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Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod
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Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod
eBook325 Seiten4 Stunden

Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod

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Über dieses E-Book

Hesiod, einer der frühesten bekannten europäischen Dichter, ist auch von philosophischem Interesse, vor allem in ethisch-politischer Perspektive. Als früher »Vorsokratiker« erörtert er in »Werke und Tage« Lebensbereiche und -beziehungen, die aus seiner Sicht für das gute Leben des Einzelnen und für das gelingende Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft unverzichtbar sind: Wettstreit, Gerechtigkeit, Arbeit, Hausgemeinschaft, Freundschaft und Spiritualität. Für Hesiod hat der Mensch in zentralen, wenn auch nicht in allen Fragen der Lebensgestaltung vor allem eines – Entscheidungsfreiheit. Der Autor dieser Studie stellt Hesiods rudimentäre Politische Anthropologie, wie sie sich aus den »Werken und Tagen« gewinnen lässt, dar, ergänzt durch antike Perspektiven politischer Partizipation und kosmopolitischer Identität; sie ergeben ein ›Konzept signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft‹ und zeigen, was es heißen kann, sich zu ›entscheiden, Mensch zu sein‹.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2019
ISBN9783787337477
Leben in Gemeinschaft: Politische Anthropologie anhand Hesiod
Autor

Simon Varga

Simon Varga lehrt am Institut für Philosophie der Universität Wien, fokussiert auf die Schnittstellen von Philosophie, Soziologie und Alter Geschichte, insbesondere in den Bereichen Philosophische und Politische Anthropologie, Ethik und Politik sowie antike Philosophie.

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    Buchvorschau

    Leben in Gemeinschaft - Simon Varga

    Inhalt

    Cover

    Titelei

    Zwischentitel

    Vorwort

    Übersicht

    1. Hinführung

    2. Hesiods Politische Anthropologie

    2.1 eris: Wettstreit und Fortkommen

    2.2 dikê: Gerechtigkeit als Lebensprinzip

    2.3 ergon: Selbstbestimmung durch Arbeit

    2.4 oikos: Hausgemeinschaft als Lebensmittelpunkt

    2.5 philia: Notwendigkeiten der Freundschaft

    2.6 timê: Achtung des Mythos

    3. Überblick, Positionen und Klärungen

    3.1 Hesiods Lebensbereiche und -beziehungen

    3.2 Perspektiven der Hesiod-Interpretationen

    3.3 Hesiod als Beginn der Vorsokratik

    4. Politische Anthropologie im Spiegel der Neuzeit

    4.1 Anthropologie der Kooperation

    4.2 Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn

    4.3 Mensch und Schaffen

    4.4 Familie als zentrale Lebensgemeinschaft

    4.5 Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung

    4.6 Philosophische Kontemplation

    5. Grundlegung und Erweiterung politischer Anthropologie

    5.1 Hesiods Grundlagen in Aufriss und Übertragung

    5.2 Erweiterungsebene 1: politische Teilhabe

    5.3 Erweiterungsebene 2: kosmopolitische Identität

    6. Definitionen, Kritiken und Perspektiven

    6.1 Politische Anthropologie erster und zweiter Stufe

    6.2 Ansätze der Anthropologiekritik mit drei Repliken

    6.3 Signifikante Lebensbereiche und Lebensbeziehungen

    7. ‚Entscheiden‘ Mensch zu sein

    Literaturverzeichnis

    Personenregister

    Stellenregister

    Erga

    Theogonie

    Simon Varga

    Leben in Gemeinschaft

    Politische Anthropologie anhand Hesiod

    Meiner

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische

    Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

    ISBN 978-3-7873-3695-1

    ISBN EPUB 978-3-7873-3747-7

    www.meiner.de

    © Felix Meiner Verlag Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz und Konvertierung: 3W+P GmbH, Rimpar.

    »Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch

    abgefasst (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder

    in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus

    dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als frei-

    handelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll«

    (Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Vorrede).

