische Nacht.

    Der weite Ozean war aufgewühlt. Meterhohe Wellen erhoben sich und prallten stetig und mit voller Wucht gegen die Klippen der Insel, die sich aus dem Meer erhob.

    Ein einsamer Wächter stand auf dem höchsten Punkt der Klippen und schaute aufs Meer hinaus. Die Insel, über die er wachte, war ein ehemaliger Vulkan. Er hatte sie bei zahllosen Ausbrüchen vor Tausenden von Jahren aus glühender Lava geformt. Früher war Atlantis nur eine von drei Städten gewesen, in denen die Atlantae lebten. Jetzt war es der letzte Rückzugsort für die gesamte Spezies, wieder einmal. Der Wächter starrte durch sein Fernglas aufs Meer hinaus. Sie kamen! Fünf Kilometer entfernt ruderten Hunderte von Galeeren mit Tausenden von Kriegern auf die Insel zu. Primitiv, aber trotzdem gefährlich. Sein Volk war den Menschen technologisch weit voraus, doch sie waren von den ersten Angriffen völlig überrascht worden. Jahrzehntelang hatten ihre beiden Völker scheinbar in Frieden zusammengelebt und dann begann der Krieg, ohne Vorwarnung. Welcher Idiot greift Wesen an, die er für Götter hält?, dachte sich der Wächter. Und doch: Diese Primitiven hatten Hunderte seines Volkes getötet, bevor sie reagieren konnten. Die beiden anderen atlantischen Städte Vorn und Slakjev waren größtenteils von Menschen bewohnt gewesen und nur wenige Atlantae hatten dort gelebt. Sie waren alle überrascht worden, im Schlaf ermordet, aus dem Hinterhalt angegriffen oder von jenen, denen sie vertrauten, vergiftet. Diejenigen, die diesen ersten Attacken entkamen, waren von der schieren Übermacht überwältigt. Alles in einer einzigen blutigen Nacht. Sie waren gut organisiert gewesen. Im Gegensatz zu Atlantis hatten die beiden Städte auf dem Festland gelegen und waren für die Menschen ein leichtes Angriffsziel gewesen. Jetzt waren die Atlantae nur noch wenig mehr als einhundert. Von den Menschen aber gab es mittlerweile Millionen. Der König wollte kein Risiko mehr eingehen. Jeder tote Atlante brachte das atlantische Volk näher an die Ausrottung. Sie konnten die Galeeren abfangen oder landen lassen und dann, mithilfe ihrer Technologie und ihrer Magie, die Menschen darauf wahrscheinlich besiegen, wie sie es bisher immer getan hatten. Doch jeder noch so kleine Verlust würde schmerzlich auffallen und im Kampf konnte immerhin alles passieren. Der König hatte daher beschlossen, die Angreifer aus sicherer Entfernung zu vernichten. Die Waffe war die neueste Errungenschaft in ihrer Kriegsmaschinerie: magische Vernichtungszauber gebannt in einer Rakete. Bis vor einigen Monaten hätte niemand geglaubt, dass Zauber dieser Größenordnung auf unbestimmte Zeit an leblose Objekte gebunden werden konnten. Im Gegensatz zu normaler Magie musste man sich nicht auf das Ziel konzentrieren, was bei dieser Entfernung fast unmöglich war. Man musste nur beim Einweben des Zaubers einen entsprechenden Auslöser in die Magie mit einbinden. Zum Beispiel einen Stromkreis in der Rakete, der geschlossen wurde. Es hatte ihre besten Wissen-schaftler und Magier jahrzehntelang beschäftigt, aber jetzt war sie geboren, die Magietechnologie. Es hatte viele Kritiker gegeben, die es für Frevel gehalten hatten, die von Gott gegebene Magie so schamlos auszunutzen. Es wäre Gotteslästerung, wenn von einfachen Atlantae geschaffene Maschinen auf Magie zurückgreifen konnten, wo sie doch von ihrem Gott nur ihrem Volk gegeben wurde, hatten sie gesagt. Es war lange diskutiert worden, aber zum Schluss hatte der König den Befehl gegeben, die Forschungen fortzusetzen. Die Gläubigen hatten daraufhin gewarnt, dass Gott dies nicht tolerieren würde, sie würden ihre gerechte Strafe für ihre Taten noch erhalten. Und was ist passiert: Nichts!, dachte sich der Wächter. So viel zu ihrem allmächtigen Gott. Er war noch nie besonders gläubig gewesen und hatte auch nie daran geglaubt, dass irgendetwas passieren würde. Es war an der Zeit, sich von den alten Göttern loszusagen und selbst etwas zu unternehmen, anstatt auf das Wirken einer Gottheit zu warten. Und genau das hatten sie getan. Die fähigsten Magier hatten enorme magische Energien in die Raketen fließen lassen, und sie würde all diese Energie in einem Malstrom der Vernichtung entfesseln, der sogar noch an den fernen Küsten ihres Feindes zu sehen wäre. Das würde ihnen eine Lehre sein. Angesichts solcher Kräfte würde man vielleicht wieder vernünftig mit ihnen reden können. Andererseits haben sie auch schon vorher von unserer Macht gewusst. Er hatte nie vergessen, wie der ägyptische Pharao gestaunt hatte, als er zum ersten Mal gesehen hatte, wie sich eine Mahlzeit aus dem Nichts in einem Replikator bildete. Das muss der Auslöser für den Krieg gewesen sein,dachte er. Er wollte die Macht in seinen Händen. Er erinnerte sich noch genau; wie an alles, was er in den 682 Jahren, die er jetzt schon lebte, gesehen oder gehört hatte. Dieser gierige Glanz in den Augen des Pharaos ... Wie ein solcher Idiot überhaupt zum Herrscher eines ganzen Volkes werden konnte, war ihm schleierhaft. Der Kerl glaubte doch tatsächlich, er und sein Volk könnten das atlantische Reich besiegen. Und das, weil er angeblich ein Gott sein sollte. Er konnte verstehen, wenn die einfachen Bauern glaubten, ihr Herr sei ein Gott, aber dieser Größenwahnsinnige dachte das ja sogar selbst. Hochmut kommt vor dem Fall, und wenn du fällst, werde ich dabei sein, dachte er grimmig. Seitdem war viel Zeit vergangen und es waren jetzt wohl schon einige andere Pharaonen an der Macht gewesen und wieder gestorben, aber er machte zwischen ihnen keinen Unterschied. Mensch ist Mensch. Seine Nachfolger hatten die Kämpfe immerhin fortgeführt.

    Er hatte damals zwei seiner besten Freunde bei dem Aufstand verloren. Er würde sie rächen, und wenn er sich ganz allein gegen die ganze ägyptische Armee stellen musste. Etwa ein Jahr nach dem Massaker war der alte König abgetreten und hatte seinem Sohn die Krone überlassen. Er war noch jung, gemessen an den Maßstäben seines Volkes, aber er hatte seine Sache bis jetzt gut gemacht und ihrem Volk fast wieder zu alter Größe verholfen.

    Die Flotte war noch fünf Kilometer von Atlantis entfernt. Bald würde das Feuerwerk beginnen. Wie gut, dass ich einen so guten Platz zum Zuschauen habe, dachte er. Er hatte nie daran geglaubt, dass sie in diesem Krieg verlieren könnten. Das hatte wahrscheinlich nur der König angenommen. Gerüchten zufolge hatte er enorme Ressourcen in ein geheimes Programm gesteckt, welches den Fortbestand der atlantischen Spezies sichern sollte, selbst wenn die Insel überrannt werden würde. Dabei hätte er die Gelder besser in die Verteidigung investiert. Doch bald würde auch er einsehen müssen, dass all seine Befürchtungen umsonst gewesen waren. Bald werden diese närrischen Sterblichen erfahren, was es heißt, gegen Atlantis Krieg zu führen.

    Da, ohne jede Vorwarnung, ein leises Zischen. Eine kaum sichtbare blaue Spur am Nachthimmel. Die Rakete war gestartet. Da fliegt sie, eine einzige Waffe, gemacht, um Tausende von Leben auszulöschen, dachte er. Sie war nur einige Dutzend Zentimeter lang und in dieser Nacht war das Leuchten ihres Antriebs für menschliche Augen wohl nicht zu sehen. Der Tod würde auf leisen Sohlen kommen und dann mit Gebrüll alle in seiner Nähe aus dieser Welt befördern.

    Jetzt werden sie sehen, welche Macht wir wirklich besitzen, dachte der Wächter. Mögen ihre Götter ihnen gnädig sein.

