Wandlungen und Aufbrüche: Der Weg der Niederländischen Gemeinde von Antwerpen nach Frankfurt am Main
Von Martin Jhering
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Buchvorschau
Wandlungen und Aufbrüche - Martin Jhering
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1
Lutheraner in Antwerpen und ihr Weg an den Main
Almosenkasten und französisch-lutherischer Gottesdienst seit 1585
Die Niederländische Gemeinde als Solidarverband lutherischer Glaubensgenossen seit 1788
Wiederaufbau nach 1945 und Neuausrichtung seit 1998
Mitgliedschaft als lebendige Tradition
Traditionspflege und Erinnerungskultur
Das neue Jahrtausend: Verfassung und Tätigkeitsfelder heute
Kapitel 2
Die Weltstadt Antwerpen um 1550
Die Frühreformation in Antwerpen (1519–1523)
Die Situation der Lutheraner bis 1566/67
Der Weg zur Zulassung des Gottesdienstes 1566
Die Konstituierung einer lutherischen Gemeinde in Antwerpen
Widerstreit der Konfessionen: Die Schlacht von Oosterweel 1567
Das Ende des „Wunderjahres" und der neuen Gemeinde (1566/67)
Erneute Verfolgung unter Herzog Alba und seinen Nachfolgern
Die Antwerpener Lutheraner von 1577 bis zum Fall der Stadt 1585
Kapitel 3
Klosterbruder und Ketzerlehrer (1520–1557)
Flucht nach Genf und Frankfurt (1557, 1558)
Aufenthalt in London (1559–1563)
Die Biblia del oso und die Jahre 1563 bis 1569
Handwerker, Kaufmann und Frankfurter Bürger (1570–1578)
Französisch-lutherischer Prediger in Antwerpen (1579–1585)
Stifter und Prediger in Frankfurt (1585–1594)
Den Menschen zugewandt. Eine Würdigung Cassiodoro de Reynas
Abbildungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis und Bildrechte
Impressum
Anmerkungen
Wandlungen und Aufbrüche
Der Weg der Niederländischen Gemeinde von Antwerpen nach Frankfurt am Main
Martin Jhering
Vorwort
Antwerpen 1566: Als Teil der Spanischen Niederlande ist die reichste Handelsstadt Europas nach wie vor katholisch, doch die Reformation breitet sich wie ein Lauffeuer aus. In diesem Jahr veröffentlicht der Kartograf Pauwels van Overbeke einen Stadtplan von Antwerpen. [Abb. Overbeke-Plan, 1566]; [Abb. Overbeke-Plan, 1568]; Kaum zwei Jahre später schon wird eine veränderte Neuauflage nötig, denn das Bild der Stadt hat sich drastisch verändert. Was ist geschehen?
Nach monatelangen Unruhen hat Philipp II. von Spanien 1567 endgültig die Geduld mit der aufmüpfigen Provinz verloren und seinen mächtigsten Kriegsmann, den Herzog von Alba, samt einer gewaltigen Streitmacht in die Niederlande gesandt. An der Südseite Antwerpens errichten die Spanier eine Zitadelle. Die aggressive Form des Baus spiegelt seinen Zweck wieder: Kontrolle und Unterdrückung. Es ist jene Festung, die zehn Jahre später Ausgangspunkt des Massakers werden soll, das als „Spanische Furie in die Geschichte eingehen wird. Der Stadtplan van Overbekes dokumentiert durch seine Nüchternheit besonders eindrucksvoll die Situation der Antwerpener Bevölkerung. Sie ist jetzt definitiv nicht mehr Herr ihrer Lage. Alle Hoffnung, die Konflikte der vergangenen Jahre könnten im Konsens gelöst werden, ist dahin. Die Ereignisse der Jahre 1567/68 lösen die zweite große Emigrationswelle aus. Tausende Protestanten verlassen Antwerpen, etliche ziehen nach Frankfurt am Main. Das Ziel scheint wohl gewählt, und besonders eine Vorkehrung der Neuankömmlinge weist darauf hin, dass hier langfristig geplant wird: Im Mai 1585, noch vor der endgültigen Kapitulation Antwerpens, stiftet eine Gemeinschaft exilierter Lutheraner unter dem Namen „Niederländische Gemeinde Augsburger Confession
einen Almosenkasten. Von nun an ist die Geschichte der Antwerpener Lutheraner auch die Geschichte Frankfurts.