    Vorwort

    Eine Anthropologie zu entwickeln steht vor mindestens drei Problemen: Erstens tragen die Entwürfe etwaiger Menschenbilder oftmals die Etiketten unzulässiger Verallgemeinerungen, mitunter auch politischer oder bzw. und religiöser Ideologien. Zweitens stellt sich die berechtigte Frage, ob eine Anthropologie – eine Lehre vom Menschen, auch verstanden als eine Lehre vom Menschsein – überhaupt geleistet werden kann, zumal Begriffe wie Mensch, Individuum, Gemeinschaft usw. immer wieder Änderungen erfahren haben. Und drittens: Eine explizite Politische Anthropologie steht unter dem Generalverdacht, den Menschen der Zukunft zu bevormunden.

    Dabei ist es vor allem die Politische Anthropologie, die – wiederum mindestens – aus drei Gründen unverzichtbar erscheint. Zum einen ist es eine Notwendigkeit, einen Dialog über das Leben in Gemeinschaft zu führen. Zum anderen ist das Zusammenleben ein permanentes politisches Leben im weiteren Sinne, in allen Angelegenheiten des Menschseins in Gemeinschaft. Drittens sind es Menschenbilder, die bestimmen, wie wir in Zukunft unser Zusammenleben gestalten werden.

    Die vorliegenden Überlegungen basieren auf dem Vortrag Hesiod's Political Anthropology, den ich am XXIII. World Congress of Philosophy in Athen gehalten habe. Seit diesen Tagen hat mich das Projekt viele Jahre kontinuierlich begleitet. Ich danke Otfried Höffe (Tübingen) und Josef Rhemann (Wien) für die kritischen, jedoch bestärkenden Einschätzungen und Kommentierungen. Ein Aufenthalt am Center for Hellenic Studies (CHS) der Harvard University hat es mir ermöglicht, das Vorhaben zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Einer der Grundsätze des CHS, „to rediscover the humansim of the Hellenic Greeks", ist mir leitendes Anliegen.

    Hesiod betrachtet das Zusammenleben so gut wie ausschließlich aus der Perspektive der (aus seiner Sicht unverzichtbaren) Lebensgemeinschaft des oikos heraus. – Ich widme dieses Buch meinen Eltern und meiner Familie.

    Washington D.C. & Wien, 2019

    Simon Varga

    Übersicht

    In der vorliegenden Studie geht es um das Leben des Menschen in Gemeinschaft, um die Grundlegung einer politischen Anthropologie anhand von Hesiod, dabei vor allem durch den Text der Werke und Tage. Dieses Vorhaben wird nach einer kurzen Hinführung und dem Einstieg in das Feld der philosophischen Anthropologie im Allgemeinen (Kap. 1) in fünf Schritten umgesetzt:

    (i) Im ersten Schritt erfolgt eine direkte Darstellung der Ansätze und Themen der politischen Anthropologie bei Hesiod (Kap. 2). Dabei stehen insbesondere die Begriffe eris, ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Konflikt (Kap. 2.1), dikê, Gerechtigkeit und Recht (Kap. 2.2), ergon, Arbeit und Tätigkeit (Kap. 2.3), oikos, Haus- und Hofgemeinschaft (Kap. 2.4), philia, Freundschaft (Kap. 2.5) und timê, (Gottes-)‌Achtung (2.6), im Mittelpunkt der Betrachtung. Alle diese Lebensbereiche und Lebensbeziehungen in der Darstellung Hesiods machen deutlich, dass die Werke und Tage nicht ausschließlich von mythologisch-theologischem oder sprachlich-dichterischem Interesse sind, sondern ebenso aus einer politisch-anthropologischen Perspektive Beachtung finden sollten.

    Anschließend daran folgt im Rahmen des nächsten Abschnitts (Kap. 3) eine komprimierte Zusammenfassung der sechs politisch-anthropologischen Bestimmungen Hesiods in Verbindung mit einer Auslegung des eigentlichen Ziels der Werke und Tage, nämlich des ‚glückseligen Menschen‘ in gelingender Gemeinschaft (Kap. 3.1). Nicht alle der angesprochenen sechs Lebensbereiche und -beziehungen Hesiods haben bislang innerhalb der Philosophie Anerkennung erhalten, weshalb sich das nächste Kapitel mit aktuellen Forschungsmeinungen zu Hesiod auseinandersetzt und sich dabei für einzelne, aber doch bedeutende Korrekturen und Verdeutlichungen in der Interpretation ausspricht (Kap. 3.2). Die Bestimmung Hesiods als einen der ersten Vorsokratiker bildet den Abschluss des ersten Teils und erscheint insbesondere in Anbetracht der ethisch-politischen Dimensionen der Werke und Tage als überaus angebracht (Kap. 3.3).