    Das blaue Leuchten entfernte sich schnell von der Insel und wurde immer schwächer, bis es schließlich in der Nacht verschwand. Er wartete, doch nichts passierte. War die Waffe etwa ein Blindgänger gewesen? Die Sekunden verstrichen quälend langsam.

    Plötzlich explodierte eine Sonne vor seinen Augen. Eine pulsierende Sphäre aus grellem blauem Licht erschien und breitete sich rasch aus.

    Der Wächter verschloss die Augen vor der enormen Helligkeit und lauschte in seine Gedanken. Er konnte spüren, wie Tausende Seelen vor Schmerz und Überraschung aufschrien und dann verstummten. Die Rakete war knapp hinter den Schiffen detoniert und hatte ihre Magie freigesetzt. Unter der Welle der Vernichtung zerbarst ein Schiff nach dem anderen. Menschen wurden in Sekunden vaporisiert. Holz verbrannte rasend schnell zu Asche. Wasser verdampfte. In weniger als zehn Sekunden war von der gesamten ägyptischen Flotte nichts mehr übrig, was an sie erinnert hätte.

    Der Wächter öffnete die Augen. Und war verwirrt. Die Sphäre war noch da und sie dehnte sich immer weiter aus. Sie war noch vier Kilometer von ihm entfernt. Vor sich schob sie eine Wolke aus verdampfendem Wasser her und sie wurde immer schneller. So weit sollte sie sich nicht ausdehnen. „Ich dachte, sie wurde getestet", murmelte er und blickte nervös zur Stadt im Kernland hinüber. Er wollte gerade über sein Komlink Alarm geben, als ihn die Druckwelle der Explosion erreichte. Eine entsetzliche Klangwelle fegte ihn von den Beinen. Teile der Klippe, auf der er gestanden hatte, splitterten ab und fielen ins tosende Meer. Sterne blinken vor seinen Augen, er hatte einen metallenen Geschmack auf seiner Zunge und aus seinen Ohren rann es feucht herunter. Die Wucht der Schockwelle hatte ein paar Blutadern platzen lassen und sein Trommelfell zerfetzt. Wahrlich, Hochmut kommt vor dem Fall, dachte er säuerlich. Er stand mühsam wieder auf und sah, wie das blaue Leuchten auf die Küste zuraste. Seine Augen weiteten sich. Gott, was haben wir getan?, waren die letzten Gedanken des Wächters.

    Die Wand aus Licht traf die Küste und ließ die Klippen zerspringen wie Glas, gegen das ein Hammer krachte. Dem Wächter erging es nicht anders als den ägyptischen Soldaten einige Sekunden zuvor. Die Welle aus reiner Energie raste über die Insel und zermalmte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Hügel wurden eingeebnet, Bäume verbrannten zu Asche, Flüsse und Seen ver-schwanden in gewaltigen Dampfsäulen. Über der Stadt bildete sich eine Kuppel aus Licht. Verzweifelte Versuche der Einwohner einer todgeweihten Stadt. Als die Sphäre die Schutzzauber der Stadt traf, leuchteten sie grell auf und erloschen gleich darauf wieder. Die Welle der Vernichtung wurde nicht einmal langsamer. Unter der gewaltigen Macht der alles vernichtenden Magie barsten die Häuser und Atlantae verwandelten sich an Ort und Stelle zu Asche. Hinter der leuchtenden Wand blieb nichts als glühend heiße Erde, Staub und Asche. Selbst von dem gewaltigen Berg im Zentrum der Insel blieb wenig mehr als ein großer Hügel. Der Boden bebte und Risse taten sich auf. Teile der Insel sackten mehrere Meter ab. Die porösen Schichten unter der Insel gaben knirschend unter dem enormen Druck nach. Stück für Stück versank die Insel langsam im gierigen Schlund des tosenden Meeres. Wo sich einst eine blühende Zivilisation erhoben hatte, blieb nur Staub und die Asche, die der Wind davontrug und weit über das Meer verteilte. Die magische Kuppel der Zerstörung dehnte sich noch um einiges weiter aus, bevor sie langsam erlosch. Die Magie war aufgebraucht und der Zauber beendet.

    Weit entfernt, an den Küsten des Festlandes, sahen Spähposten der Menschen den Lichtblitz und hörten das gewaltige Grollen der Detonation. Haushohe Wellen trafen die Küste und begruben Dutzende von Fischerdörfern unter sich. Panisch und voller Angst flohen die Überlebenden ins Landesinnere. Es wurden Geschichten von dem Gesehenen erzählt und einiges hinzugedichtet. Bald schon würde es Legenden geben, wonach die Götter selbst, neidisch auf die Macht von Atlantis, die Insel voller Zorn in nur einer Nacht unter den Elementen begruben.

    Niemand wusste, was tatsächlich geschehen war, und keiner ahnte, dass nicht ganz Atlantis zerstört worden war.

    10.000 Jahre später erwachte etwas tief unter dem Meer zum Leben und begann sich zu regen.

    Kapitel 1

    Wirre Träume

    „Am Anfang steht der Traum, aus ihm erwächst die Idee und von Ideen kommen die Erkenntnisse, welche zu Fortschritt und Wissen führen. Man könnte sagen, Träume haben uns zu dem fort-schrittlichen Volk gemacht, das wir heute sind. Und nicht zuletzt beflügeln Träume auch die Fantasie, die unter anderem in unserer Magie eine zentrale Rolle spielt. Es wäre also falsch, zu behaupten, dass Träumereien nur zur Ablenkung von dem Leben gut seien."

    Talos von Atlantis, Philosoph

    „Hey, Craibian, träumst du schon wieder?" Craibian schreckte hoch. Ja, er war schon wieder in Gedanken ganz weit weg von diesem Klassenzimmer gewesen. Wie so oft. Er starrte auf sein Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag. War dem Lehrer wieder einmal sein glasiger Blick aufgefallen oder war das nur ein Schuss ins Blaue gewesen? Scheiß drauf, ich riskiers, dachte er. „Nein, ich hab’ nur mitgelesen!", log er.

    „Wir sind aber schon längst mit dieser Seite fertig", gab sein Englischlehrer zurück. Mist, dachte Craibian. So viel dazu. „Da du anscheinend Probleme damit hast, aufzupassen, kannst du ja weiterlesen, meinte der Lehrer. Alle seine Mitschüler starrten ihn an. Craibian lief rot an und ihm wurde heiß. Er hasste es, in irgendeiner Weise im Mittelpunkt zu stehen. Am liebsten wäre er gerade im Erdboden versunken, nur um die Blicke seiner Mitschüler nicht mehr spüren zu müssen. Aber es half nichts. Er blätterte um. „Wir sind bei Zeile 15, teilte ihm sein Lehrer mit. „Fang an!" Er blickte auf sein Englischbuch, holte tief Luft und begann, stotternd zu lesen.

    Die Glocke läutete. Endlich, dachte Craibian. Er hatte sich einige Male versprochen und war ein paarmal in der Zeile verrutscht, was zu allgemeinem Gelächter geführt hatte. Es war der Horror gewesen. Zum Glück war nun die letzte Stunde vorbei. Die meisten waren aufgesprungen, sobald der Schulgong geläutet hatte, und stürmten aus dem Klassenzimmer. Sein bester Freund Nigel wartete an der Tür auf ihn.

    „Das war jetzt schon das dritte Mal heute, stellte dieser verschmitzt fest, als Craibian mit ihm zusammen das Klassenzimmer verlassen hatte. „Du lebst schon in meiner Welt, oder?

    „Meistens schon, erwiderte Craibian und grinste verlegen. Er war nun mal ein Träumer und seine Gedanken schweiften fast ständig ab, wenn ihn das Thema nicht gerade fesselte. „Immerhin geht so der Unterricht schneller vorbei.

    „Aber nicht, wenn den Lehrern ständig dein leerer Blick auffällt."

    Craibian zuckte mit den Schultern. „Na ja, nur noch zwei Tage, dann ist das Schuljahr endlich vorbei."

    „Ja, lachte Nigel. „Dann kannst du so lange vor dich hinträumen, wie du willst.

    „Was anderes wird mir auch nicht übrig bleiben, wenn ihr alle verschwindet", seufzte Craibian. Nigel würde diesen Sommer nach Irland fliegen, sein anderer Freund Talon in die Alpen und Ranora würde mit ihrer Familie nach Italien fahren.

    „Du könntest ja auch ein bisschen fernsehen", meinte Nigel.

    „Da kommt doch eh nur Mist", gab Craibian zurück.

    „Oder am Computer zocken."

    „Meine Mutter bringt mich um, wenn ich die ganzen Ferien am Computer verbringe!"

    „Oder lernen."

