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Phoenix: Alte Wölfe spielen nicht
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eBook519 Seiten6 Stunden

Phoenix: Alte Wölfe spielen nicht

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Über dieses E-Book

Abgeschoben nach Rügen in eine Edelresidenz für reiche Pensionäre muss sich Thom Hansen in der Krise seines Lebens den knallharten Angriffen eines russischen Auftragskillers erwehren. Der Vater seiner Schwiegertochter will nach Thoms Tod über seine Tochter an den Inhalt seines Bankschließfaches kommen. Gleichzeitig trifft Thom nach 45 Jahren eine Freundin aus der Studienzeit wieder, die einige Überraschungen für ihn bereit hält.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum12. März 2019
ISBN9783740757663
Phoenix: Alte Wölfe spielen nicht
Autor

Udo Schmidt

Udo Schmidt schrieb mehr als zwanzig Jahre lang erfolgreiche populärwissenschaftliche Bücher. Kurz nach seiner Pensionierung begann der Oberstudienrat Kriminalromane zu schreiben. Nach den Romanen "Phönix - Alte Wölfe spielen nicht" und "Jenseits der Idylle" präsentiert der Autor seinen dritten Kriminalroman "Stadt in Angst". Der Handlungen spielen auf Rügen und in der Hansestadt Stralsund.

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    Buchvorschau

    Phoenix - Udo Schmidt

    Verlierer

    Kapitel 1 Ausgemustert

    Letzte Tage haben ihre eigenen Gesetze. Sie bewegen sich mit winzigen zähen Schritten auf ein Ereignis oder Ziel zu, das geplant und somit vorhersehbar ist. Trennung, Pensionierung, wichtige Vertragsabschlüsse, Heirat oder Scheidung sind festgelegt und kommen unausweichlich näher.

    Thom wollte an seinem letzten Tag in Hamburg noch einmal durch die Räume seiner alten Firma gehen. Ein ganzes Leben lang hatte er sie erfolgreich durch Dick und Dünn gesteuert. Er wollte Abschied nehmen, sentimental sein und Trennungsschmerz fühlen. Erinnerungen mitnehmen.

    Das Unternehmen und seine alte Villa an der Elbe gehörten seit einigen Tagen seinem Sohn. Die Notarverträge waren verhandelt und unterschrieben. Alles ging ganz schnell und geschäftsmäßig, unwirklich, atemlos, fast wie in einem Traum. Ein Vorgang, der in Familienbetrieben am Ende eines Lebenszyklus ganz normal ist und im Einzelfall trotzdem schmerzt. Man trennt sich von etwas, das einem über Jahrzehnte ans Herz gewachsen und Mittelpunkt des eigenen Lebens war. Abgeschoben wechselt man in die Bedeutungslosigkeit, Worte haben kein Gewicht mehr.

    Thoms Sohn Alfred war ihm beim Treffen in der Kanzlei noch nie so fremd erschienen. Er hatte dessen Blick gesucht, aber schon bei der Begrüßung hielt dieser die Augen gesenkt und schüttelte mit rotem Kopf stumm seine Hand. Nach der Unterzeichnung war ihm zwar die Erleichterung anzusehen, aber immer noch wich Alfred seinem Blick aus. Er hatte ein schlechtes Gewissen.

    Den Abschiedsbesuch in seiner alten Firma hatte Thom auf den frühen Samstagabend vor seiner Fahrt nach Rügen gelegt. Normalerweise befand sich außer dem Hausmeister, der ab und zu einen Kontrollgang machte, niemand in der Firmenzentrale. Er würde nicht gestört werden.

    Thom Hansen hatte sich von Olaf Wern, seinem langjährigen Fahrer, auf den kleinen Parkplatz hinter dem riesigen alten Lagerhaus fahren lassen. Das Autokennzeichen am Stellplatz Nr. 1 vor dem Haupteingang war unmittelbar nach der Vertragsunterzeichnung durch den Hausmeister entfernt worden. Stattdessen befand sich jetzt das Kennzeichen des Wagens seines Sohnes dort. Doppelt so groß und doppelt so wichtig wie sein altes. Schnell Fakten schaffen, Schlussstriche ziehen, sichtbar für Jedermann. Unumkehrbar.

    Den Generalschlüssel für alle Eingänge hatte Thom wortlos seinem Sohn Alfred in die Hand gedrückt, als sie die Kanzlei von Rechtsanwalt Wiedmann nach der Unterzeichnung der Verträge verließen. Seine Schwiegertochter Vanessa hatte Alfred dringend darum gebeten.

    Den Schlüssel für den Nebeneingang würde er beim Verlassen in den Briefkasten werfen.

    Nachdenklich ging er auf das alte, geschichtsträchtige Gebäude mit den wuchtigen Backsteinwänden zu. Bis zu seiner schweren Beschädigung durch Luftangriffe im 2. Weltkrieg diente es erst als Lager für Waren aus Übersee und dann im Krieg, als Lager für kriegswichtige Materialien.

    Erst Ende der 50er Jahre war das Gebäude von Thoms Vater mit staatlicher Förderung im alten Stil des 19. Jahrhunderts wiederaufgebaut worden. Heute war es Sitz eines erfolgreichen und leistungsfähigen Handelsunternehmens mit internationalen Geschäftsverbindungen. Fast 100 Mitarbeiter verdienten hier in Hamburg und in den Überseebüros ihren Lebensunterhalt.