    (ii) Nach der Übersetzung der politisch-anthropologischen Lebensbereiche und -beziehungen Hesiods folgen – unter gänzlicher Rücksichtnahme auf die notwendigen Einschränkungen des Vergleichs (Kap. 4) – Verortungen von eris, dikê, ergon, oikos, philia und timê im Spiegel der Philosophie der Neuzeit. Ziel ist es dabei u. a. aufzuzeigen, dass Hesiod in der Thematisierung dieser Dimensionen zentrale Themen der Geschichte der Philosophie rudimentär angesprochen und sie dadurch zumindest zum Thema gemacht hat. Vorausblickend sei an dieser Stelle festgehalten, dass in der Auseinandersetzung mit der Philosophie der Neuzeit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit besteht, sondern vielmehr das Anliegen verfolgt wird, darzulegen, dass Hesiod in Werke und Tage wesentliche Themen der Philosophie bereits in Ansätzen bearbeitet hat.

    Anknüpfend an diese kursorische philosophiegeschichtliche Verortung erfolgt eine Übertragung dieser Motive in die Grundlegung einer politischen Anthropologie der Gegenwart, abgeleitet aus der Auseinandersetzung mit Hesiod und den erkennbaren Bezügen in der Philosophie der Neuzeit mit folgenden politisch-anthropologischen Perspektiven: Anthropologie der Kooperation (4.1); Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn (4.2); Mensch und Schaffen (4.3); Familie als zentrale Lebensgemeinschaft (4.4); Freundschaft als unveräußerliche Lebensbeziehung (4.5) und Philosophische Kontemplation (4.6).

    (iii) Der dritte Schritt (5.) entwickelt sich in drei Kapiteln, beginnend mit der Zusammenfassung der Grundlegung der politischen Anthropologie anhand von Hesiod und deren Übertragung, die in einem größtenteils unkommentierten, tabellarischen Gesamtüberblick dargestellt wird (5.1). Daran anschließend wird der Frage nachgegangen, welche Lebensbereiche und -beziehungen Hesiod in dem Text der Werke und Tage nicht oder nur am Rande erörtert und warum. Dabei handelt es sich insbesondere um zwei politische Perspektiven, die bei Hesiod keinen größeren Stellenwert in seinem Nachdenken über das Leben in Gemeinschaft zugesprochen bekommen, aber dennoch für die Entwicklung einer politischen Anthropologie überaus relevant erscheinen und auch aus einer Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie der Antike heraus abgeleitet werden können.

    Zum einen handelt es sich um den Bereich der politischen Gemeinschaft des Menschen über das Haus, den oikos, hinaus. Weder die Gemeinde noch die Polis sind – im Vergleich zu den anderen Themen der sechs politisch-anthropologischen Dimensionen – für Hesiod in Werke und Tage verstärkt von Bedeutung. Dabei stand gerade dieser größere Bereich der politischen Gemeinschaft, die Gemeinde und die Polis, für die Philosophie der Antike nach Hesiod im unmittelbaren Fokus der politischen Philosophie. Dieser Aspekt, subsumiert unter den Begriff der ‚politischen Teilhabe‘, soll in einem weiteren Schritt als erste Ergänzung zu Hesiod aus der Philosophie der Antike (durch Aristoteles) thematisiert und eine Übertragung in die Gegenwart geleistet werden (5.2).

    Zum anderen tätigt Hesiod keine Aussagen über etwaige polisübergreifende politische oder ethische Konzepte, was in Anbetracht des historischen Rahmens alles andere als verwunderlich ist. Dennoch ist insbesondere das kosmopolitische Argument eine geistige Errungenschaft der Philosophie der Antike, die vor allem für eine Politische Anthropologie unverzichtbar erscheint. Selbst vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Philosophie der Klassik, namentlich Platon und Aristoteles, keine kosmopolitischen Konzepte, sondern ihr politisches Denken über die politikê koinonia so gut wie ausschließlich in der Begrenzung der Polismauern nach innen entwickelt hat. Anhand der Sophisten, der Kyniker und der Stoiker lässt sich hingegen ein kosmopolitisches Konzept nachzeichnen, das ebenso wie der zuvor genannte Bereich der politischen Teilhabe zu einer politischen Anthropologie hinzugestellt wird: die ideelle kosmopolitische Identität des Menschen als politisch-anthropologisches Konstitutiv (5.3).