    Craibian sah ihn verständnislos an. „Meinst du das ernst?"

    „Na ja, wenn du die ganzen Ferien lernen würdest, würde das wenigstens deine Noten erklären."

    Craibian musste lachen. Er wusste nicht, wie er es anstellte, aber obwohl seine Gedanken im Unterricht häufig abschweiften und er zu Hause auch nur wenig für die Schule lernte, hatte er doch immer gute Noten. In Physik und Chemie, wo ihn der Schulstoff so sehr fesselte, dass er keine Probleme hatte, im Unterricht aufzupassen, war er sogar einer der Besten.

    „Also dann, wir sehen uns morgen!, verabschiedete sich Nigel, als sie die Wegkreuzung vor der Schule erreicht hatten. „Mann, noch zwei ganze Tage …

    „Immer positiv denken, Nigel. Nur noch zwei Tage." Er betonte dabei das nur. „Bis morgen", verabschiedete er sich und bog nach rechts ab, während Nigel den linken Weg einschlug.

    Craibian ging nun seinen täglichen Weg von der Schule nach Hause. Sein Zuhause lag am anderen Ende der kleinen Stadt, in der er mit seiner Familie lebte. Es war nicht allzu weit, aber er war doch immer gut eine halbe Stunde unterwegs. Die Stadt war nicht besonders groß. Sie hatte zwar einen Bahnhof und ein Freibad, aber damit war eigentlich schon alles Wichtige über sie gesagt. Früher hatte es mal ein kleines Kino gegeben, doch das hatte schon vor Jahren dicht-gemacht. Damals war Craibian häufig mit seinem großen Bruder ins Kino gegangen, doch diese Zeit lag nun lange zurück. Das Interesse seines Bruders hatte sich seitdem stark verschoben und er jammerte häufig, dass bei ihnen nie etwas los war und er immer in die nächste große Stadt fahren musste, wenn er was erleben wollte. Craibian dagegen störte sich nicht sonderlich daran. Er mochte die Ruhe, die hier herrschte, und hatte auch keinerlei Drang dazu, in die Clubs und Diskotheken der größeren Stadt zu gehen. Sein Bruder hatte ihn einmal mitgeschleift, als er feiern gegangen war, und das hatte Craibian gereicht. Er blieb lieber zu Hause, las Bücher, spielte am Computer oder unternahm etwas mit seinen Freunden, die ähnliche Interessen hatten wie er.

    Craibian war ein mittelgroßer, blonder Junge. Er trug eine Brille und war immer in Jeans unterwegs. Für seine 16 Jahre war er ziemlich schmächtig und seit einigen Monaten hatten sich ein paar Pickel auf seinem Gesicht breitgemacht. Sein Aussehen und seine Interessen sorgten dafür, dass er in der Schule nicht sehr beliebt war. Er hatte nur eine Handvoll Freunde, aber dafür war er sicher, dass sie mit ihm durch dick und dünn gehen würden. Auf Nigel, Talon und Ranora hatte er sich immer verlassen können. Die wenigen anderen, mit denen er sich kurzzeitig angefreundet hatte, waren meist nicht lange seine Freunde geblieben. Andere aus seiner Klasse hatten teilweise eine ganze Gang aus Freunden um sich geschart, doch Craibian bezweifelte bei den meisten ernsthaft, dass es sich dabei wirklich um Freundschaft handelte. Er war in jedem Fall voll und ganz zufrieden mit dem, was er hatte.

    Craibian lächelte zufrieden und atmete die frische warme Sommerluft ein. Der Sommer war wirklich seine liebste Jahreszeit. – Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz seinen rechten Arm. Craibian schrie auf und zuckte zurück. Fast wäre er gestolpert. Der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Er blieb stehen und sah sich seinen Arm an. Ein einzelner Blutstropfen quoll etwas unterhalb seines Handgelenkes hervor. Hat mich was gestochen, oder bin ich irgendwo hängen geblieben? Craibian sah sich um, doch er sah nichts, was für den Stich hätte verantwortlich sein können. Wahrscheinlich nur eine Stechmücke, dachte Craibian und sog an der Wunde, damit das Blut verschwand. Er spürte zwar keinen Juckreiz, aber dafür pochte sein Handgelenk jetzt im Takt seines Herzens. Mit einem Schulterzucken setzte Craibian seinen Weg fort und bald hörte auch das Pochen wieder auf. Hätte er sich die Wunde genauer angesehen, nachdem der Blutstropfen verschwunden war, hätte er noch etwas metallisch Glänzendes gesehen, doch nach ein paar Sekunden schloss sich das kleine Loch in seiner Haut wie von Geisterhand, ohne dass Craibian es bemerkt hätte.

    Craibian ging unterdessen seinen gewohnten Weg weiter und nahm kaum etwas von seiner Umgebung wahr. Stattdessen war er schon wieder in Gedanken versunken und träumte vor sich hin. Er schaute erst wieder auf, als er vor seinem Zuhause stand. Es war ein kleines Einfamilienhaus mit Balkon, Terrasse und einem kleinen Garten. Sein Zimmer war der Dachboden. Da war es zwar etwas eng, aber Craibian fand das behaglich. Er erreichte die Haustür, sperrte sie auf und trat ein. Er pfiff laut in das Haus hinein und wartete. Keine Antwort. Er war also allein. Bestens, damit hatte er das ganze Haus für sich und niemand würde ihn stören.

    In seinem Zimmer angekommen, warf er sich erst mal ins Bett. Sein Zimmer kündete bereits von Craibians Hobbys. Überall standen Regale mit Büchern, und dort, wo noch Platz gewesen wäre, standen sein Bett, der Kleiderschrank und sein Schreibtisch. Craibian streckte sich und überlegte, was er jetzt machen sollte. Hunger hatte er noch keinen. Er würde später etwas essen, wenn seine Mutter nach Hause kam. Erst einmal wollte er das Buch zu Ende lesen, das er vor einer Woche begonnen hatte. Eigentlich hätte er noch die Wohnung saugen müssen, aber das konnte er ja morgen machen oder übermorgen. Er sah seinen Arm an. Von seiner Verletzung war nichts mehr zu sehen. Na bitte, war doch nichts Schlimmes, dachte er, griff nach dem Buch auf seinem Nachttisch und schlug es auf. Dann setzte er sich aufrecht auf sein Bett, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und begann zu lesen, während seine Fantasie faszinierende Landschaften und gewaltige Schlachten fast real erschienen ließ.

    „Craibian, komm runter, es gibt Abendessen!" Das war seine Mutter. Craibian schreckte hoch. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie nach Hause gekommen war. Er blickte auf den Wecker, der auf seinem Nachttisch stand. Es war schon Abend. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Und auch sein bohrender Hunger fiel ihm erst jetzt auf. Widerwillig legte er das Buch beiseite. Er konnte ja nach dem Essen weiterlesen. Craibian ging die Treppen runter und machte sich auf den Weg ins Esszimmer, wo seine Eltern schon mit dem Abendessen begonnen hatten.

    „Ich habe deinen Englischlehrer heute getroffen und mit ihm gesprochen", fing seine Mutter zwischen zwei Bissen an. Craibian ahnte, was gleich folgen würde, und es gefiel ihm gar nicht.

    „Oh Mama, kannst du mich nicht einfach damit in Ruhe lassen?"

    „Er macht sich Sorgen, weil du ständig geistig abwesend bist!"

    „Solange die Noten passen, ist das doch egal!" Dieses Argument hatte er schon ein paarmal gebracht, aber sie schien es immer zu ignorieren.

    „Wenn du mal lernen oder besser aufpassen würdest, wärst du bestimmt ein Einser-Schüler!"

    „In Physik und Chemie passe ich doch auf."

    „Aber in den anderen Fächern nicht."

    „Ja, weil sie mich nicht interessieren." Diese Diskussion schienen er und seine Mutter ständig zu führen.

    „Lass ihn doch, seine Noten sind nicht die schlechtesten", sprang sein Vater ihm bei.

    „Danke, Papa, wenigstens du verstehst mich."

    „Und was ist, wenn du dich irgendwann mal wo bewerben willst? Dann brauchst du vielleicht bessere Noten."

    „Wenn ich studiert habe, schaut doch niemand mehr auf mein Abschlusszeugnis!"

    „Und was, wenn du für das Studium bessere Noten brauchst? Wie willst du dann jemals Karriere machen?"

    „Karriere heißt einen Job in der Chefetage, und das ist mir etwas zu viel Verantwortung, ich hab’ es lieber ruhiger", murrte Craibian.

    „Und wie willst du dann später mal Frau und Kindern wenigstens etwas Luxus gönnen? Vielleicht mal mit ihnen verreisen oder so?"