    Das Licht der tiefstehenden Sonne überzog die alten Ziegel mit einem warmen Rot und wärmte auf dem kurzen Weg zum Hintereingang seinen breiten Rücken. Der Eingang bestand aus einem riesigen und massiven Holztor, durch das bis Mitte der 30er Jahre Pferdefuhrwerke einfahren konnten, um Waren vom Hafen zu bringen oder von hier abzuholen. Es stand, wie auch das gesamte Gebäude, unter Denkmalschutz. Neben dem Tor befand sich eine nüchterne Hintertür aus Panzerglas.

    Thom schloss die Glastür mit seinem Schlüssel auf und durchquerte einen schmucklosen Vorraum mit der kleinen Hausmeisterloge. Dann stieg er einige Steinstufen hinauf. Durch eine weitere Tür gelangte er in den langen Flur der Firmenverwaltung. Am Ende des Ganges befand sich seit mehr als 40 Jahren sein Büro, von dem aus er die Geschicke der Firma leitete. Es hatte nach dem Tod seiner Frau hier mehr Zeit verbracht, als in seinem Haus an der Elbe.

    Der Geruch nach Holz und Gewürzen begrüßte ihn. Tief sog Thom die Luft durch die Nase ein und schloss kurz die Augen, damit sie sich an das Dämmerlicht gewöhnten. Zum letzten Mal. Morgen würde er Hamburg und damit sein altes Leben hinter sich lassen. So wie es aussah, würde er den Rest seines Lebens auf Rügen, genauer in Sellin, verbringen. Die Wahl des Ortes hatte er seiner klugen Schwiegertochter Vanessa zu verdanken.

    Der Flur mit den Türen zu den einzelnen Büros war mit unbehandeltem Edelholz vertäfelt. Er liebte die Wärme der Farbe und oft strichen seine Fingerspitzen über die Maserung der massiven Oberfläche, wenn er zu seinem Büro ging. Das Gebäude lebte, hatte eine Seele und wurde nach Jahren seiner Arbeit eins mit ihm. Bis heute.

    Thom betrat sein Büro stets durch eine schmale, fensterlose Tür, die zu einem geräumigen Hinterzimmer führte, das nur spärlich eingerichtet war. Ein Garderobenständer stand rechts von der Tür, eine Schlafcouch, darüber ein kleiner Wandschrank und ein Tisch mit Kaffeemaschine standen an der gegenüberliegenden Wand. Rechts davon war eine mobile Trennwand mit einer Schiebetür für Toilette, Handwaschbecken und eine Duschkabine. Wenn es spät geworden war, konnte er hier schlafen, Wäsche wechseln und sich morgens frisch machen.

    Als er die Tür zu seinem Büro öffnete, sie war nicht verschlossen, sondern nur angelehnt, schaute er in den großen Arbeits- und Konferenzraum. Zuerst begriff er nicht, was er sah. Dann erstarrte er. Er registrierte nicht den großen mit warmen Sonnenlicht durchfluteten Raum, in dem ein langer Konferenztisch und Besuchersessel standen. Das riesige Ölportrait seines Vaters auf der gegenüberliegenden Wand, auf das er beim Eintreten immer zuerst schaute, trat völlig in den Hintergrund und verschwamm vor seinen Augen. Sein Blick wurde durch das Geschehen an seinem mächtigen schwarzen Schreibtisch aus Ebenholz gefesselt.

    Thom stand regungslos im Türrahmen. Bewegungsunfähig. Sprachlos. Körperlos. Er starrte in den Raum, unfähig zu begreifen, was sich vor seinen Augen abspielte.

    Langsam ergoss sich eiskaltes Wasser über Thoms Kopf und Kälte breitet sich in seinem Körper aus. Er spürte weder seine Beine noch seinen Atem. Er hielt die Luft an und wartete darauf, dass sein Herz stehen blieb. Fühlte sich so Sterben an? Hinter seinem alten Schreibtisch saß sein Sohn Alfred mit dem Rücken zu ihm in dem schwarzen Chefsessel. Neben der Tastatur seines PCs lag der geöffnete notarielle Vertrag, plus handschriftliche Notizen daneben.

    Thom konnte nur Alfreds Hinterkopf sehen, seinen Arm und seine Hand, die die Armlehne umklammerte. Gebannt hingen Thoms Augen an dem skurrilen Bild, das sich ihm bot. Sein Sohn hatte die Hosen heruntergelassen. Die Schenkel waren gespreizt, dazwischen hockte seine Schwiegertochter Vanessa mit geöffneter Bluse. Ihr Kopf glitt vor und zurück, jede Bewegung wurde durch ein lautes Hecheln aus Alfreds Mund begleitet.

    Vanessa strich die blonden Haare mit einer Handbewegung aus der Stirn und schaute auf die Armbanduhr, die Thom ihr vor einigen Monaten zur Hochzeit geschenkt hatte. Dann hob sie ihren Blick und schaute Thom an.

    Völlig unbeeindruckt bearbeitete sie schmatzend mit abgespreiztem kleinen Finger Alfreds Schwanz und taxierte Thom mit eisgrauen Augen.

    Es dauerte nur ein paar Sekunden, aber für Thom war es eine Ewigkeit, bis er seine Fassung wiederfand. Langsam trat er einen Schritt zurück und schloss geräuschlos die Tür. Dann drehte er sich um und floh in den Flur.

    Eine Flut von Gefühlen schlug über ihn zusammen, als er zum Wagen zurückeilte. Dass die Beiden Sex hatten, gleichgültig wo, war völlig normal. Das störte ihn nicht und ging ihn auch nichts an. Dass es aber unbedingt in diesem Moment an und unter seinem alten Schreibtisch passierte, war für Thom schockierend und schmerzte ihn. Einfach peinlich!

