Revolverfressen
Von Thomas Herget
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Über dieses E-Book
Thomas Herget hat mit "Revolverfressen" ein Monster geschaffen, einen Monolog, der als vielstimmig-fröstelndes Kammerspiel die mannigfach-düsteren Zeitebenen durchschreitet, auf denen die irregeleitete Hauptfigur in selbstsezierender Weise die Dekadenz des Kulturbetriebs und der in ihm Handelnden ad absurdum führt. Perelman geriert sich in diesem Theater im Theater nur vordergründig als ein von Katharsis durchdrungener Weltenretter, nachdrücklicher wütet er als inkarnierter Schlächter seiner selbst. Bevor in diesem Traumspiel der letzte Vorhang gefallen ist, schält sich hinter der Maske des genialen Berserkers langsam die kranke Seele eines gebrochenen Schauspielers heraus, der den letzten Akt als Rachefeldzug für eine apodiktische Privatvorstellung nutzt.
Thomas Herget
Thomas Herget wurde 1964 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Kunststofftechnik und Maschinenbau in Darmstadt, schrieb daneben als Autor für Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. Nach Förderpreisen und Stipendien in den Achtziger- und Neunzigerjahren wandte er sich zunächst vom Literaturbetrieb ab. Als Publizist lieferte er Beiträge in den Ressorts Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft für taz, Frankfurter Rundschau und verschiedene Stadtmagazine, schrieb Filmrezensionen, etwa für die Passauer Neue Presse und Junge Welt. Weiterhin zeichnet Herget als Kulturredakteur bei einem Magazin verantwortlich und schreibt für Hörfunk und Theater. Er lebt in der Nähe von Kiel.
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Revolverfressen - Thomas Herget
Revolverfressen. Der weltberühmte Mathematiker Grigori Perelman und sein geistiger Förderer Sergej haben das Stadttheater unter ihre Kontrolle gebracht. Während Sergej die Zuschauer in der Oper mit sadistischen Folterspielen verhöhnt, setzt Perelman im Schauspiel auf einen bombensicheren und zynischen Schlussakt: Im Zuge der Selbstauslöschung soll am Ende der ganze Kulturtempel mitsamt dem Publikum in Schutt und Asche versinken. In der absurd wirkenden Kulisse von Zweigs „Schachnovelle" bricht sich der antisemitische und rassistische Furor Bahn. Perelmans Schweigen entlädt sich nach Jahren der Demütigungen in einer rastlosen Beichte, die sich dem Zuschauer wie eine Schlinge um den Hals legt. Bobby Fisher, Bob Dylan, Margot Honecker, ein Mann ohne Gesicht, eine aufblasbare Erotikpuppe und letztlich Gott selbst sind nur einige der Figuren, die jetzt aus und mit diesem geschundenen Erzählkörper korrespondieren und Perelman an der Rampe wüten lassen.
Thomas Hergets packendes Beinahe-Monodrama kennt kein gutes Ende. Perelmans Sehnsucht nach Anschluss in einer von allen guten Geistern verlassenen Welt lässt zwischenzeitlich sogar den aberwitzigen Akt eines Terroranschlags als humanen und inkarnierten Teil einer Selbstreinigung erscheinen, in deren Verlauf sich der gebrochene Protagonist zu einem Erlöser aufschwingt. Aber ist dieser Kenner der Weltformel tatsächlich jenes Rechengenie, für das er sich ausgibt? Oder spricht aus all den aufgesetzten Posen nur ein desillusionierter Staatsschauspieler, der den letzten Vorhang zu einer blutigen Privatvorstellung nutzt, um es noch einmal richtig krachen zu lassen?
„Revolverfressen" ist ein Monster aus schrillen Kopfstimmen, deutschen Schlagern und übersinnlichen Begegnungen. Aber auch das zarte Porträt eines Mannes, der sich von einem zunehmend seichter werdenden Kulturbetrieb missbraucht und ausgekotzt fühlt und nun als beschädigter Racheengel im Rampenlicht berserkert. Unverdaulich und doppelbödig bleibt dieses Theater im Theater nach allen Richtungen, eindeutig ist es nur in seiner Wirkkraft. Denn keiner, der das Stück gelesen oder gesehen hat, wird je wieder verächtlich über die Wissenschaft reden oder achtlos auf Schauspieler blicken.
Thomas Herget wurde 1964 in Frankfurt am Main geboren. Neben seinem Studium in Darmstadt schrieb er bereits als Autor für Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. Es folgten literarische Förderpreise und Stipendien in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Danach war er vorwiegend journalistisch tätig, publizierte in den Bereichen Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft unter anderem für taz, Frankfurter Rundschau und diverse Magazine. Außerdem veröffentlichte er Film- und Theaterrezensionen, etwa für die Passauer Neue Presse und Junge Welt.
„Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt"
Hermann Hesse
Inhalt
Revolverfressen
Synopsis
Nachwort des Autors
Revolverfressen
Personen
GRIGORI PERELMAN
MANN OHNE GESICHT (stumm, eine Vision)
Diverse Stimmen, Geräusche und Musik. Das Stück
spielt in einem Theater. Bis auf eine Ansage aus dem Off, ist es nur Perelman, der spricht.
Um Details besser abzubilden, zu akzentuieren oder zu verfremden, sollten Teile der Inszenierung als Live-Projektion
auf Monitoren oder Leinwänden gezeigt werden. Stationäre Kameras. Alternativ oder ergänzend
dazu verwackelte Handkamerabilder, im Stil einer sehr freien Dokumentation.
Werkstattbühne in einem Theater. Zu hören ist das musikalische Fragment „Ferdinand VIII aus Alfred Schnittkes Ballettzyklus „Sketches
. In der Kulisse von Stefan Zweigs „Schachnovelle zeichnet sich das Oberdeck eines Passagierdampfers ab, maritime Dekoration mit Rettungsringen, Tauen und allerlei Kreuzfahrtfolklore. Ein Schachspiel mit Riesenfiguren, wie es gerne von Rentnern in Parkanlagen bespielt wird. Eine Kinderschaukel. Ringsum sind Kameras auf Stativen auf die Szenerie ausgerichtet. Mit den letzten Textfetzen der Musik, die Gogols Geschichte „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen
in Ausschnitten wiedergibt, schält sich ganz bedächtig Grigori Perelman unter der eingefallenen Ballonseide eines Fallschirms heraus, ein abgerissener Typ von fünfzig in einem öligen Fliegeroverall. In der einen Hand hält er einen Apfel, in den er beißt, in der anderen einen Schundroman, in dem er liest.
… Sie geben ihren Kindern jetzt jüdische Namen, sagt Sergej. Er blickt auf. Nicht Hans oder Ingrid, nein Grigori, Elias, Hortensia und Joshua nennen sie die Brut. Die siegfriedblonde. Auf den Straßen wimmelt es nur von sabbernd-plärrenden Wiedergutmachungsversuchen. Ein Opa bei der SS, an dem man sich moralisch abarbeiten kann, gehört bereits zum Identitätsgerüst aller Bußfertigen. Was ist mit dir, Grigori, fragt mich Sergej, gibt dein Stammbaum nichts her? Ariernachweise? Ein deutscher Schäferhund? Opa fiel bei Brjansk, sag ich in fliegender Hast. Herbst Einundvierzig. Ganz schlecht, sagt Sergej. Ein jüdischer Großvater, und dann hat der es noch nicht mal bis Stalingrad geschafft, sondern nur bis in dieses Schlammloch vor Moskau. Er ist gefallen, sag ich, er ist gestorben für das russische Volk, für dich und für mich. Einer von Dreißigmillionen. Aber erfroren ist er beileibe nicht, wirft Sergej ein, erfroren im vaterländischen Krieg, im ruhmreichen Bewusstsein, die sechste Armee in die Kanalisation von Stalingrad gescheucht zu haben. Ich will dich nicht diskreditieren, Grigori, noch zweifle ich an deinem guten Willen. Aber mir scheint, dir fehlt es an Überzeugung, was wohl in der Familie liegt, sonst wäre der Opa vermutlich kaum mit seinem besoffenen Kopf in diese Pfütze gefallen. Die falschen Gene können einen richtig übel mitspielen, mein Freund, vielleicht hast du davon gehört, Grigori? Wenigstens sind dem alten Judd Stalins Häscher erspart geblieben, die dunklen Folterkeller, so durch den Wind, wie der war, hätte der doch bei der erstbesten Gelegenheit gesungen wie ein Vögelchen …
Er legt den Groschenroman zur Seite, robbt nach vorne.
... Die Physik begann mich zu faszinieren. Weniger die Mathematik, die wurde Brotberuf, na schön. Zum ersten Mal aber setzte die Physik meinem nebulösen Denken konkrete Grenzen. Zum ersten Mal ahnte ich, was exakte Begriffe bedeuten, nicht eine Wahrheit, die es nur dank der Vernunft gibt, von ihr kunstvoll und listenreich erstellt, eine menschliche Wahrheit, als solche gewiss unendlich anspruchsloser als die göttliche Wahrheit, aber dafür unendlich gewisser, weil sie nachprüfbar und widerlegbar