Türen auf!: Spiritualität für freie Geister
Von Lorenz Marti
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Über dieses E-Book
"Ja, ich will es versuchen! Wahrscheinlich bleibt es bei diesem Thema immer beim Versuch. Das Thema heißt Spiritualität. Und zwar, um das gleich deutlich zu machen, Spiritualität sowohl mit als auch ohne Religion. Beide Möglichkeiten ziehe ich in Betracht. Dabei zeigt sich, dass diese Unterscheidung ziemlich schnell an Bedeutung verliert, weil die Grenzen fließend sind und sich etwas Größeres abzeichnet." (Lorenz Marti)
"Ein Buch für Menschen die auf der Suche sind. Es macht Mut zum eigenen Weg, jenseits von Konvention und Konfession. Lorenz Marti stellt Fragen und geht davon aus, dass die Welt mehr ist, als sie zu sein scheint. Ein Plädoyer für eine lebensfreundliche Spiritualität." (Klara Obermüller)
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Buchvorschau
Türen auf! - Lorenz Marti
Lorenz Marti
Türen auf!
Lorenz Marti
Türen auf!
Spiritualität
für
freie Geister
Herder© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder. de
Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg
Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN (Print) 978-3-451-38941-2
ISBN (EPUB) 978-3-451-84227-6
Für Corina
Ich weiß nicht wohin ich gehe,
aber ich bin auf meinem Weg.
Gertrude Stein
Inhalt
Vorwort: Den Versuch wagen
1 Aufbruch
Das unstillbare Gefühl
Spiritualität von unten
Aufrecht gehen
Die goldene Schnur
Nur drei Fragen
2 Freiheit
Ein heikles Thema
Religiös ohne Religion
Aufbruch zur Mündigkeit
Eine Gewissensfrage
Jenseits der Etiketten
Wie ein Vogel im Wind
3 Sinn
Wundersame Reise
Blick in den Abgrund
Eine notwendige Diät
Die wichtigste Entscheidung
4 Vertrauen
Kaum zu glauben
Die Tür steht offen
Ein besonderer Kredit
Ergriffenheit und Einheit
5 Verbundenheit
Echo des Heiligen
Was Religion bedeutet
Zerbrechliche Gefäße
Religion und Rebellion
Ein frischer Wind
Ewigkeit im Augenblick
6 Gelassenheit
Ein gutes Leben
Würde und Wert
Herbstliches Licht
Geheimnis des Seins
Die Botschaft der Rose
7 Wahrheit
Die Fragen leben
Magie des Dialogs
Ein notwendiger Abschied
Wolke des Nichtwissens
8 Offenheit
Die leere Leinwand
Ein unmögliches Wort
Die Dinge und das Unbedingte
Ein fröhlicher Unglaube
Ach du lieber Gott
Das Schaf und mein Herz
9 Zuversicht
Auf der Schwelle
Alles ist eins
Der leere Stuhl
Weiß der Himmel
Schöne kleine Welle
Nachwort: Eine Kerze anzünden
Wer mich begleitet hat
Vorwort
Den Versuch wagen
Ja, ich will es versuchen! Es mag gewagt sein, es mag abenteuerlich sein und vielleicht auch etwas leichtsinnig – aber versuchen will ich es. Wahrscheinlich bleibt es bei diesem Thema immer beim Versuch. Wer könnte schon behaupten, es im Griff zu haben?
Das Thema heißt Spiritualität. Und zwar, um das gleich deutlich zu machen, Spiritualität sowohl mit als auch ohne Religion. Beide Möglichkeiten ziehe ich in Betracht. Dabei zeigt sich, dass diese Unterscheidung ziemlich schnell an Bedeutung verliert, weil die Grenzen fließend sind und sich etwas Größeres abzeichnet.
Unter Spiritualität verstehe ich das Gespür für eine Tiefendimension der Wirklichkeit, die wir gelegentlich ahnen, aber nie wirklich begreifen können. Manche wollen es bei dieser Ahnung belassen, und das ist ihr gutes Recht. Andere wünschen Anregungen oder Deutungen und finden sie in der Philosophie, in der Literatur – und in der Religion.