    Ganz offensichtlich hatten die beiden den notariellen Vertrag studiert. Dann hatte sie sich über Alfred hergemacht. Warum auch immer.

    Genau betrachtet war es ja nicht mehr sein Büro. Was dort passierte, war nicht mehr sein Ding. Ob es ihm gefiel oder nicht, es war Geschmackssache. Viel mehr alarmierten ihn die handschriftlichen Notizen neben dem Vertrag.

    Die Tinte seiner Unterschrift war noch nicht richtig trocken und schon beschäftigten sich die beiden mit eventuellen Änderungen. So verstand Thom die handschriftlichen Notizen neben dem Vertrag.

    Er hatte immer gewusst, dass Vanessa die dominierende Kraft bei seinem Ausscheiden war. Viel mehr als nach außen zu erkennen war. Auch wenn sie bei den Verhandlungen der Rechtsanwälte immer im Hintergrund geblieben war, sie war durch Alfred präsent. Zwangsläufig. Zum Glück, waren die Verträge wasserdicht und juristisch nicht anfechtbar. Daran würde sie sich die Zähne ausbeißen.

    Dass sie ihn aber während des Oralsexes völlig ausdruckslos, ja fast triumphierend angeschaut hatte, zeigte ihm aber, dass er für sie ein unwichtiges Etwas geworden war. Er konnte ihr nicht mehr in die Quere kommen. Dachte sie.

    Sie hat Alfred wortwörtlich bei den Eiern, ging es ihm durch den Kopf. Ihr Einfluss auf die Firma würde in Zukunft immer größer werden. Das lag auch sicherlich im Interesse ihres Vaters.

    Thom warf den Schlüssel in den Briefkasten und eilte zurück zum Wagen und stieg ein.

    »Ich muss noch ein letztes Mal in mein Haus. Jetzt sofort!«

    Sein Fahrer Olaf Wern bemerkte die roten Flecken in Thoms Gesicht und erkannte sofort, dass er sehr erregt war. Er bemerkte kurz, dass die Koffer für die Fahrt bereits im Hotel wären.

    Thom antwortet nicht sofort und schaute ausdruckslos aus dem Seitenfenster.

    »Fahr mich bitte zu meinem Haus«, wiederholte er seine Anweisung mit unterdrücktem Zorn in der Stimme, »ich muss noch ein paar wichtige Dinge abholen«.

    ***

    Das Knirschen der Reifen auf dem Kies der breiten Einfahrt zur alten Villa holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er stieg aus und bat Olaf Wern, auf ihn zuwarten. Dann holte er einen großen Trolley aus dem Kofferraum.

    Mit schnellen Schritten eilte er mit dem Trolley zur großen Eingangstür und öffnete diese. Nachdem er das Haus am Morgen verlassen hatte, waren sofort die Möbel im großen Empfangsraum mit Tüchern abgedeckt worden. Spurenbeseitigung. Thom warf einen Blick darauf und unterdrückte jede Regung. Einen weiteren Gefühlsausbruch wollte er sich nicht gestatten.

    In der Bibliothek, die gleichzeitig sein Arbeitszimmer war, setzte er sich an seinen alten Schreibtisch und schloss an der Seite eine Tür auf, die vom Boden bis zur Schreibtischoberfläche reichte. Dahinter glänzte matt die Metalloberfläche eines geräumigen Tresors. Diesen hatte er vor Jahren installieren und den alten Schreibtisch quasi um ihn herum anpassen lassen. Aus Gründen der Sicherheit war er sogar im Boden verankert.

    Die Zahl der Einbrüche war in dieser teuren Wohngegend in den letzten Jahren so stark angestiegen, dass er diese Schutzmaßnahme auf Anraten seiner Versicherung hatte durchführen lassen.

    Der Schließmechanismus des Tresors war elektronisch geregelt. Bei Stromausfall übernahm eine Batterie die Stromversorgung für die Steuerung. Erst nach Eingabe einer Zahlenkombination gab die Elektronik das Schloss für den normalen Tresorschlüssel frei.

    Thom neigte den Oberkörper zur Seite, um die Zahlenkombination einzutippen. Eine kleine rote Warnlampe blinkte rasch auf dem Display. Er stutzte. Sie hätte grün leuchten müssen, es sei denn, man hätte dreimal die falsche Zahlenkombination eingegeben.

    Verunsichert lehnte Thom sich in seinem Sessel zurück, schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Gestern noch hatte er die Tür mit der neuen aktualisierten Kombination geöffnet. Es musste jemand während seiner Abwesenheit versucht haben, den Tresor zu öffnen.

    Alfred besaß aus Sicherheitsgründen den Reserveschlüssel, mit dem der Tresor nach der richtigen Eingabe des Codes geöffnet werden konnte. Allerdings hatte Thom turnusmäßig die Zahlenkombination vor zwei Tagen geändert.

    Früher hatte er Alfred die Kombination immer mitgeteilt, für den Fall, dass ihm etwas passierte. Er hatte es in dem Trubel der letzten Tage einfach vergessen. Zum Glück! Ihm war klar, dass Alfred oder seine Frau versucht hatten, an den Inhalt des Tresors zu kommen. Wer sonst? Warum?

    Der Inhalt des Tresors war seine Lebensversicherung und durfte nicht in andere Hände fallen. Aus dem Grunde hatte er auch bei einer Filiale seiner Hamburger Bank in Stralsund zwei Schließfächer gemietet. Ein Konto hatte er bei der Bank noch nicht. Es war möglich, dass er von der Filiale auf sein Konto hier in Hamburg zugreifen konnte.