    Craibian sah seine Mutter entsetzt an. „Mama! Ich bin gerade mal 16 und du redest jetzt schon von Frau und Kindern!"

    „So, die Diskussion ist hiermit beendet. Jilka, lass den Jungen doch mal damit in Ruhe", unterbrach sein Vater den Streit. Seine Mutter gab nach und hörte auf, ihn weiter zu bedrängen. Schweigend aßen sie zu Ende. Als Craibian in seinem Zimmer war, legte er sich aufs Bett und nahm sich das Buch wieder vom Nachttisch. Über meine Karriere mache ich mir Sorgen, wenn es so weit ist, früher nicht, dachte er trotzig. Er war wohl einer der wenigen Jugendlichen, die es nicht sonderlich eilig hatten, als erwachsen zu gelten. Craibian schlug den Fantasy-Roman auf, den er noch nicht zu Ende gelesen hatte, und begann, dort weiterzulesen, wo er vorhin unterbrochen worden war: mitten in einem spannenden Kampf. Doch bereits nach einer Stunde legte er das Buch beiseite, machte das Licht aus, schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Geschichte weitergegangen wäre, wenn er darin vorgekommen wäre. Stark und mächtig. Gerecht und doch erbarmungslos. Und die Nacht nahm ihren Lauf.

    Er, der General und Held aus vielen Schlachten, saß auf einem Hügel, nicht weit von der Stadt. Neben ihm saß seine Verlobte. Die Nacht war warm und die Sterne funkelten hell und freundlich auf sie herab. Seine Angebetete roch wundervoll an diesem Abend. Er beugte sich zu ihr und küsste sie leidenschaftlich. Sie lächelte ihn an und er strich ihr über ihren runden Bauch. In ein paar Tagen würden sie heiraten. Er konnte sein Glück kaum fassen. Und er würde bald Vater werden. Es hatte schon so früh geklappt. Kinder waren selten, galten als unglaublich wertvoll und als stärkster Liebesschwur. Der Krieg, der da draußen tobte, war egal. Was kümmerten ihn Kampf und Tod, wo doch im Hier und Jetzt alles in Ordnung war. Er würde erst in zwei Monaten wieder in den Militärdienst eintreten müssen und bis dahin hatte er noch viele Nächte wie diese vor sich. Bis die Kämpfe wieder real werden würden, würde er mit der Liebe seines Lebens verheiratet sein, und wenn er sterben würde, wäre wenigstens sein Erbe jetzt gesichert. Er sah in den Nachthimmel und legte einen Arm um seine Liebste. Plötzlich verschwanden die Sterne. Ihr Leuchten verblasste neben dem hellen Licht, das ohne Vorwarnung weit im Osten erschienen war. Er stand auf. War eine militärische Operation geplant gewesen? Griff der Feind wieder an? Davon wusste er nichts. Aber woher auch, er war seit zwei Monaten im Urlaub. Am Horizont entstand eine blau leuchtende Sphäre, die rasch größer wurde. Ja, das sah nach Magie aus. Wahrscheinlich hatten die Menschen einen neuen Versuch gestartet, die Insel einzunehmen. Was ihn wunderte, war die Größe der Sphäre. Kein Magier hätte so viel Kraft aufbringen können. Und sie wurde immer noch größer und größer. Ein elektrisches Kribbeln durchlief seinen Körper. Er wusste, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte. Er hatte es nur allzu oft verspürt. Gefahr! „Lauf, flüsterte er und sah zu seiner Verlobten. Er gab ihr einen schnellen Kuss. „Lauf, rief er jetzt lauter. „In die Bunker, los! Eiskalte Angst packte ihn. Sie warf ihm einen furchtsamen Blick zu, sah dann auf ihren Bauch und rannte los. Gut, er hatte schon gedacht, sie würde nicht von seiner Seite weichen wollen. Zum Glück dachte sie auch an ihr Kind, dessen Sicherheit für beide an höchster Stelle stand. Er sah wieder in Richtung Osten. Die blau leuchtende Wand kam immer näher. Er nahm sein Komlink in die Hand, das er immer griffbereit hatte. „Beginne Schnellstart der Schutzschildgeneratoren. Zum Glück wurden seine Kommandocodes während des Urlaubs nicht aufgehoben. Der Computer erkannte seine Stimme, identifi-zierte ihn und aktivierte in Sekundenschnelle die Generatoren. Sie würden allerdings noch ein paar Sekunden benötigen, bis der Schutzschild selbst aufgebaut werden würde. Er blickte wieder gegen Osten. Die magische Wand bedeckte mittlerweile den ganzen Himmel. Wir brauchen mehr Zeit. Er dachte fieberhaft nach. Magie, vielleicht half sie. Er konzentrierte sich und nahm geistigen Kontakt mit den Magiern in seiner Nähe auf. Ein paar schnelle Gedanken und sie waren informiert. Dann sammelte er seine magischen Energien und begann, Schutzzauber zu weben. Die magische Kraft floss aus ihm heraus. Überall in der ganzen Stadt begannen andere, ähnliche Zauber zu wirken. Er sah auf. Die magische Welle raste auf sie zu und prallte gegen den magischen Schild. Sie fegte ihn hinweg wie der Wind trockenes Laub im Herbst. Er sah die Wand aus blauem Licht auf sich zurasen. Er schloss die Augen, dachte an seine Verlobte und sein ungeborenes Kind. Ein grelles Licht und ein heißer Schmerz, dann Dunkelheit.

    Craibian schreckte hoch. Er war schweißgebadet und zitterte am ganzen Leib. Ganz ruhig. Es war nur ein Traum, nur ein Traum, nur ein Traum. Es hatte sich so real angefühlt. Er war eine andere Person gewesen. Er hatte ihre Gedanken nicht nur gehört, sondern sie auch gedacht. Und trotzdem war er nur ein Zuschauer gewesen. Der Schmerz und die Leere danach … Alles war so echt gewesen. Er berührte seine Lippen. Er hatte noch nie einen Kuss auf seinen Lippen gefühlt. Wie konnte er von so etwas träumen? Oder hatte sich sein Gehirn einfach ausgedacht, wie sich so etwas anfühlte? Er hatte auch noch nie solchen Schmerz verspürt wie am Ende des Traums. „Atlantis", murmelte er. Er wusste nicht, woher, aber er wusste, dass das der Name der Stadt gewesen war. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor, doch im Moment konnte er ihn nicht zuordnen. Was wohl aus der Frau und dem Kind geworden ist?, dachte er. Dann schüttelte er den Kopf. Es war nur ein Albtraum gewesen, nichts weiter. Etwas, was sein Verstand sich ausgedacht hatte. Es gab niemals eine Frau wie diese und es war auch niemals eine ganze Insel mit ihren Einwohnern vernichtet worden. Nicht auf diese Art und Weise. Und Magie gab es nur in Fantasy-Romanen. Craibian drehte sich um und schlief bald wieder ein. Diesmal träumte er nicht, aber sein Schlaf war trotzdem unruhig.

    Den Wecker am nächsten Morgen hörte Craibian nicht und er schlief weiter, bis seine Mutter ihn unsanft aus dem Schlaf rüttelte.

    „Hey, es ist schon sieben. Aufstehen!"

    „Ich bin doch schon wach", murmelte er und drehte sich um.

    „Meine Güte, was hast du denn mit deinem Arm gemacht?", ertönte die entgeisterte Stimme seiner Mutter. Craibian öffnete blinzelnd die Augen und blickte auf seinen rechten Arm, der gerade unter der Bettdecke zum Vorschein gekommen war. Er war bedeckt von roten und blauen Flecken und außerdem stark angeschwollen. Noch immer schlaftrunken, fiel ihm der gestrige Vorfall ein.

    „Ach, das ist nichts, ich wurde gestern von irgendwas gestochen." Er stand auf, machte zwei Schritte und dann wurde ihm schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, war es ihm, als wären Stunden vergangen, aber es waren wohl nur Sekunden gewesen. Er lag auf dem Fußboden seines Zimmers und seine Mutter schüttelte ihn.

    „Craibian, alles in Ordnung?"

    „Ich fühl’ mich schummrig", nuschelte er und hielt sich den Kopf, der nun zu pochen anfing.

    „Zieh dich an, wir fahren zu einem Arzt, beschloss seine Mutter kurzerhand. „Wer weiß, was du dir da geholt hast.

    „Nein, mir geht’s gut. Wirklich!" Er versuchte, aufzustehen, um seine Worte zu beweisen. Es gelang ihm zwar, aber sein Stand war extrem wackelig und immer wieder erschienen schwarze Flecken in seinem Blickfeld. Seine Mutter sah ihn mit zweifelndem Blick an.