    (iv) Im nächsten Schritt (6.) werden drei Themen angesprochen und bearbeitet. Erstens erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der ‚politischen Anthropologie‘ im Rahmen des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses. Dabei wird die Politische Anthropologie ‚erster‘ und ‚zweiter Stufe‘ ausdifferenziert, um es zu ermöglichen, das potentielle Leistungsspektrum dieser Fachdisziplin in ihren Fragestellungen heute deutlicher fassen zu können (6.1).

    Zweitens folgt eine Auseinandersetzung mit der Anthropologiekritik, dabei insbesondere mit jenen kritischen Stimmen ausgehend aus dem 20. Jahrhundert, die das allgemeine Anliegen jeglicher philosophischer Anthropologie einer umfassenden, grundlegenden und systematischen Kritik unterzogen haben. Abschließend folgt darauf eine partielle Replik auf die Kernargumentationen der Anthropologiekritik in drei Punkten, die nicht zum Ziel hat, die Anthropologiekritik pauschal zu widerlegen, sondern vielmehr aufzeigen soll, dass die Politische Anthropologie zwangsläufig historische Implikationen aufweist und aufgrund der permanenten Transformation des Verständnisses von Mensch, Politik und Gemeinschaft im Verlauf der Geschichte des Menschen korrigierbar und gestaltbar, also in einem gewissen Sinne offen bleiben muss (6.2).

    Drittens wird das in dieser Studie anhand von Hesiod abgeleitete ‚Konzept signifikanter Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen in Gemeinschaft‘ entwickelt und in einer Übersicht dargestellt, ergänzt durch die Perspektiven der ‚politischen Teilhabe‘ (vgl. Kap. 5.2) und der ‚kosmopolitischen Identität‘ (vgl. Kap. 5.3). Dem geht eine kursorische Auseinandersetzung mit anderen Konzepten (wie John Rawls, Martha Nussbaum und Michael Walzer) voraus, um auf diesem Wege zu zeigen, dass Hesiod mit seinem Nachdenken bereits dem Anliegen nach einer möglichen Bestimmung des guten und gelingenden Lebens des Menschen in Gemeinschaft auf seine Art und Weise nachgegangen ist (6.3).

    (v) Abschließend erfolgt in einem fünften Schritt die Darstellung ausgewählter Ergebnisse. Zum einen wird nochmals Bezug auf die Politische Anthropologie als Fachdisziplin genommen. Zum anderen wird die Beschäftigung mit Hesiods Werke und Tage aus der Perspektive einer politischen Anthropologie angesprochen und festgehalten, dass Hesiod insbesondere zum Ausdruck bringt, dass der Mensch Wahlfreiheit in seiner Lebensführung bzw. -gestaltung hat und dass er individuell wie auch gemeinschaftlich darüber reflektieren kann. Hesiod und die Politische Anthropologie zeigen, was es heißen kann: ‚Entscheiden‘ Mensch zu sein (7).

    1. Hinführung

    »Was ist der Mensch?« – Mit dieser Frage nach dem Wesen des Menschen hat Immanuel Kant eine der wichtigsten Hauptfragen der Philosophie in einfacher, deutlicher Sprache erneut auf den Punkt gebracht und darüber hinaus festgehalten, dass alle anderen Fragen der Philosophie in ‚weltbürgerlicher Bedeutung‘ – Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen? – im Grunde genommen auf diese eine Frage nach dem Menschen gerichtet und damit in Summe auch ein anthropologisches Thema sind (vgl. Kant: Logik, A 25). Seit den für uns heute nachvollziehbaren Anfängen des antiken griechischen Denkens steht diese Frage nach dem Menschen, neben anderen Themen, z. B. aus den Bereichen der Astronomie, der Mathematik oder der Theologie, in ihrem Grundanliegen im Zentrum vieler philosophischer Überlegungen. Die Philosophische Anthropologie, als Fach in der Neuzeit begründet, der Sache nach jedoch deutlich älter und dem Inhalt nach seit der Antike von größerem Interesse, hat es sich seit ihrem Beginn zur Aufgabe gemacht, diese eingangs angeführte Frage Kants einer umfassenden Beantwortung zuzuführen.