    Zorn und Enttäuschung stiegen in Thom auf. Mit so einer Schweinerei hatte er nicht gerechnet. Sein Vertrauen war missbraucht worden. Alfred allein hätte ihn niemals hintergangen, zu groß war sein Respekt vor seinem Vater. Vanessa steckte dahinter, da war sich Thom sicher, sie führte Regie und Alfred folgte ihren Anweisungen.

    Thom schnaufte tief durch, stützte seinen Kopf in seine Hände und dachte nach. Es gab keinerlei Beweise für seine Vermutung, aber er war sicher, dass sie irgendwann die Karten auf den Tisch legen würde. Er machte sich Sorgen um Alfred und die Firma. Aus langjähriger Erfahrung konnte er sich auf seinen Instinkt verlassen. Er witterte meistens Probleme, bevor diese sich ankündigten.

    Mit der Masterkombination schaltete er die Anzeige auf grün, dann gab er die aktuelle Zahlenkombination ein. Zweimal drehte er den Schlüssel im Schloss und mit einem satten Schmatzen öffnete sich die schwere Tür aus Spezialstahl.

    Nacheinander holte er die Wertsachen heraus. Goldbarren, den Schmuck seiner verstorbenen Frau, Edelsteine, seltene Goldmünzen, eine wertvolle Briefmarkensammlung und das Wichtigste: Alte Inhaberpapiere von renommierten internationalen Minengesellschaften aus den 50er Jahren.

    Diese hatte er vor fast 50 Jahren vor dem Tod seines Vaters bekommen, als klar war, dass Thom einmal die Handelsgesellschaft übernehmen würde. Sie waren inzwischen viele Millionen wert.

    Zum Schluss holte Thom noch eine in ein Tuch eingewickelte Pistole heraus, für die er einen Waffenschein besaß. Diese und eine Schachtel Munition lagen auf einem Stapel von Dokumenten und Verträgen. Alles wanderte in seinen Trolley. Die Pistole, eine Walther PP, hatte er sich zugelegt, als er vor einigen Jahren mehrfach telefonisch bedroht wurde. Seinen Konkurrenten in Südamerika gefiel es wohl nicht, dass er dort gute Geschäfte machte und ihre lukrativen Kooperationsangebote ablehnte. Nach einigen Monaten war der Spuk beendet und die Waffe fristet im Tresor ein einsames Dasein.

    Zur Sicherheit hatte er damals für seinen Fahrer Olaf Wern ebenfalls einen Waffenschein beantragt und ihn mit einer Pistole versorgt. Auf einem Schießstand waren beide im Umgang mit der Waffe ausgebildet worden.

    Bevor Thom den Raum verließ, schrieb er noch die aktuelle Zahlenkombination plus Masterkombination auf einen Klebezettel und legte den Tresorschlüssel darauf. Dann stand er auf und zog den schweren Koffer hinter sich her. Er hatte hier nichts mehr verloren, sein altes Büro war nur noch ein gewöhnlicher Raum.

    Thom war verbittert, denn seinen Abschied hatte er sich anders vorgestellt. Kein Tschüss, keine Umarmung. Ausgeschaltet. Was er in der letzten Stunde erlebt hatte, erschütterte sein Selbstvertrauen. Er war es gewohnt, mit harten Bandagen in seinem Geschäft zu kämpfen. Aber die letzten Ereignisse und sein Abgang in Hamburg machten ihn traurig und zugleich wütend. Das hatte er nicht verdient.

    Als er das Haus verließ, warf er einen Blick in den großen Spiegel neben der Garderobe. Sein Anblick gefiel ihm nicht. Er sah einen gebeugten und alten Mann mit hängenden Schultern. Thom holte tief Luft, richtete sich auf volle 1,88 auf und verabschiedete sich von seinem Spiegelbild mit einem lauten »Nein, noch lange nicht!«

    Den Haustürschlüssel warf er in den Postkasten neben der Eingangstür. Ohne einen Blick zurück ging er zum Wagen.

    Als Olaf Wern losfuhr, summte sein Smartphone. Alfred hatte ihm eine SMS geschickt.

    »Gute Fahrt und komm gut an. Wir telefonieren«.

    Thom nahm es schweigend zur Kenntnis.

    Kapitel 2 Der Rücktritt

    »Papa, du hast Mama vor ihrem Tod fest versprochen, dass ich die Firma einmal leiten werde, wenn du siebzig bist. Ich denke, dass ich das Recht habe, dich heute an dieses Versprechen zu erinnern!«

    Alfred saß vor Thoms Schreibtisch in der Bibliothek, seine Hände umklammerten die geschnitzten Armlehnen des alten, mit braunem Leder bezogenen Stuhls. Der vor Aufregung hochrote Kopf ruckte bei jedem hastig formulierten Wort nach vorn. Er schien von einem unsichtbaren Blatt abzulesen, wahrscheinlich eine Formulierung, die seine Frau Vanessa mit ihm geübt hatte. So vermutete Thom.

    Nach einigen tiefen Atemzügen lehnte sich Alfred stumm mit bebenden Nasenflügeln zurück und fixierte unsicher seinen Vater. Der saß äußerlich völlig ruhig und gelassen hinter seinem Schreibtisch. Thom schaute ihm lange in die Augen, ohne eine Regung zu zeigen.