    „Keine Widerrede, dir geht es miserabel, das sehe ich doch. Zieh dich um, sonst mach’ ich das für dich, und dann fahren wir!"

    Zehn Minuten später saß er im Auto. Er war totenbleich, zitterte am ganzen Körper und schwitzte fürchterlich.

    „Ehrlich, Mama, mir geht es gut", versuchte er es noch einmal.

    „Das würdest du mir auch noch erzählen, wenn dir eine Axt im Kopf steckt, oder?"

    „Das kommt darauf an, ob ich dann noch sprechen kann", murmelte er, machte aber sofort den Mund wieder zu, als sein Magen sich umzustülpen drohte. Er schloss die Augen und sah leuchtende Punkte, die pulsierten, größer und kleiner wurden und ständig die Farbe wechselten. Blau, lila, rot, orange, gelb, grün. Der Brechreiz verstärkte sich. Rasch öffnete er die Augen wieder. Die Welt um ihn sah er trotz Brille nur verschwommen.

    Nach ein paar Minuten hielt seine Mutter vor der Praxis des Arztes, bei dem Craibian schon ein paarmal gewesen war. Als sie zusammen in die Praxis eintraten, sah Craibian zu seiner Erleichterung, dass es zumindest nicht lange dauern würde. Das Wartezimmer war leer.

    „Setz dich ins Wartezimmer, wies ihn seine Mutter an. „Ich kläre alles andere.

    „Okay", murmelte Craibian und ließ sich auf einem leeren Stuhl nieder, während seine Mutter zum Empfang ging. Craibian schloss die Augen und versuchte, mit seinen Gedanken seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er stellte sich vor, wie sich heilende Wellen von seinem Innersten ausbreiteten und seinen Körper wiederherstellten. Nur eine Minute später kam seine Mutter zurück.

    „Wir haben Glück, wir kommen gleich dran", meinte sie. Craibian nickte und stand auf. Er fühlte sich jetzt tatsächlich wieder etwas besser. Vor dem Wartezimmer wartete schon eine Arzthelferin auf sie.

    „Folgen Sie mir bitte", bat sie sie und verschwand in einem Gang, der zu den einzelnen Behandlungszimmern führte. Craibian folgte ihr zusammen mit seiner Mutter, die immer wieder besorgte Blicke auf ihn warf.

    „So, setz dich bitte auf die Liege. Wir messen jetzt erst mal deinen Blutdruck, bat die Frau ihn und Craibian tat, was sie sagte. Er hoffte, dass so der ganze Spuk schnell wieder vorbei wäre. Kaum, dass er saß, legte sie ihm eine Manschette um den Arm und begann, seinen Blutdruck zu messen. „Hm, der Blutdruck ist etwas höher als normal und der Herzschlag ist deutlich über 140.

    „Ist das jetzt gut oder schlecht?", fragte Craibian.

    „Es ist zumindest nicht normal."

    „Was ist mit der Schwellung an seinem Arm?", warf seine Mutter ein. Die Arzthelferin sah sich den anderen Arm an und strich über das angeschwollene Gewebe.

    „Das sieht nach einer heftigen allergischen Reaktion auf etwas aus."

    „Da hat mich was gestochen, glaube ich."

    „Vielleicht eine Infektion. Es kursieren in letzter Zeit einige ansteckende Krankheiten. Wir sollten besser eine Blutprobe nehmen." Craibian erschauerte. Vor Spritzen hatte er panische Angst. Es war schon schlimm genug, wenn er zum Impfen herkommen musste. Die kalte Nadel, die langsam in seinen Arm eindringt, die seine Haut durchsticht und irgendetwas direkt in sein Blut spritzt. Lieber würde er sich mit einem Messer den Arm aufschlitzen lassen, aber die Arzthelferin würde das höchstwahrscheinlich nicht machen.

    „Muss das denn sein?"

    „Wenn wir herausfinden wollen, ob du krank bist, schon. Ich komme gleich wieder, bitte leg dich derweil hin." Craibian seufzte. Einen Versuch war es wert, dachte er sich.

    Als sie wiederkam, hatte sie ein Tablett mit drei kleinen Ampullen, einem kleinen Plastikschlauch und einer Nadel dabei. Ihm war vorher schon schlecht und schwindlig gewesen, aber als er die Nadel sah, verzehnfachten sich diese Gefühle nur noch. Die Arzthelferin steckte die Nadel an den Schlauch und den Schlauch an die erste Ampulle. Langsam stach sie die Nadel in seine linke Armbeuge, legte ein Wattetuch darauf und befestigte das Ganze mit Klebestreifen. Dann begann sie, die erste Ampulle zu füllen. Craibian sah zu, wie sein Blut langsam seinen Körper verließ, den Plastikschlauch entlangfloss und die Ampulle füllte. Ganz ruhig, dachte er. Du hast sechs Liter Blut, da wirst du ein paar Milliliter nicht vermissen. Der Brechreiz verstärkte sich. Am liebsten hätte er die Nadel einfach aus seinem Körper gerissen und wäre aus der Praxis gerannt, doch er widerstand dem Drang. Als die Ampulle gefüllt war, zog die Arzthelferin sie aus dem Schlauch und Craibian versank in einem schwarzen Wirbel, der jeden Gedanken und jedes Gefühl in ihm erstickte. Tage, Wochen, Monate und Jahre verstrichen in dieser Schwärze. Er konnte keinen Gedanken fassen, war sich aber seiner Existenz bewusst. Er fühlte weder Schmerz noch Angst oder sonst irgendetwas. Alles, was er wahrnahm, war die Dunkelheit, die ihn umwirbelte. Irgendwann erschien ein Licht inmitten der Schwärze und wurde rasch heller.

    „Craibian, wir sind fertig. Du kannst aufhören, deinen Arm anzustarren." Craibian blinzelte und das verschwommene Licht vor ihm stellte sich wieder scharf. Zeitgleich kehrte sein Verstand wieder zurück und er registrierte, dass er immer noch auf der Krankenliege lag. Anscheinend hatte er erneut das Bewusstsein verloren, ohne dass es jemand mitbekommen hatte. Schwarze Flecken schwammen über sein Blickfeld, doch sie wurden immer kleiner und verschwanden schließlich ganz.

    „Craibian, geht es dir gut?", fragte seine Mutter und beugte sich über ihn. Nun klang sie wieder besorgt. Craibian nickte nur. Die Arzthelferin war verschwunden. Bei einem Blick auf die Uhr, die über der Tür hing, stellte er fest, dass er wohl nur ein paar Sekunden weg gewesen war. Ich könnte schwören, es wären Wochen gewesen, dachte er. Die Tür schwang auf und die Frau, die ihm das Blut abgenommen hatte, kam herein.

    „Wir wären hier so weit fertig. Der Schnelltest hat nichts ergeben."

    „Und was jetzt?", wollte seine Mutter von der Frau wissen.

    „Wir schicken eine Probe in unser Labor, wo sie genauer untersucht wird; fürs Erste kann ich nur Bettruhe empfehlen. Wir informieren Sie, sobald wir mehr wissen."

    „Gut, vielen Dank."

    „Er sollte körperliche Anstrengungen für die nächsten Tage meiden. Wenn er wieder einen Schwächeanfall hat oder irgendwelche anderen Symptome zeigt, fahren Sie am besten ins Krankenhaus", schloss die Frau und drückte Craibians Mutter einen kleinen Zettel in die Hand. Craibian setzte sich schwankend auf. Er fühlte sich jetzt noch schwindliger als zuvor, aber zumindest die Übelkeit war nun verschwunden.

    „Können wir dann wieder gehen?", fragte er seine Mutter. Sie steckte den Zettel ein und blickte die Frau fragend an. Diese nickte nur und verschwand wieder aus dem Behandlungsraum.

    „Ja, fahren wir dich nach Hause. Dann kannst du dich wieder hinlegen." Craibian nickte dankbar und stand vorsichtig auf. Zu seiner Erleichterung blieb er bei Bewusstsein.