Die Niederländische Gemeinde Augsburger Confession (NGAC) durchlief im Verlauf der Jahrhunderte eine Reihe von Wandlungen. Aus einer Flüchtlingsgemeinde wurde eine „Privatgesellschaft von evangelisch-lutherischen Glaubensgenossen (Hermann Dechent), die allerdings als obrigkeitlich anerkannte Körperschaft in den jährlich erscheinenden Ratskalendern der Freien und Reichsstadt Frankfurt am Main zum „Staat
der frühneuzeitlichen Stadtrepublik gezählt wurde. Die ehrenamtlichen Vorsteher und Diakone der Gemeinde galten somit als Inhaber öffentlicher Ämter. Der vornehmlich zur Unterstützung der eigenen Mitglieder gegründete Almosenkasten erweiterte im 20. Jahrhundert sein Förderziel über die Gemeinde hinaus und wurde schließlich in eine gemeinnützige Stiftung umgewandelt. In ihrer Verfassung aus dem Jahr 1998 verpflichtet sich die neu gegründete Stiftung NGAC zu mildtätigen und gemeinnützigen Zwecken. Mildtätig, das heißt: konkrete, wirtschaftliche Hilfe. Nach wie vor unterstützt die Stiftung Gemeindemitglieder und ihre Nachfahren in der Not. Vor allem aber soll jetzt die Förderung Menschen zugutekommen, die wegen religiöser Verfolgung ihre Heimat verlassen mussten. Verfolgung und Vertreibung aus religiösen (und fast immer auch wirtschaftlichen) Motiven ist ein Phänomen, das über die Jahrhunderte nichts an Aktualität verloren hat. Manchmal ist eine Rückkehr in die Heimat möglich, häufig bedeuten Flucht oder Vertreibung jedoch einen radikalen Bruch der Familienbiografie auf Generationen hinaus. Man befindet sich plötzlich in der Fremde – und wird selbst als „fremd wahrgenommen. Die Geschichte der NGAC belegt jedoch, wie fruchtbar eine solche Situation langfristig sein kann, für die Neuankömmlinge wie für die Stadt. Sie zeigt aber auch die Schwierigkeiten bei der Integration von Zuwanderern. Angst vor „Überfremdung
, Macht- und Wohlstandsverlust hier, Angst vor Verlust der eigenen Identität dort: Das sind Themen, die in Frankfurt im 21. Jahrhundert so aktuell sind wie im 16. Jahrhundert. Man mag heute über einen Satz von 1585 schmunzeln, in dem den niederländischen Lutheranern, die ihren Gottesdienst traditionell auf Französisch abhielten, vom Frankfurter Rat widerwillig und einmalig eine offizielle Versammlung gestattet wird, unter der Maßgabe „daß sy nit vil gesangs treiben". Ernster wird es schon, wenn man sich vor Augen führt, wie sich Angst vor Fremden als historische Konstante hält: Das Verbot, das es den reformierten Gemeinden im lutherischen Frankfurt bis 1787 untersagte, eigene Kirchen zu errichten, und der heutige Widerstand gegen den Bau von Moscheen liegen zwar über zwei Jahrhunderte auseinander, sind aber Facetten der gleichen anhaltenden Angst vor Überfremdung.
Die heutige Stiftung Niederländische Gemeinde A. C. soll laut ihrer Satzung die „durch christliche Nächstenliebe und Nothilfe geprägten Grundsätze und Grundlagen der evangelischen Glaubensflüchtlinge erhalten und weitertragen. Sie engagiert sich für Projekte, die „das kulturelle und soziale Erbe der Stadt Frankfurt bewahren
, „bürgerlich-protestantische Tradition stärken und „religiös geprägte Konflikte überwinden
. In der Rückschau lässt sich noch eine weitere Eigenschaft feststellen, die das Verhalten der frühen Frankfurter Niederländer prägte: der feste Wille, sich am Gemeinwesen zum Wohl desselben aktiv zu beteiligen. Wohlstand und Freiheit erfordern eine funktionierende Zivilgesellschaft. Notwendige Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme sind aber stets Aufklärung und Bildung. Hier setzt die gemeinnützige Arbeit der Stiftung NGAC an: Sie unterstützt karitative Arbeit und fördert Spracherwerb und Weiterbildung von „Neuankömmlingen".