    Mögliche Antworten auf die ‚Frage nach dem Menschen‘ sind in der Geschichte der Philosophie immer wieder gegeben worden, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven und mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. Auffallend bei einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der philosophischen Anthropologie ist, dass die Philosophie zu einer möglichen Beantwortung der kantschen Frage durch die Jahrhunderte hindurch bis heute keineswegs einfacher gelangen konnte bzw. gelangt ist, sondern im Gegenteil, immer schwieriger.

    Friedrich Nietzsche hat in der Genealogie der Moral im Jahr 1887 in seiner Art und Weise festgehalten, dass der Mensch ‚unfestgestellter‘ als alle anderen ‚Tiere‘ sei.

    »Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, [...]« (Nietzsche: Genealogie der Moral, III 13).

    Im Verlauf der Geschichte der philosophischen Anthropologie scheint also – auf den ersten Blick – eine unmittelbare Kenntnis über das Wesen des Menschen eher ab- als zuzunehmen. In der Antike u. a. als fester Bestandteil des Kosmos, innerhalb der Ordnung der Natur, gedacht; im Mittelalter u. a. als Mittelpunkt, als Krönung der Schöpfung Gottes, in der Neuzeit u. a. als autonomes, selbstverantwortetes Lebewesen usw., steht die Philosophische Anthropologie heute in Aktualität und Bedeutung (zu Unrecht) am Rand. Und darüber hinaus wurden immer lauter werdende Zweifel zum Ausdruck gebracht, ob eine allgemeingültige Antwort auf die Frage Kants überhaupt in abschließender Art und Weise geleistet werden kann, worauf auch die Anthropologiekritik des 20. Jahrhunderts Bezug nahm.

    Dabei ist gerade die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Zeit, in der die Philosophische Anthropologie neue Impulse setzte, und das bereits in dem Bewusstsein um die Schwierigkeiten des Anliegens selbst. Wilhelm Dilthey, eine der wichtigsten Bezugspersonen philosophisch-anthropologischen Denkens des letzten Jahrhunderts, hält zur philosophischen Anthropologie im Allgemeinen fest:

    »Was der Mensch sei und was er wolle, erfährt er erst in der Entwicklung seines Wesens durch die Jahrtausende und nie bis zum letzten Worte, nie in allgemeingültigen Begriffen, sondern immer nur in den lebendigen Erfahrungen, welche aus der Tiefe seines ganzen Wesens entspringen« (Dilthey: Pädagogische Wissenschaft, 57).

    Einer der zentralen Kritikpunkte am Grundanliegen, an den Bestimmungen und an den Konzepten der philosophischen Anthropologie lautet, ob es überhaupt möglich ist, das Wesen des Menschen allgemeingültig, gewissermaßen ahistorisch, zu bestimmen und festzuhalten (vgl. Kap. 6.2). Diese methodische Frage bzw. Kritik ändert allerdings nichts an der – nach wie vor aktuellen sowie prinzipiellen – ‚Unfestgestelltheit Mensch‘, die Nietzsche in seiner Genealogie der Moral angesprochen hatte und die auch von anderen gesehen wurde. Max Scheler konstatiert in seinem Bemühen um ein Fortkommen der philosophischen Anthropologie am Beginn des 20. Jahrhunderts nachdrücklich:

    »Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos „problematisch" geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß« (Scheler: Mensch und Geschichte, 120).

    Angesichts rasanter technischer, biomedizinischer und politischer Entwicklungen, insbesondere in den vergangenen letzten Jahrzehnten des zurückliegenden 20. Jahrhunderts, sowie den damit verbundenen ethischen wie politischen Frage- und Problemstellungen, die bis heute aktuell sind und es auch noch in den kommenden Jahrzehnten sein werden, z. B. in der digitalen Kommunikation, der Gentechnik, der internationalen bzw. globalen Politik usw., eine sicherlich nicht gänzlich unzutreffende Analyse Schelers, die in Teilen ebenso wie Diltheys Befund zuvor an Nietzsches Attestierung erinnert. Allerdings zeichnet die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts insbesondere aus, dass viele ihrer Vertreter trotz aller systematischen Schwierigkeiten und der vielfach vorgetragenen fachlichen Kritik von Bedeutung und Brisanz des Grundanliegens dennoch zur Gänze überzeugt sind.