    Auf dem Heimweg ging es Craibian allmählich immer besser. Der Schwindel legte sich nach und nach. Dafür fühlte er sich immer noch sehr schwach. Es war, als ob jeder Zelle in seinem Körper Energie abgezogen würde. Er war entsetzlich müde und hatte jegliche Motivation auf alles verloren. Er wollte nur noch in sein Bett. Es war fast zehn Jahre her, dass er das letzte Mal krank gewesen war. Damals hatte er mit Grippe dagelegen. Aber selbst da hatte er sich nicht so geschwächt gefühlt. Er hatte damals auf dem Sofa unter einer Decke gelegen und den ganzen Tag ferngesehen. Mit einer Schale voller Kekse und einer großen Kanne mit Pfefferminztee hatte er sich sehr wohl gefühlt. Damals hatte er es toll gefunden, krank zu sein. Dieses Mal hoffte er, er würde so schnell wie möglich wieder gesund werden. Sicher, normalerweise hatte er wie alle anderen auch keine Lust auf Schule. Aber es waren die letzten Tage und damit die letzte Chance, vor Schulende noch mit seinen Freunden zu reden. Hoffentlich würde er bis dahin wieder gesund werden. Außerdem fühlte er sich so elend, dass ihm die Schule lieber war als das. Er dachte zurück an den Moment, als ihm das Blut abgenommen worden war. Diese allumfassende Schwärze, das Gefühl, schwerelos umherzutreiben, das Fehlen jeglicher Gedanken und die Unfähigkeit, irgendetwas wahrzunehmen, und sei es das simple Voranschreiten der Zeit. Das hatte er schon einmal erlebt. Gestern Nacht, als er geträumt hatte: der Mann, dessen Gedanken er geteilt hatte. Er war gestorben und hatte am Ende genau das Gleiche gefühlt wie er vor zehn Minuten. War er tot gewesen? Nein, das war Unsinn. Er lebte doch noch, oder? Craibian zwickte sich in den Arm. Alles fühlte sich relativ normal an. Er schüttelte den Kopf. Nein, er war nicht tot. Wenn er genauer darüber nachdachte, wusste er ja nicht einmal, wie sich das anfühlte. Du hast schon wieder vergessen, dass es nur ein Traum gewesen ist, Craibian, ermahnte er sich selbst. Du hast keine Vision gehabt, du bist nicht durch die Zeit gereist, du hast keine hellseherischen Fähigkeiten und kannst auch keine Gedanken lesen. Und doch, einige Dinge an diesem Traum waren seltsam. Er hatte zum Beispiel die Gewissheit, dass die Geschichte in der Vergangenheit gespielt hatte und dass es auf einer Insel geschehen war, auf der noch etliche andere Personen gelebt hatten. Nichts davon war in seinem Traum vorgekommen und doch wusste er, dass es sich so verhalten hatte. Genauso, wie er den Namen der Stadt wusste: Atlantis. Craibian nahm sich vor, einige Nachforschungen über diesen Namen anzustellen. Er spielte mit dem Gedanken, seiner Mutter von seinem Traum zu erzählen. Nein, sie würde wahrscheinlich überreagieren und ihn gleich in psychiatrische Behandlung schicken. Das würde er für sich behalten. Er hatte außerdem so eine Ahnung, dass es besser wäre, niemandem davon zu erzählen. Und wenn möglich wollte er auch dafür sorgen, dass niemand seiner Krankheit eine größere Beachtung schenkte, was jetzt natürlich schwierig werden würde. Am besten sollte er sie schnell hinter sich bringen.

    Als Craibian in seinem Zimmer ankam, war er bereits außer Atem. Sogar die Treppe war gerade zu viel für ihn. Er ließ sich auf sein Bett fallen. Er hatte sich vorher schon schwach gefühlt und die Blutabnahme hatte die Sache nicht besser gemacht. Scheiß Krankheit, dachte er und murmelte noch ein paar Verwünschungen. Was er jetzt brauchte, war Ablenkung, und er wusste auch schon, wie er sich die verschaffen konnte. Dieser kleine Trick, den er im Wartezimmer des Arztes angewandt hatte, half ihm sonst eigentlich immer, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, wenn sein Kopf zu voll zu werden drohte. Im Unterricht hatte das immer sehr gut geholfen. Er glaubte, dass er mithilfe seiner Vorstellungskraft seinen Körper beeinflussen konnte. Jetzt begann er, in Gedanken durchzuspielen, wie er seinen Körper besser gegen Krankheiten schützen konnte. Am besten wäre es, wenn die Fresszellen gleich nach der Analyse des Virus oder der Bakterie Antikörper bilden würden und diese sofort freisetzen. Er deckte sich zu und spann seine Überlegungen weiter. Gegen Bakterien bräuchte man so etwas wie Viren, die Bakterien befallen. Diese würden dann allerdings vielleicht auch die Bakterien im Darm befallen, was hieße, man müsste diese durch körpereigene Zellen ersetzen. Gegen Viren müssten alle Zellen so programmiert sein, dass diese sich bei einer Infektion selbst zerstören, und vorher melden sie ihre Position den Fresszellen.

    Das klang für ihn alles sehr gut und er stellte sich vor, wie sein Körper die von ihm erdachten Änderungen einfach übernahm. Fast sofort schwand seine Müdigkeit und Wärme breitete sich in seinem Brustkorb aus.

    Er hatte schon früher Überlegungen dieser Art durchgeführt und nach und nach seine Ideen immer weiter gesponnen. Er hatte sich viele Verbesserungen ausgedacht, die an der menschlichen Anatomie vorgenommen werden konnten. Zum Beispiel hatte er sich überlegt, wie man einen Menschen praktisch unverwundbar gegen physische Gewalt von außen machen konnte. Nach mehreren verworfenen Ideen hatte er sich schließlich ein mit speziellem Kohlenstoff verstärktes Skelett erdacht. Die Knochen würden mit sogenannten Kohlenstoffnanoröhrchen verstärkt werden. Die Haut wollte er ebenfalls verstärken, und er hatte lange überlegt, ob man sie nicht einfach durch Schuppen aus Graphen ersetzen konnte. Doch er war mit dieser Idee nie besonders zufrieden gewesen, da es das Aussehen eines Menschen komplett verändern würde. Man hätte dann eher etwas mit einer Echse gemeinsam als mit einem Menschen. Irgendwann war er auf die Idee gekommen, die Schuppen einfach unter der Haut verlaufen zu lassen. Er fragte sich, ob man seine Ideen irgendwann wohl umsetzen können würde. Im Moment jedenfalls war es technisch fast unmöglich, alleine schon, weil die Erzeugung von Kohlenstoffnanoröhrchen im Moment nur unter großem technischem Aufwand möglich war. Wie man diese in die Knochen einbringen könnte, wusste Craibian selbst nicht.

    Es klopfte. „Ja?" Seine Mutter betrat den Raum, in ihrer Hand ein Tablett mit einer Kanne Tee, einer Tasse und ein paar Gebäckstücken.

    „Ich muss zur Arbeit, ich habe hier was zu essen und zu trinken für dich. Du kommst ja zurecht, oder?"

    „Ja, danke."

    „Bis ich wiederkomme, hast du besser die ganze Kanne ausgetrunken!"

    „Ja, Mama", antwortete Craibian genervt.

    „Und dass du mir nichts anstellst!"

    „Ich werd’ schon nicht gleich das ganze Haus abfackeln."

    „Und ruf mich an, wenn es dir wieder schlechter geht!"

    „Ich komm’ schon zurecht, weißt du, ich bin nämlich schon groß", sagte Craibian und verstellte die Stimme so, dass er wie ein kleines Kind klang.

    „Ist ja gut, ich bin ja schon weg", sagte seine Mutter mit einem vagen Lächeln. Als sie sein Zimmer verlassen hatte, fiel Craibian auf, dass er einen gewaltigen Hunger hatte, und er machte sich über das Gebäck her. Es ging ihm schon wieder sehr viel besser.

    Während er aß, dachte er noch einmal über seinen Traum nach und fasste einen Entschluss. Er wollte wissen, was Atlantis bedeutete und warum ihm der Name so bekannt vorkam. Ich bin sicher, wenn es ein Atlantis gegeben hat, weiß das Internet mehr darüber, dachte er. Craibian nahm sich den Teller mit den Gebäckstücken und stand auf. Er hielt einen Moment inne und wartete darauf, dass der Schwindel wiederkam, doch nichts geschah. Craibian war zwar immer noch wackelig auf den Beinen, aber seine Kraft kehrte immer mehr zurück. Er wollte sehen, was er alles über Atlantis in Erfahrung bringen konnte und wie viel mit dem Geträumten übereinstimmte.

    Nach ein paar Minuten fand Craibian tatsächlich auf Anhieb eine Beschreibung einer alten griechischen Legende, welche von einer Insel mit einer Stadt erzählte, die den Namen Atlantis trug. Jetzt fiel Craibian auch wieder ein, warum ihm der Name bekannt vorgekommen war. Er hatte tatsächlich schon einmal von der Legende gehört und jetzt fiel ihm so manches wieder ein. Laut der Zusammenfassung, die er nun vor sich hatte, war die Stadt mit Reichtum gesegnet und sehr fortschrittlich gewesen. Ihr Glanz war so hell, dass sogar die Götter neidisch wurden und sie in einer einzigen Nacht zerstörten.