    Wie sehr er doch seiner verstorbenen Mutter glich. Alfred hatte sanfte braune Augen in einem fein geschnittenen Gesicht. Schön, weiche Züge und nur in Ansätzen männlich, abgesehen von dem ausgeprägten Kinn, das er von seinem Vater geerbt hatte. Er sah ohne Zweifel blendend aus. Alfred hatte sich Stiefel im Westernstil angezogen und trug teure Jeans mit einem passenden farbig bestickten Jackett. Er wirkte lässig. Die Kleidung passte allerdings überhaupt nicht zu dem heutigen Anlass, zu seiner Geburtstagsfeier.

    Thom drehte seinen Kopf und schaute Vanessa an. Sie stand im Halbdunklen ein wenig abseits hinter Alfred und lehnte mit der Schulter an der mit Holz vertäfelten Wand.

    Sie schien unbeteiligt zu sein und beobachtete ohne erkennbare Regung den Gefühlsausbruch ihres Mannes. Thom vermutete, dass sie hinter dieser unglücklichen Vorstellung steckte. Alfred war viel zu zurückhaltend und würde an so einem Tag in dieser Weise niemals seinen Vater angehen.

    Thom lehnte sich zurück und blies die Wangen auf. Dann atmete er mit einem lauten Zischen aus. So erregt hatte er Alfred in den letzten Jahren niemals erlebt. Ihm war klar, dass dieser Auftritt in Gegenwart seiner Frau Stärke demonstrieren sollte. Das ging allerdings voll daneben. Er hatte die Hosen voll. Unübersehbar.

    Das kontrollierte Auftreten Vanessas signalisierte Thom, dass diese einen großen Einfluss auf den Verlauf dieser Unterhaltung hatte. Alfred hing wie eine Marionette an ihren Strippen.

    Sein überfallartig vorgetragener Wunsch war nicht unbegründet. Thom hatte seiner Frau während ihrer schweren Krankheit kurz vor ihrem Tod versprochen, dass er sich um die berufliche Entwicklung seines Sohnes kümmern und seine Hand über ihn halten würde. Nach seinem 70. Geburtstag wollte er sich dann aus dem Geschäft zurückziehen. Da war er sechzig und zehn Jahre waren eine lange Zeit.

    Thom hatte sich sehr um die Entwicklung seines Sohnes gekümmert, wobei er mehr ein Ausbilder und Kontrolleur war, als ein Vater. Der persönliche Kontakt blieb immer distanziert. Das lag aber an beiden. Thom zeigte selten nach außen Regungen und Alfred war permanent durch die Dominanz seines Vaters eingeschüchtert.

    Ein Hauptgrund für diese Distanz war Thoms volle Konzentration auf seinen Job als Firmenleiter. Zuerst kam das Unternehmen und dessen Erfolg, dann kam das Privatleben. Letzteres kam natürlich immer zu kurz. Das Resultat dieser einseitigen Ausrichtung seines Lebens war eine innere Verarmung oder Isolation, die ihn daran hinderte, Alfred zu zeigen, wie sehr er ihn liebte.

    Nach der Ausbildung und dem BWL-Studium, das sein Sohn mit hervorragenden Noten abschloss, hatte er ihn in die Staaten geschickt. Dort sollte er Erfahrungen im Import-Exportgeschäft sammeln und lernen, selbständig und verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen. Heute erfüllte Alfred mit 36 Jahren formal alle Voraussetzungen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen.

    Alfreds Aufgaben in Thoms Firma waren überschaubar, es gab wenig auszusetzen. Er mache sich in allen Abteilungen gut und lernte sehr schnell, so berichtet man ihm, aber es fehle ihm ein wenig an Härte in kritischen Verhandlungen. Nun, das würde er halt noch lernen müssen.

    Was Thom an dieser Unterhaltung jedoch immens störte, war, dass sie am Abend seines 70. Geburtstages erzwungen wurde. Alfred oder besser Vanessa hatten es eilig und versuchten, ihn in einen Hinterhalt zu locken, um ihn dann zu überrumpeln. Er hatte aus Höflichkeit mit den Gästen Alkohol getrunken, war somit nicht ganz so kritisch wie sonst. Die allgemeine Stimmung war aufgelockert.

    Der Zeitpunkt, ihn zu beeindrucken und unter Druck zu setzen, war somit geschickt gewählt. Vanessas Anwesenheit sollte Alfred mehr Rückhalt geben und helfen, Thom von Anfang durch ihre Überzahl in die Defensive zu drängen.

    Vanessa hatte bei diesem Gespräch jedoch nichts verloren. Es ging einerseits nur um Alfred und ihn als Vater und andererseits um die Firma. Thom kannte ihren familiären Hintergrund und war nie das Gefühl losgeworden, dass Geld eine sehr große Bedeutung bei ihrer Rolle als Ehefrau spielte. Thom wäre es nie im Traum eingefallen, Kontakte mit ihrer Familie zu pflegen.

    Thom hasste Zwei-zu-Eins-Situationen. Selbst bei geschäftlichen Verhandlungen hatte er immer vermieden, zahlenmäßig unterlegen zu sein.

    Regungslos schaute er die beiden weiter an, um in dieser Pause Spannung aufzubauen. Das war ein erlerntes Verhalten aus vielen geschäftlichen Meetings und Verhandlungen. Zusätzlich versuchte er, eine Regung bei Vanessa zu entdecken. Fehlanzeige. Scheinbar gleichgültig schaute sie langsam hin und her und fixierte ihn und Alfred. Sie war Herrin ihrer Gefühle und damit auch der Lage.