Ein weiterer Satzungsauftrag ist schließlich die Gründung eines „allgemein zugänglichen Archivs. Dieses Archiv und die von ihm herausgegebene Schriftenreihe sollen „die auf den Vertriebenen der Protestanten-Verfolgung […] beruhende Kultur und Geschichte in Frankfurt
dokumentieren. Der vorliegende erste Band der Schriftenreihe beschreibt den Aufbruch der niederländischen Lutheraner gen Frankfurt. Er ist aber auch selbst ein Aufbruch. Anstelle der ursprünglich geplanten einbändigen Monografie zur Geschichte der Gemeinde ist eine Schriftenreihe getreten. Sie soll der Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte ein lebendiges Forum bieten. Wie in der karitativen Arbeit wirkt die Stiftung hier in zwei Richtungen: In der Dokumentation des Werdegangs der NGAC gibt sie den Nachfahren der aus Antwerpen Vertriebenen Hinweise auf Herkunft und Identität. Sie sucht aber auch allgemeine Relevanz, indem sie Geschichte als Verpflichtung für ein verantwortungsvolles, menschliches Handeln in der Zukunft begreift. So soll im Rahmen der Schriftenreihe zum einen die Geschichte dokumentiert, zum anderen aber auch zu zeitgenössischen sozialen und politischen Aspekten der Stiftungsarbeit Stellung genommen werden. Positionen religiösen und bürgerschaftlichen Engagements sollen beleuchtet werden, nicht zuletzt auch, um künftige Aufgaben zu finden.
Diese Schriftenreihe gäbe es vermutlich nicht ohne die Tatkraft und den Ideenreichtum von Barbara Bernoully. Die Niederländische Gemeinde A. C. schuldet ihr aus vielen Gründen ganz besonderen Dank. Als Barbara Bernoully im Jahre 2002 die Geschicke von Gemeinde und Stiftung übernahm, schien die Auflösung der traditionsreichen Gemeinschaft beinahe besiegelt. In den unmittelbar vorausgegangenen Jahren waren bereits Teile des Inventars aus dem Gemeindebestand verkauft, heute sehr gesuchte Bücher gar an Antiquare abgegeben worden. Allein Frau Bernoully mit ihrem visionären Weitblick ist es zu verdanken, dass das vorhandene Mitgliederregister wieder aktualisiert sowie Nachkommen der Familien angesprochen und motiviert wurden. Innerhalb weniger Jahre stieg dadurch die Mitgliederzahl von 85 auf derzeit fast 400 Personen. Noch wichtiger und erfreulicher war jedoch, dass die jährlich stattfindenden Gemeindeversammlungen wieder mit Gemeinschaftsleben erfüllt wurden. Für die inzwischen wieder sehr aktive Tätigkeit der Stiftung war es wesentlich, dass die Liegenschaft der NGAC im Oberweg 16 in den vergangenen Jahren konsequent saniert und modernisiert wurde und damit in Zukunft wieder einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der wachsenden Stiftungsaufgaben leisten kann.
Barbara Bernoully erkannte auch, dass eine fundierte aktuelle Gesamtdarstellung der Integration der Exulanten aus den Spanischen Niederlanden in Frankfurt am Main fehlte. Dadurch war bisher eine wissenschaftliche Einordnung der historischen Ereignisse nur unzureichend möglich. Dem Historiker Martin Jhering, dem die Gemeinde bereits zahlreiche wichtige Studien verdankt, wurde Claudia Olbrych zur Seite gestellt. Sie leistet seither wertvolle Unterstützung und war auch für die Drucklegung dieses Bandes unentbehrlich. Ein besonderer Dank gilt auch der Frankfurter Bürgerstiftung, namentlich Clemens Greve, der zusammen mit der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main und der Ernst Max von Grunelius-Stiftung die ersten Schritte dieser Publikation begleitet und gefördert hat.
Die Erfahrung der Niederländischen Gemeinde zeigt, dass es sich lohnt, wenn Gesellschaften das Neue nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung und Chance begreifen. Mit unserer Schriftenreihe hoffen wir, diese Erkenntnis weiterzutragen.
Frankfurt am Main, im September 2014
Für die Stiftung Niederländische Gemeinde A. C.
Philipp von Leonhardi und Felix Bernoully
Für den Vorstand der Niederländischen Gemeinde
A. C. Arnim Andreae und Konrad von Bethmann
Kapitel 1
Wandlungen und Aufbrüche.