    Craibian kannte einige griechische Legenden und viele endeten ähnlich. Ein Gott kam herab und regelte die Sache, meist auf sehr drastische Weise. Sie hatten sich sogar ein Monster ausgedacht, welches die Stadt bewachen sollte. Der Leviathan. Ein gigantischer Krebs, wie einfallsreich, dachte sich Craibian, während er den Artikel überflog. Die Legende hatte zwar einige wenige Parallelen zu seinem Traum, aber das traf bestimmt auch auf zahllose andere Legenden zu. Er war fast etwas enttäuscht. Zwar hatte Craibian nichts anderes erwartet, aber die Hoffnung, etwas aus der Vergangenheit miterlebt zu haben, war dennoch geblieben.

    Nachdem er den Computer wieder ausgeschaltet hatte, bemerkte er, dass er während seiner Nachforschungen den ganzen Teller leer gegessen hatte, den seine Mutter ihm gebracht hatte. Normalerweise hätte so viel ausgereicht, um ihn dreimal satt zu machen. Nun fühlte sich sein Bauch zwar sehr voll an, aber satt war er trotzdem nicht. Verdammt, warum bin ich denn so hungrig? Ob das eine Nebenwirkung der Infektion ist? Craibian hatte noch nie davon gehört, dass eine Krankheit den Appetit derart steigerte. Bei den meisten war eher das Gegenteil der Fall. Er überlegte schon, ob er die Speisekammer plündern sollte, doch nun stieg schon wieder die Müdigkeit in ihm hoch. Ich gehe mal lieber schlafen, bevor ich mich noch überfresse, beschloss Craibian und unterdrückte ein Gähnen. Kaum, dass er sich auf sein Bett fallen gelassen hatte, war er schon eingeschlafen und tauchte erneut in seine Traumwelt ein.

    Sein Geist streifte über eine Insel. Er sah üppige Wälder und klare Flüsse. Vogelgezwitscher und das Plätschern von Wasser erreichten seine Ohren. Obwohl er mit immenser Geschwindigkeit dahinflog, hörte er kein Rauschen, und es war kein Gegenwind zu spüren. Große Ackerflächen wechselten sich mit grasbewachsenen Hügeln ab. Ab und zu sah er ein Reh oder einen Hasen, die sich in den Wiesen tummelten. Es war warm und die Sonne schien auf ihn herab. Er raste über die Landschaft. Langsam kam in der Ferne das Meer in Sicht. Sanfte Wellen rauschen einen langen Sandstrand entlang. Er hörte Möwen kreischen und roch die salzige Meeresluft. Die ganze Szenerie war von atemberaubender Schönheit. Er schoss in einem Bogen über das Meer hinweg und bewegte sich jetzt parallel zum Strand. Im Landesinneren konnte er einen einsamen Berg erkennen, der sich bis in die Wolkendecke erhob. Rechts von ihm auf dem Meer bemerkte er plötzlich ein Schiff. Es bestand vollständig aus einem silbern glänzenden Metall und bewegte sich schnell über die Wasseroberfläche. Es schien fast zu fliegen. Sein Bug war schlank und es wirkte anmutig und elegant. Er verfolgte das Schiff mit seinem Blick, doch sein Flug führte ihn weiter an der Küste entlang, während das Schiff ins offene Meer steuerte. Bald war es nicht mehr zu sehen. Vor ihm schlängelte sich nun ein großer Fluss, der ins Meer mündete. Seine Flugrichtung veränderte sich und schon bald flog er direkt über dem Fluss dahin. Er sah weitere dieser fremdartigen Schiffe und fragte sich, wem sie wohl gehörten. – Einige Zeit ging es den Fluss entlang, ohne dass etwas passierte, bis plötzlich ein weißer Fleck vor ihm in Sicht kam. Mauern. Weiße Mauern. Wahrscheinlich aus Marmor gemacht. Und hinter diesen Mauern erkannte er Häuser. Große und kleine, doch allesamt prachtvoll und beeindruckend. Einige von ihnen waren aus demselben glänzenden Metall wie die Schiffe, andere waren mit Pflanzen bewachsen, wieder andere waren kunterbunt. Es gab sogar Häuser aus Holz, die so aussahen, als wären sie nicht gebaut worden, sondern gewachsen. Doch allen gemeinsam war die fremdartige Ästhetik eines großen und uralten Volkes. In der Mitte der Stadt erhob sich ein majestätischer Turm. Er hatte mehrere ringförmige Ausbuchtungen in regelmäßigen Abständen, bis hin zur Spitze. Auf halber Höhe ragten sieben Arme in unterschiedlichen Richtungen vom Hauptturm. Sie waren nach unten mit Bögen zum Turm hin abgerundet und am Ende jedes Arms war wiederum ein kleiner Turm. Er flog nun den Turm in einer Spirale nach oben. Einer der Nebentürme war in flammendem Rot gestrichen, der zweite in einem kühlen Blau, der dritte in einem Braunton, der vierte war hellblau, der fünfte weiß, der sechste schwarz und der siebte grün. Infreet,Undine, Gaia, Sylph, Aska, Luna und Martel stand in großen Lettern auf den Türmen. Er hatte keine Ahnung, was die Worte oder die Zeichen bedeuteten, aber irgendwie wusste er, dass es eine Schrift war. Er flog weiter den Hauptturm hinauf. Das ganze Gebäude war insgesamt bestimmt einen Kilometer hoch und sah aus wie ein Palast. An der obersten der Ausbuchtungen endete sein Flug und er glitt durch eine Glaswand in einen von Sonnenlicht durchfluteten Raum. Er war riesig und hatte ringsherum eine gigantische Glasfront, durch welche die Stadt zu sehen war. Das Innere war fast komplett mit Holz vertäfelt. Der Fußboden, die Decke, sogar die Säulen. Die Möbel im Inneren waren auch ausschließlich aus Holz gemacht und überall standen Pflanzen in großen, mit Holz umkleideten Töpfen. Einige hingen sogar von der Decke. Es gab auch einige Becken, in denen Wasser vor sich hin plätscherte. Es wirkte wie ein kleiner Urwald. In der Mitte des kreisrunden Raums befand sich eine breite Säule mit einer Tür darin. Dies schien der einzige Zugang zu diesem Zimmer zu sein. Als er sich umdrehte, sah er einen großen Schreibtisch, hinter dem ein junger Mann saß. Er war groß gewachsen, doch von schmaler Statur. Craibian sah ihn sich genauer an. Der Mann schien um die 25 Jahre alt zu sein, da man keinerlei Alterserscheinungen entdecken konnte. Er hatte braunes Haar und eine Narbe, die von der Stirn quer über sein rechtes Auge verlief. Das Auge selbst war allerdings unverletzt und die Iris leuchtete in einem hellen Rot. Vor dem Schreibtisch standen vier leere Stühle. Der Mann schien auf jemanden zu warten. Ein Piepen erklang und eine Frauenstimme sagte: „Ihr Besuch ist da, Sir."

    „Dann lass den Herrn General doch herein, Meia", antwortete der Mann in den Raum hinein, obwohl sich niemand sonst darin aufhielt. Die Tür glitt auf und ein breit gebauter Mann schritt zügig auf den Schreibtisch zu, blieb davor stehen und ließ sich auf ein Knie herab.

    „Mein König", brummte der General. Er schien nicht älter zu sein als der König und strahlte doch eine gewisse Reife aus, die gar nicht zu ihm zu passen schien.

    „Steh schon auf, Eras. Du weißt doch, dass du nicht vor mir knien musst, wenn wir allein sind." Der König war aufgestanden und ging mit einem Lächeln um seinen Schreibtisch herum. Eras stand auf.

    „Ja, das weiß ich, aber ich weiß auch, dass es dich tierisch aufregt, wenn ich es doch tue." Die beiden erfassten mit ihren rechten Armen jeweils den Unterarm des anderen und umarmten sich. Sie schienen mehr als König und Vasall zu sein.

    „Schön, dich wiederzusehen, Eras."

    „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Levitas, altes Haus", antwortete Eras.

    „Wer ist hier alt?", lachte Levitas.

    „Na, ich natürlich, sagte Eras mit einem schiefen Grinsen. „Aber genug von den Nettigkeiten. Eras wurde auf einmal todernst. „Wir haben Wichtiges zu besprechen."

    „Ja, das haben wir. Bring mich auf den neusten Stand." Beide nahmen wieder auf ihren Stühlen Platz.