Doch Spiritualität ist nicht identisch mit Religion. Sie ist der belebende Pulsschlag jeder Religion, aber an keine Religion gebunden. Die religiösen Traditionen verleihen ihr eine Form. Aber nicht die Form an sich ist wichtig, sondern die Erfahrung, welche in den Bildern, Geschichten und Ritualen einer Tradition zum Ausdruck kommt.
Worum geht es in der Spiritualität? In erster Linie um einen unbefangenen, offenen Blick. Was wir sehen, hängt davon ab, wie wir sehen. Spiritualität ließe sich umschreiben als langer, entspannter Blick auf das, was jetzt ist. Ein solcher Blick nimmt mehr wahr, als direkt zu sehen ist. Er bleibt nicht an der Oberfläche haften. Er geht in die Tiefe.
Darüber zu schreiben ist eine Herausforderung. Bei diesem Thema schwingt etwas Unsagbares mit, das sich jeder sprachlichen Festlegung entzieht. Die Worte könnten das Wesentliche verfehlen. Das wäre dann wie bei einem Witz, der erklärt werden muss: Die Erklärung zerstört ihn. Um diese Gefahr zu vermeiden, gehe ich spielerisch vor, entwerfe Skizzen und erprobe Möglichkeiten. Das Fragezeichen ist mein Begleiter, und der Ausgang bleibt offen.
Ja, ich will es versuchen! Der Versuch kann nur gelingen, wenn ich mich persönlich einbringe. Wenn ich nicht theoretisiere, sondern erzähle. Immer unter dem Vorbehalt, dass ich mich irren könnte. Wir irren uns empor, sagen weitsichtige Wissenschaftler heute, und so verhält es sich auch bei spirituellen Themen.
Im Französischen heißt der Versuch Essay. Als literarische Form bezeichnet der Essay das freie gedankliche Spiel. Ein Thema wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, hin und her gewendet, befragt und betastet. Variationen werden durchgespielt, Gedanken durcheinandergewürfelt und neu angeordnet.
Ein Essay lässt sich nichts vorschreiben. Er darf auch abschweifen, Umwege machen, Fragen aufwerfen und Widersprüche stehen lassen. Er ist jedenfalls nie abgeschlossen. Er bleibt ein Entwurf und lädt ein zum Weiterdenken und Weitergehen.
So versuche ich über Spiritualität zu schreiben. Und ich kann mir dafür kaum eine spannendere Zeit vorstellen als heute. Die religiöse Landschaft befindet sich in einem massiven Umbruch. Traditionen und Institutionen stehen infrage, die bisherigen Selbstverständlichkeiten tragen kaum noch. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass aus diesem Umbruch etwas Neues hervorgehen wird. Was genau das ist, wird sich zeigen. Es ist jedenfalls ein Abenteuer, am Ende der alten Gewissheiten den spirituellen Weltbezug frisch zu buchstabieren und jenseits von Konvention und Konfession neue Wege zu erproben.
Eine Reise von tausend Meilen beginnt bekanntlich mit dem ersten Schritt, und auf diesen ersten Schritt kommt es jetzt an.
Deshalb: Türen auf – und hinaus ins Freie!
1 Aufbruch
Komm! ins Offene, Freund!
Friedrich Hölderlin
Das unstillbare Gefühl
Der Wind trägt den Geruch des Meeres weit ins offene Land. Wer von seinem Hauch gestreift wird, weiß um die Gegenwart der See, auch ohne sie zu sehen. Der Geruch genügt. Auf ihn kann man sich verlassen. Das Meer ist da. Und mit ihm die Weite, die Offenheit, die Freiheit.
Jetzt über das große Wasser fahren! Fahren bis ganz ans Ende der Meere und dabei alles erfahren, alles.
Dafür braucht es ein Schiff. Aber auf das Schiff kommt es vorläufig noch gar nicht an. Sondern auf die Menschen, die es bauen. Und auf die Sehnsucht. Auf die vor allem. In seinem unvollendeten Nachlasswerk Citadelle schreibt Antoine de Saint-Exupéry: „Wenn du ein Schiff bauen willst, fange nicht an, Holz zu sammeln, Planken zu sägen und die Arbeit zu verteilen, sondern erwecke in den Menschen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer."