Die Niederländische Gemeinde Augsburger Confession als historische Erscheinung
In Frankfurt am Main ist immer wieder und noch in jüngerer Zeit bedauert worden, dass die Stadt „mit den meisten ihrer Traditionen gebrochen" habe (Martin Mosebach).¹ Für das Beharrungsvermögen historischer Institutionen in Frankfurt sowie für die Pflege der örtlichen Überlieferung in der Bürgerschaft ist dagegen die im Jahre 1585 von Flüchtlingen aus dem heutigen Belgien gestiftete Niederländische Gemeinde Augsburger Confession (NGAC) ein weithin unbekanntes und merkwürdiges Beispiel. Die heutige Nachfahrengemeinschaft Frankfurter Bürger, die eine mildtätige und gemeinnützige Stiftung verwaltet und fördert, ist „mit keiner anderen, ähnlichen Einrichtung unserer einstmals so gebefreudigen Stadt zu vergleichen.² Ihr Name „Niederländische Gemeinde
leitet sich ab von den ehemaligen Spanischen Niederlanden, der von Wallonen und Flamen bevölkerten Herkunftsregion der Stifter. Der Namensbestandteil „Augsburger Confession" nimmt Bezug auf den lutherischen Glauben der Flüchtlinge, genauer auf das auf dem Reichstag zu Augsburg am 25. Juni 1530 von protestantischen Reichsstädten und Fürsten vor Kaiser Karl V. dargelegte Glaubensbekenntnis.
Die Niederländische Gemeinde Augsburger Confession steht exemplarisch für das Vermögen von Stiftungen, über lange Zeiträume zu wirken und Erinnerungen zu binden. Politik und gesellschaftlicher Wandel haben die Gemeinde bei aller Beharrungskraft dennoch nicht unberührt gelassen. Im Gegenteil: Entscheidungen des frühneuzeitlichen Rates der Stadt Frankfurt beschränkten in der Stiftungsphase die beabsichtigte Entfaltung zur selbständigen Kirchengemeinde. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Institution durch rationalistische Sparmaßnahmen ihres Zusammenhangs mit einem wallonisch-lutherischen, also französischsprachigen Gottesdienst beraubt, der bis dahin unter der Aufsicht des Rates existiert hatte. Die selbständige „Gemeinde blieb der Form und der Aufgabenstellung nach im Wesentlichen ein mitgliedschaftlich verfasster Almosenkasten, das heißt ein von einem festen Mitgliederstamm unterhaltener Geldfonds für Bedürftige. Im Almosen- oder Gotteskasten wurde zunächst Geld für verarmte Flüchtlinge, Landsleute und Glaubensgenossen, später für bedürftige Angehörige aus dem Kreis der Flüchtlingsfamilien und ihrer Nachfahren gesammelt. Für den Almosenkasten und den ihn tragenden Nachfahrenverband waren die neuzeitlichen Veränderungen der städtischen Rahmenbedingungen, das Aufkommen des Sozialstaats sowie gewandelte soziale Kontexte Anlass zu behutsamen Modifizierungen der Satzung und des institutionellen Gefüges. Aus einer Privatgesellschaft nach altem Frankfurter Recht, deren Mitglieder als Flüchtlingsnachkommen an einem für mildtätige Zwecke gespendeten Vermögen beteiligt waren und es durch regelmäßige Zuwendungen aufrechterhielten und mehrten, wurde eine Stiftung nach Hessischem Stiftungsgesetz. Ihr angeschlossen ist nun ein Freundes-, Traditions- und Förderkreis, die sogenannte Gemeinde. Selbst die „Augsburger Confession
wird seit jüngster Zeit von den Mitgliedern nicht mehr gefordert. Auf den ersten Blick mag es daher schwierig erscheinen, in der Institution einen über die Jahrhunderte hinweg einheitlichen Gegenstand zu erblicken.
Die leidvolle Erfahrung der oft durch eigenes Zutun noch vermehrten Verluste an Bauwerken und Traditionen in Frankfurt [Abb. Frankfurter Weißfrauenkirche zwischen 1900 und 1953] lenkt den Blick dorthin, wo nicht nur bauliche Überreste aus der Vergangenheit ehererhalten blieben, sondern auch die Bewahrung alter Institutionen ohne scharfe Brüche besser möglich war.