    Thom betrachtete Vanessa seit ihrem ersten Aufeinandertreffen mit Misstrauen. Er hatte nie auf ihre weiblichen Reize reagiert, ja er ignorierte diese ganz bewusst. Sie wusste genau, dass er versuchte, sie zu durchschauen. Trotz ihrer Zurückhaltung spürte Thom, dass sie sich als Gegner in Position brachte. Das störte ihn, machte ihn nervös. Geburtstage waren verhasste Tage, ganz besonders, wenn es sein eigener war. Solche Tage waren gespickt mit überschwänglichen Worthülsen, salbungsvolle Reden, Schmeicheleien und Lügen. Dunkler Nadelstreifen, durchgedrückte Knie und gerader Rücken, Manschetten korrekt zwei Zentimeter über den Ärmel des Jacketts hinausgezogen, prickelnder Champagner im Kristallkelch mit Goldrand.

    Ab zehn Uhr morgens begann das Defilee der Hamburger Prominenz. Er hatte die Liste der Gäste durch seine Sekretärin aufstellen lassen, obwohl Vanessa sich angeboten hatte, dieses für ihn zu erledigen. Thom lehnte das ab, da nur er wusste, wer wirklich wichtig war und wer nicht. Somit bestand auch keine Gefahr, dass Vanessas Vater auftauchen würde. Das hätte noch gefehlt, dass dieser korrupte und unbeliebte Geschäftsmann seine Feier aufgemischt hätte.

    Es fiel ihm schwer, beim Smalltalk irgendwelchen Gästen zuzuhören und ein permanentes Grinsen in sein Gesicht zu meißeln. Die Lobreden auf ihn und seine Firma waren nur peinlich für ihn. Im Grunde wussten die Leute kaum etwas von ihm. Das Prozedere eines solchen Events entsprach in keiner Weise seinem hanseatischen Naturell, das eher nüchtern und geradesaus war. Ein Pils und mit einem Aquavit oder ein guter Cognac waren ihm lieber als Champagner. Die wenigen Gäste, die ihm etwas bedeuteten, verabschiedeten sich relativ früh. Sie fühlten sich bei dem Theater nicht wohl.

    Er war erleichtert, als sich die letzten Besucher am frühen Abend lautstark mit den Worten verabschiedeten, dass man sich unbedingt in nächster Zeit mal wiedersehen müsse. Gesagt und vergessen. Unverbindlich. Lange hätte er die Lobhudelei um seine Person nicht mehr ausgehalten.

    »Lass uns noch ein Glas zusammen trinken, bevor wir gehen«, schlug Alfred vor und legte seinen Arm freundschaftlich um Thoms Hüfte.

    Er war fast einen Kopf kleiner als sein Vater und glich auch in seiner schlanken, ja drahtigen und sportlichen Gestalt seiner verstorbenen Mutter.

    Thom dagegen besaß eine respekteinflößende wuchtige Gestalt mit breiten Schultern. Das häufige Training im Fitnessraum seines Hauses hielt seinen Körper fit. Wer ihm ins Gesicht schaute, mochte nicht glauben, dass er schon siebzig war. Graues, fast weißes volles Haar und scharf geschnittene Gesichtszüge mit kritischen blauen Augen und ein markantes Kinn zeugten von einem starken Willen.

    Zusammen mit Vanessa, die einen Schritt hinter ihnen blieb, gingen sie in seine Bibliothek. Thom war schon seit einigen Stunden nicht entgangen, dass Alfred nervös war und ständig mit seiner Frau leise diskutierte. Er hatte etwas auf dem Herzen. Beide tranken nur Wasser und der ausgestreckte Zeigefinger von Vanessa, wenn sie mit Alfred flüsterte, zeigte ihm, dass etwas im Busch war.

    Thom holte drei Gläser aus der kleinen Bar in seiner Bibliothek, in der auch der große Schreibtisch stand.

    »Für mich keinen Alkohol, nur etwas Soda bitte«, sagte Vanessa und blieb im Hintergrund stehen.

    Thom musste zugeben, sie sah verdammt gut aus. Schlank, sportlich und sehr weiblich, etwas größer als Alfred, naturblond und wie immer dezent geschminkt. In dem festlichen Kleid sah sie einfach umwerfend aus, ganz im Gegenteil zu Alfred. Nur ihre Augen gefielen ihm nicht. Sie waren schmal und grau wie Eis. Sie hatten etwas Lauerndes. Seine lange Erfahrung im Umgang mit Menschen sagte ihm, dass sie hinter der Fassade etwas zu verbergen hatte. Nur was?

    »Du trinkst sicher einen Cognac mit mir«, sagte Thom und blickte freundlich über seine Schulter zu seinem Sohn, der sich in den alten mit Leder bezogenen Stuhl vor dem Schreibtisch setzte.

    Thom füllte die Gläser, ohne auf eine Antwort zu warten und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Er hob sein Glas und hielt seine Nase daran, um das Aroma des Cognacs zu genießen. Dann trank er einen Schluck. Alfred nahm den Schwenker zwar in die Hand, trank aber noch nichts.

    Thom schaute beide auffordernd an.

    »Dann rück mal raus, was du auf dem Herzen hast, Alfred.«

    Ganz bewusst sprach er nur Alfred an.

    Vanessa schwieg und betrachtete betont gleichgültig die Gemälde, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. Sie hatte sehr wohl bemerkt, dass Thom nur seinen Sohn angesprochen hatte. An den weißen Knöcheln ihrer Hand, mit der sie das Wasserglas umklammerte, erkannte Thom, dass ihre Ruhe nur gespielt war und sie sich zusammenriss.

    Alfred räusperte sich und nippte am Cognac, um Zeit zu gewinnen. Dann ließ er die Katze aus dem Sack.