Um die Sehnsucht geht es. Mit ihr beginnt alles. Sie ist der Schlüssel, und sie ist der Weg. Siebenhundert Jahre vor dem französischen Dichter hat Meister Eckhart schon darüber gepredigt, und seine Worte klingen heute erstaunlich aktuell.
„Es sprechen manche: sie hättens nicht!
Da erwidere ich: Das ist mir leid!
Ersehnst du es aber auch nicht,
dann ist mir noch leider.
Könnt ihr es denn nicht haben,
so habt doch ein Sehnen danach!
Mag man auch das Sehnen nicht haben,
so sehne man sich doch wenigstens
nach einer Sehnsucht!"
Bereits zu Eckharts Zeit im 13. Jahrhundert sind einige Menschen im kirchlichen Glaubensgebäude nicht mehr ganz zu Hause. Heute trifft dies für die große Mehrheit zu, zumindest in unseren Breitengraden.
Aber die Sehnsucht bleibt. Sie ruft und sie zieht. Sie treibt voran und weist über alles hinaus, was wir kennen und was es gibt. Wenn sie groß genug ist, kennt sie keine Grenzen mehr. Sie hat etwas Maßloses, erstreckt sich in unendliche Räume und Zeiten. Sie sucht nicht nur das Meer, sondern ein Mehr, das über alle Meere hinausführt. Es muss mehr als alles geben.
Die Sehnsucht erweist sich als mächtige spirituelle Kraft. Sie erweitert den Blick, vertieft die Wahrnehmung und eröffnet neue Horizonte. Sie kann allerdings auch verbogen und vermarktet werden. Dann bedeutet mehr vor allem: mehr konsumieren, mehr besitzen. Ganze Industrien leben davon, dass sie Ersatzlösungen anbieten und damit gute Geschäfte machen: Erfüllung der Sehnsucht im Schnellverfahren. Nur will das nicht so recht klappen. Da können wir kaufen und machen, was wir wollen, so ganz erfüllt sind wir doch nie. Die Zeit läuft, die Lebensuhr tickt, und allmählich zeigt sich, dass in der Spanne eines Lebens halt doch nicht alles möglich ist, dass nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen und dass das Glück kein Dauerzustand ist.
Der Versuch, grenzenlose Wünsche in ein begrenztes Leben zu pressen, muss zwangsläufig scheitern. Er setzt die Einzelnen enorm unter Druck und ist einer der Gründe für die allgegenwärtige Unruhe und das verbreitete Gefühl von Zeitknappheit. Wenn innerhalb von ein paar Jahrzehnten alles erreicht werden muss, damit das Leben gelungen und das Glück vollkommen ist, erzeugt das permanenten Stress. Und die Aussichten sind erst noch schlecht: Das Glück wird nie vollkommen sein.
Also entspannen. Es muss nicht alles sein, Vollkommenheit schon gar nicht. Die Sehnsucht will mehr als alles, was sich innerhalb eines Lebens realisieren ließe. Wir können dieses Mehr nie erreichen – aber es gibt Momente, wo es uns erreicht: in einem Windhauch, der viel verspricht, der alles verspricht.
Eine Sehnsucht, die groß genug ist, schmeckt bereits nach Erfüllung. *
Anmerkungen
* Dieser Satz geht angeblich auf Martin Luther zurück.
Spiritualität von unten
Alle Spiritualität muss unten beginnen. Hier. Auf der Erde und nicht im Himmel. Jetzt. Bei der eigenen Wirklichkeit, die nicht immer sehr erhaben, aber oft sehr durchwachsen und ziemlich mittelmäßig ist. Meist klafft eine Lücke zwischen Ideal und Wirklichkeit, die mal größer und mal kleiner, aber selten ganz geschlossen ist. Ich jedenfalls hinke meinen Idealen deutlich hinterher. Und zwischendurch beschleicht mich der unangenehme Gedanke, statt über spirituelle Fragen zu schreiben sollte ich lieber einmal anständig leben lernen.
Ob