    „Das ägyptische Reich rekrutiert weiter Soldaten, begann Eras. „Ihre Armee zählt mittlerweile über 100.000 Soldaten und sie haben ihre Flotte auf über fünfhundert Schiffe erweitert. Sie meinen es ernst mit dem Krieg gegen uns.

    „Können wir ihnen standhalten?", fragte Levitas mit sorgenvoller Miene.

    „Wahrscheinlich schon. Sie haben in den letzten Jahrzehnten einige Fortschritte gemacht, sind aber immer noch ziemlich primitiv. Allerdings haben wir gerade mal einhundert wehrfähige Männer und Frauen. Und nur zwei Kriegsschiffe. Ich fürchte außerdem, dass sie nicht so schnell aufgeben werden. Nach der ersten Angriffswelle wird eine zweite kommen und eine dritte und so weiter, bis wir besiegt sind. Der General legte eine kurze Pause ein, bevor er fortfuhr. „Die Menschen mögen schwach und minderbemittelt sein, aber sie vermehren sich wie die Karnickel. Dem Pharao werden die Soldaten wohl nie ausgehen, uns aber irgendwann schon.

    Levitas seufzte. „Ich weiß, was du sagen willst, aber die Antwort ist immer noch dieselbe."

    „Denk doch daran, wie viele Leben wir mit einem Präventivschlag retten würden. Wir haben die Magietech-Waffe, wir bräuchten keine Soldaten in den Kampf schicken. Wir könnten eine Rakete auf die Hauptstadt abschießen und schon wäre der Krieg vorbei." Eras sah seinen König eindringlich an.

    „Und wie viele schwangere Frauen, Kinder, Babys und alte Menschen würden wir damit töten?"

    „Die werden doch sowieso nur maximal dreißig Jahre alt, also was soll’s." Levitas’ Miene wurde plötzlich eisig.

    „Ich hoffe, das hast du jetzt nicht ernst gemeint."

    „Dann werden die Kinder halt sterben, wenn sie gegen uns in die Schlacht ziehen, und dafür noch ein paar Atlantae mit in den Tod reißen. Würde dir das besser gefallen?"

    „Diese Diskussion ist überflüssig, Eras. Levitas vergrub das Gesicht in seiner Hand. „Die Magietechnologie ist noch nicht ausreichend getestet worden, um den Start einer Waffe zu rechtfertigen.

    „Dann testen wir sie doch gleich am Feind", schlug Eras vor.

    „Man merkt, dass du kein Magier bist, sonst hättest du das nie vorgeschlagen", erwiderte Levitas trocken.

    „Wir benutzen doch schon Magietechnologie für unsere Computer, die Schiffe und noch einiges mehr. Ich verstehe nicht, warum das jetzt so viel gefährlicher sein soll!" Eras verschränkte die Arme vor der Brust.

    „Weil es sich hierbei um eine gottverdammte Waffe handelt, Eras! Niemand kann genau abschätzen, wie ihre Wirkungsweise sein wird. Wir könnten damit die ganze Erdkruste destabilisieren, das Magnetfeld verschieben oder wer weiß was damit anstellen."

    „Die Macht der Waffen von Atlantis ist unermesslich, zitierte Eras und schüttelte den Kopf. „Dieser Spruch ist doch nur dazu da, um unsere Feinde zu ängstigen.

    „Und hier ist dieser Spruch auch mal sehr nah an der Wahrheit. Ich werde keinen Präventivschlag genehmigen, Ende der Diskussion!"

    Für einen kurzen Augenblick war es ruhig. Die beiden Freunde sahen sich gegenseitig an und schwiegen.

    „Dann werden wir alle sterben, wenn nicht bei der nächsten Schlacht, dann bei der danach oder der danach", sagte Eras leise.

    „Wir haben auch noch andere Möglichkeiten. Unsere Forscher haben in den letzten Jahren gewaltige Fortschritte mit dem Hyperantrieb gemacht. Wir stehen kurz davor, unser erstes Raumschiff bauen zu können, und dann können wir uns einen unbewohnten Planten suchen", erwiderte Levitas genauso leise.

    „Du willst also immer noch lieber fliehen, als zu kämpfen?"

    „Ich will lieber fliehen, als durch ein Meer aus Leichen zu wandeln, gab Levitas leise zurück. „Ich will nicht wie mein Großvater sein.

    Eras seufzte. „Dann müssen wir uns trotzdem noch lange genug verteidigen können. Gibt es wenigstens Fortschritte mit dem Mk-II-Kampfanzug?"

    „Er ist fast bereit für die Serienproduktion. Das neurale Interface funktioniert störungsfrei, vom HUD bekommt man keine Kopfschmerzen mehr und die KI ist weniger launenhaft geworden. In ein oder zwei Monaten dürfte der erste fertig sein."

    „Dann hoffen wir, dass wir noch so lange standhalten und der Mk II wirklich so viel besser ist als sein Vorgänger."

    Eras stand auf. „Ich hoffe, du weißt, was du tust, mein alter Freund", sagte er und ging. Als er durch die Tür verschwunden war, hörte man noch den König leise murmeln.

    „Das hoffe ich auch, mein Freund, das hoffe ich auch." Das Zimmer wurde dunkel und löste sich in Schwärze auf.

    Craibian schlug schlagartig die Augen auf. Er lag in seinem Bett. Er war in seinem Zimmer. Und doch hätte er schwören können, er wäre gerade meilenweit weg gewesen. Es war hell in seinem Zimmer. Hab’ ich so lange geschlafen oder nur so kurz?, wunderte er sich. Es war doch schon kurz vor Mittag, als ich mich hingelegt habe. Er stand auf und ging zum Fenster. Die Sonne stand hoch am Himmel, doch irgendetwas stimmte nicht. Die Straßenlaternen brannten und am Himmel waren lauter hell leuchtende Punkte zu sehen. Das ist nicht die Sonne, dachte Craibian. Das ist der Mond. Und trotzdem war alles taghell erleuchtet. Die hellen Punkte am Himmel waren die Sterne. Sie leuchteten strahlend hell und das Licht stach schon fast in den Augen. Und noch etwas stimmte nicht. Craibian fuhr sich übers Gesicht. Er hatte seine Brille nicht auf. Und doch sah er alles gestochen scharf. Er ging zu seinem Nachtschränkchen und setzte die Brille auf. Einen kurzen Augenblick sah er alles verschwommen, aber seine Sicht klärte sich innerhalb weniger Sekunden. Waren seine Augen auf einmal so lichtempfindlich geworden? Wie musste das erst tagsüber sein? Er würde nichts mehr sehen können, so hell würde alles sein. Er überlegte, ob er seine Mutter wecken sollte.

    Nein. Das würde sie nur wieder beunruhigen. Sie machte sich ohnehin schon immer viel zu viele Sorgen um ihn. Er würde bis morgen warten und dann würde er schon sehen, was er machen sollte. Craibian legte sich wieder in sein Bett und seine Gedanken wanderten wieder zurück zu dem Traum, den er gerade gehabt hatte. Diesmal war er er selbst gewesen, hatte aber keinen Körper gehabt. Auch hätte er sich eigentlich über so viel wundern müssen, aber alles war ihm so selbstverständlich erschienen. Es ging wieder um Atlantis. Dieses Mal hatte er die Insel und die Stadt gesehen. Alles war so fremdartig gewesen und doch irgendwie vertraut.

    Der eine war der König von Atlantis, dachte Craibian, und der andere wurde General genannt. Wie er wusste, war das ein sehr hoher Rang im Militär.Beide waren ihm eigentlich viel zu jung erschienen, um solche Positionen zu haben. Sie konnten nach ihrem Aussehen nicht älter als dreißig Jahre gewesen sein.

    Nun kam ihm auch das Gespräch langsam wieder in den Sinn. Es passte noch mehr nicht zusammen. Atlantis hatte vor Tausenden von Jahren existiert, aber so wie die Stadt ausgesehen hatte, und aus dem Gesprochenen schloss er, dass es eine technologisch weit fort-geschrittene Gesellschaft gewesen war. Wie hätte sich eine solche bilden können, wo doch die Menschen angeblich gerade mal einige Jahrhunderte zuvor noch in Höhlen gelebt hatten? So einen Unsinn hatte nur er sich ausdenken können. Die Stadt selbst war wohl auch ein Produkt seiner Fantasie gewesen. Er hatte sie zwar nur von oben gesehen, aber sie war wunderschön gewesen. So viel Vielfalt an einem Ort. Jedes Haus war anders gewesen als alle anderen. Und dann noch der riesige Turm im Zentrum … Craibian fragte sich, ob so ein Gebilde

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