    Nach den ersten emotionalen Sätzen ging Alfred ins Detail.

    Er hätte jetzt lange genug innerhalb und außerhalb der Firma Erfahrungen gesammelt und gezeigt, dass er auch Führungsqualitäten besäße. Daher sei er in der Lage, die Firma allein und verantwortlich zu leiten. Mit Mitte dreißig müsste er langsam wissen, wie es denn in seinem Leben weitergehen würde. Außerdem stünde Thom ja im Wort bei seiner Mutter.

    Thom lehnte sich zurück. Er schaute auf das Glas in seiner Hand und schwenkte es leicht. Dann hob er es wiederum an seine Nase, schloss die Augen, sog den Duft des alten Cognacs ein. Er suchte eine Antwort. Dabei ließ er sich Zeit, viel Zeit. Wie immer in schwierigen Gesprächen.

    »Ganz normal, alles ganz normal«, sagte er sich.

    In seinem Alter gab man eben das Steuerrad ab. Er sollte froh sein, dass er einen Nachfolger aus der Familie hatte. Immer wieder hatte er sich das gesagt, aber nie war er überzeugt davon. Er konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen loszulassen.

    Thom richtete sich ein wenig auf, stellte das Glas zur Seite und legte beide Hände auf den Schreibtisch. So leicht wollte er es den beiden nicht machen.

    »Wie du siehst, bin ich noch fit und habe keine Probleme, die Firma mit fast 100 Mitarbeitern weiter zu führen«, erwiderte er leise. »Außerdem bin ich noch 365 Tage siebzig.«

    Thom lehnte sich wieder zurück und gab sich entspannt.

    »Warum hast du es so eilig?«

    Er ließ sich nicht anmerken, dass er bis in die Haarspitzen angespannt und verärgert war. Ihn an seinem Geburtstag so in die Zange zunehmen, fand er stillos und unerzogen. Thom wunderte sich über seine eigene Gelassenheit.

    Vanessa räusperte sich, schaute ihren Mann an und zog eine Augenbraue hoch. Sie setzte ihn unter Druck.

    Alfred schrumpfte förmlich in seinem Stuhl zusammen.

    Thom war klar, dass dieses Gespräch geprobt worden war und er jetzt die letzte Trumpfkarte wieder ausspielen musste. Das Versprechen, das er seiner Frau vor zehn Jahren gegeben hatte, bevor sie starb. Alfred wusste ganz genau, dass Thom immer sein Wort hielt.

    Mit einem großen Schluck trank Thom das Glas aus. Er war es leid und enttäuscht. Ob heute oder morgen, er würde ständig mit diesem Versprechen konfrontiert werden.

    »Es stimmt«, setzte er das Gespräch fort, »ich versprach deiner Mutter, dich in die Firma einzubauen, damit du sie mal alleine führst. Ich will dir nicht im Wege stehen, wenn die Zeit für einen Wechsel reif ist. Wie hast du dir das Ganze vorgestellt? An welchen zeitlichen Rahmen hast du gedacht?« Thom sah aus dem Augenwinkel, dass sich Vanessa entspannt wieder an die Wand lehnte. Sie war sich sicher, dass sie gewonnen hatte.

    »Notar Bernstein könnte die Übergabe in drei Monaten durchziehen«, entgegnete Alfred eifrig, wobei er seine Zufriedenheit über diese unerwartete Wendung kaum unterdrücken konnte.

    »Ich habe ihn gestern angerufen und ganz allgemein gefragt, wie so eine Nachfolgeregelung über die Bühne gehen würde.« Thom wandte sich an Vanessa.

    »So so, eure Planung ist also schon fast fertig. Ist Bernstein nicht der Rechtsanwalt deines Vaters?«, fragte er beiläufig, wobei sich sein Puls vor Wut wieder beschleunigte.

    »In der Tat, er vertritt auch die Interessen meines Vaters. Aber wenn du einen anderen Notar möchtest, ist das für Alfred auch okay«, fügte sie rasch hinzu.

    »Aha«, Thoms Stimme gewann an Schärfe.

    »Alfred wäre damit einverstanden, das ist ja beruhigend.«

    Der Sarkasmus in Thoms Antwort war nicht zu überhören. Er erhob sich aus seinem Stuhl und ging zur Bar, um sich noch einen weiteren Cognac einzugießen.

    »Ich will euch beiden etwas sagen und das nur einmal, hier und jetzt.«

    Thoms Stimme wurde schärfer. Er ging mit dem Glas in der Hand zum Schreibtisch zurück, lehnte sich an die Arbeitsfläche und schaute auf Alfred herab.

    »Dass ihr an so einem Tag mit so einem wichtigen Ansinnen an mich herantretet, ist eine Unverschämtheit. Ich weiß nicht, warum du deine guten Manieren so sehr vergisst und versuchst, deinen Vater in dieser Weise an seinem Geburtstag und nach der anstrengenden Feier vor den Kopf zu stoßen. Du weißt genau, wie sehr mir das Wohl der Firma am Herzen liegt. Du weißt auch, was ich über Jahrzehnte für sie und damit auch für dich getan habe. Und da kommt ihr beide hier hereingeschneit auf einen letzten Absacker und überfallt mich mit so einem elementaren Anliegen? Ich gehe mal davon aus, dass der Zeitpunkt und deine Forderungen nicht auf deinem Mist gewachsen sind.«

    Mit einem Seitenblick schaute er kurz Vanessa an, die mit einem trotzigen Gesichtsausdruck angespannt das Gemälde von Thoms Vater anstarrte.