    »Wenn es eine philosophische Aufgabe gibt, deren Lösung unser Zeitalter mit einzigartiger Dringlichkeit fordert, so ist es die einer philosophischen Anthropologie. Ich meine eine Grundwissenschaft vom Wesen und vom Wesensaufbau des Menschen; [...]« (Scheler: Mensch und Geschichte, 120).

    In Anbetracht des Titels dieser Untersuchung stellt sich jedoch zuallererst die – aus heutiger Perspektive freilich berechtigte – Frage, welchen Beitrag ein antiker Autor wie Hesiod zu Klärung der kantischen Pointierung der Aufgaben philosophischer Anthropologie beitragen kann? Die Antwort lautet in aller Kürze: in Bezug auf eine Lösung der spezifischen anthropologischen, ethischen oder politischen Problemstellungen der Gegenwart kaum etwas; in Bezug auf einen Versuch, den Menschen als Menschen in seiner politischen Natur zu fassen und die wichtigsten Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen erstens aufzuzeigen und zweitens zumindest rudimentär zu diskutieren sowie dadurch deren Relevanz aufzuzeigen, hingegen einiges.

    Das Ziel der Studie ist somit u. a. der Nachweis der Ansätze einer politischen Anthropologie bei Hesiod, insbesondere in dem Text der Werke und Tage, wo meiner Ansicht nach zentrale Lebensbereiche und -beziehungen des Menschen definiert werden – wenn auch bloß skizzenhaft und in der Sprache des Dichters. Hesiod zeichnet in seinem Denken eine Anthropologie vor und bringt diese in unmittelbare Verbindung mit dem guten und gelingenden Leben. Damit entwickelt er, lange vor dem klassischen griechischen Denken von Sokrates, Platon oder Aristoteles und bereits vor sämtlichen der sogenannten Vorsokratiker, Konnotationen zwischen Anthropologie und Ethik. Weiters soll nach diesem historischen Zugang gezeigt werden, dass Hesiod mit diesen Überlegungen aus systematischer Perspektive viele Bereiche des Lebens des Menschen bis heute thematisiert hat, auch wenn diese Bestimmungen zwar nicht als Antworten auf aktuelle philosophische Problemstellungen verstanden, aber als überaus anregende und allgemeingültige Ausgangspunkte philosophisch-politischer Anthropologie herangezogen werden können.

    Wer eine Politische Anthropologie zum Thema machen will, der muss ansatzweise klären, was darunter verstanden werden kann, zumal dieser Bereich wenig Aufmerksamkeit erfährt. Unbezweifelbare Tatsache ist, dass die Philosophische Anthropologie im Allgemeinen, und damit auch das Teilgebiet der spezifisch politischen Anthropologie, keine nebensächliche Spielerei einer Neben- oder Randdisziplin darstellt. Denn: „Anthropologische Vorstellungen bzw. Menschenbilder sind mehr als nur Glaubenssache. Sie bestimmen nicht nur, wie wir uns selbst und andere sehen, sondern auch, wie wir miteinander umgehen. Und damit haben sie weit reichende Auswirkungen darauf, wie wir miteinander leben" (Bauer: 2013, 10). Im Bereich der politischen Anthropologie, der Lehre vom Menschen als Individuum innerhalb von (politischer) Gemeinschaft, trifft das besonders zu. Denn damit verbunden ist auch die ethische Frage, wie das gute Leben des Einzelnen und das gelingende Zusammenleben des Menschen in Gemeinschaft möglich ist und auf welche Lebensbereiche und -beziehungen es letztendlich dabei ankommt. Politische Anthropologie verstehe ich daher als diese Schnittmenge aus Ethik und Politik, die nach möglichen konstitutiven Charakteristika des Zusammenlebens fragt und deren Bedeutung für das individuelle gute und das gemeinschaftlich gelingende Leben des Menschen aufzeigt.