    Thom richtete sich auf und ging zurück zu seinem Platz und setzte sich.

    »Vater entschuldige, mir war nicht bewusst, dass es dich so treffen würde, wenn ich dieses Anliegen heute vorbringen würde.«

    Alfred vermied, von »wir« zu sprechen, da Thom dann sofort einen Komplott wittern würde.

    »Wenn es dir lieber ist, sprechen wir morgen im Büro über dieses Thema. Aber vergiss nicht, dass du meiner Mutter das Versprechen gegeben hast, mir die Leitung zu übertragen.«

    Alfreds Stimme schwankte zwischen Trotz und Unsicherheit. Thom musterte Alfred einen Moment.

    »Lass bitte deine verstorbene Mutter aus dem Spiel. Das nutzt sich langsam ab und hat keine Wirkung auf mich. Aber ich stehe zu meinem Wort. Kommt morgen früh in mein Büro, dort besprechen wir grob, wie es weitergehen soll. Dann kannst du Bernstein aktivieren und ich meine Rechtsanwälte. Die können dann alles erledigen, ohne dass es zu Konflikten zwischen uns kommt. Vanessa kann dabei sein, sie erfährt doch sowieso, was wir besprechen!«

    Thom stand auf und begleitete beide zur Haustür. Dort gab er Vanessa die Hand, die vor Aufregung kalt und feucht war. Er schaute mit eisigem Gesichtsausdruck an ihr vorbei. Dann drehte er sich zu Alfred um und nahm ihn in den Arm. Dieser zitterte unmerklich am ganzen Körper.

    »Hör auf deine Instinkte, Junge«, flüsterte er leise, »sei klug, stark, aber auch misstrauisch. Verlass dich auf deinen Verstand!«

    Alfred merkte deutlich, dass die Unterhaltung mit seinem Vater nicht so verlaufen war, wie er es geplant hatte. Vanessa hatte seine Unsicherheit ausgenutzt und ihn manipuliert. Er schämte sich für sein lächerliches und plumpes Auftreten und für seine offensichtliche Schwäche gegenüber seinem Vater. Als er sich umdrehte und zur Tür hinausging, ergriff Vanessa seine Hand.

    »Was hat er zu dir gesagt…?«

    Thom beobachtete die beiden, bis sie hinter der großen Eingangstür verschwunden waren. Mit einem lauten » verdammte Scheiße«, drehte er sich um und ging langsam zurück in seine Bibliothek.

    Vor einer Stunde war der Vorraum voller Gäste gewesen. Stimmengewirr und das Klingen von Gläsern hing noch in der Luft.

    Der Geruch von Vanessas Parfüm stieg in seine Nase, als er auf die kleine Bar neben dem Schreibtisch zusteuerte. Er goss das Glas noch einmal halb voll und nahm einen großen Schluck. Dann setzte er sich und fiel förmlich in sich zusammen.

    Er starrte auf seine großen Hände, die das Glas umklammerten. Die Drinks begannen zu wirken, seine Nerven beruhigten sich und er fühlte sich wie in Watte gepackt. Was war eigentlich passiert, dass er so aufgeregt und betroffen war?

    Thom wunderte sich, wie spontan er den Forderungen seines Sohnes nachgekommen war. Wie ein beleidigtes Kind? Warum hatte er keinen Widerstand geleistet? Hatte er ein schlechtes Gewissen als Vater? War er so sehr an sein Versprechen gebunden? Wahrscheinlich war die Zeit wirklich reif für einen Wechsel.

    Egal, die Würfel waren jetzt gefallen, seine Entscheidung stand fest. Irgendwann wäre diese Situation sowieso auf ihn zugekommen. Warum nicht jetzt!

    ***

    Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal hinter diesem Schreibtisch gesessen hatte. Sein Vater war gestorben und er musste sein Studium an der Kieler Universität abbrechen, um das Geschäft weiter zu führen. Die Universität und seine Kontakte in Kiel wurden von den Ereignissen damals zugeschüttet.

    Seine Mutter hatte ihm die erste Zeit in der Firma zur Seite gestanden. Sie verstand sehr viel vom Geschäft, hatte dieses aber nie gegenüber ihrem Mann durchblicken lassen. Ohne sie wäre alles viel schlechter gelaufen. Sie warnte ihn, wenn er falsche Entscheidungen treffen wollte und spornte ihn an, wenn er zauderte.

    Das Leben als Student in Kiel war bis zu dieser Zäsur sorgenfrei gewesen. Es bestand aus Vorlesungen, Klausuren, Sport, Segeln und Kneipen. Alles ganz normal, nichts Ungewöhnliches.

    Thom hatte eine hübsche Kommilitonin kennengelernt und sich in sie verliebt. Sie war fast im gleichen Alter wie er und war die erste Frau, mit der er Sex hatte. Ulrike, so hieß sie, war eine ernsthafte und trotzdem sehr humorige Frau, die Thoms vom ersten Moment des Kennenlernens beeindruckt hatte. So hatte er sich die Frau fürs Leben vorgestellt. Bereits nach kurzer Zeit planten sie, eine Wohnung zusammen zu beziehen. Es war klar, dass sie niemals auseinandergehen würden. Alles passte und beide waren total glücklich mit ihrem Leben. Die Nachricht vom plötzliche Tod seines Vaters beendete die Sorglosigkeit ihrer Beziehung.

    Er informierte Ulrike kurz, dass er dringend nach Hamburg müsse, und verließ Kiel. In den folgenden Wochen hatte er in Hamburg alle Hände voll zu tun, Rechtsanwälte, Notar und Steuerberater

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