    Diese Untersuchungen fokussieren also Kernthemen einer politischen Anthropologie, verstanden als das Fragen nach dem Leben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft, dessen Mittelpunkt der Mensch als soziales und politisches Lebewesen ist. Der Bereich des Politischen ist damit weiter gefasst, als das heute zumeist der Fall ist, wenn von Politik im Allgemeinen gesprochen wird. Aristoteles hat diesen größeren Bereich des Politischen in der Verbindung von Ethik und Politik umfassend bestimmt. So u. a. durch die Definition des Menschen als zôon politikon, als politisches Lebewesen, d. h. als Lebewesen, das von Natur aus als Individuum innerhalb von Gemeinschaft lebt (vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1253a1). Auch wenn andere Anthropologien, so z. B. jene von Thomas Hobbes und des homo homini lupus oder des bellum omnium contra omnes, den Ansichten von Aristoteles diametral gegenüberstehen, erscheint es dennoch auch heute noch als unstrittig, dass der Mensch sein Leben nicht zur Gänze losgelöst vom Zusammenleben mit anderen Menschen leben und führen kann. So hält es auch Aristoteles fest: Derjenige, der der Gemeinschaft mit anderen Menschen nicht bedarf, ist entweder ein wildes Tier oder aber ein Gott (vgl. Aristoteles: Politik I 2, 1253a28). Die aristotelische Verbindung von Ethik und Politik, die er auch zusammengefasst als die Philosophie der menschlichen Angelegenheiten (anthrôpeia philosophia) bezeichnet hat (vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik X 10, 1181b15), ist eine der wichtigsten Grundlagen einer politischen Anthropologie im weiteren Sinne. Und zuweilen hat auch Aristoteles die ‚Philosophie der menschlichen Angelegenheiten‘ als ‚politische Wissenschaft‘ (politikê) im umfassenden Verständnis bezeichnet.

    Ich verstehe daher in diesen Untersuchungen die Politische Anthropologie als einen Teilbereich der allgemeinen bzw. klassischen philosophischen Anthropologie. Die Politische Anthropologie fragt u. a. nach den grundlegenden Lebensbereichen und -beziehungen, die zum einen für das gute Leben des Einzelnen und zum anderen für das gelingende Zusammenleben des Menschen innerhalb von Gemeinschaft zentral sind. Diesem Unternehmen hat sich bereits Hesiod angenommen und dabei gezeigt, worauf es letztendlich im Leben des Menschen ankomme.

    2. Hesiods Politische Anthropologie

    Hesiod gehört zweifelsfrei zu dem engsten Kreis der wichtigen Autoren, die aus der griechischen Antike überliefert sind. Seine beiden Lehrgedichte, die Theogonie und die Werke und Tage, gelten als Zeugnisse einer „archaischen Philosophie (Gigon: 1968, 39), die als ein „vorwissenschaftliches Denken (Schmidt E.G.: 1991, 182) charakterisiert und gelegentlich auch, gemeinsam mit den Epen Homers, als „Ausgangspunkt der europäischen Philosophie" (Schönberger: 2007, 99) begriffen werden können. Bereits in der Antike wurde den Erzählungen Hesiods – zumeist verbunden mit jenen Homers – große Aufmerksamkeit zuteil.

    Herodot würdigt beide Dichter insbesondere aufgrund ihrer umfassenden mythologischen Erzählungen und der dabei erfolgten Ausgestaltung und Gliederung der griechischen Götterwelt (vgl. Herodot: Historien, II 53). Ein weiterer Beleg für die nicht zu unterschätzende Bedeutung der frühgriechischen Dichtung für die Kultur- und Geistesgeschichte der Antike ist ebenso die vielfache Kritik an deren ‚Philosophie‘, die bereits beginnend in der Vorsokratik geäußert wurde und die bis in das Athen von Sokrates, Platon und Aristoteles reichte. Xenophanes war mit den anthropomorphen mythisch-theologischen Darstellungen der Götter bei Homer und Hesiod unzufrieden (vgl. Mansfeld, Xenophanes: 25; DK 21 B 11). Auch Heraklit übte an den sogenannten Volkssängern deutliche Kritik. Im Zuge dessen weist er allerdings ebenso auf den Stellenwert Hesiods zur damaligen Zeit, nämlich als ‚Lehrer der meisten‘, hin (vgl. Mansfeld, Heraklit: 11; DK 22 B 104 / 14; DK 22 B 42 / 16; DK 22 B 40 / 17; DK 22 B 57). Über die Vorsokratik hinaus ist auch noch in Platons Politeia deutliche Kritik an der Dichtung und

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