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Martinus · Die Reise zum Kaiser: Eine historische Erzählung
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eBook367 Seiten4 Stunden

Martinus · Die Reise zum Kaiser: Eine historische Erzählung

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Über dieses E-Book

Legendär ist das Leben des Martinus, des Sankt Martin, erzählt. Um seine Gestalt legen sich Geschichten wie ein heiliger Mantel. Wunder über Wunder hätten sich durch ihn ereignet … Im siebzigsten Jahr seines Lebens ergeht am zweiten Märztag des Jahres 386 der Ruf an Martinus, sich aus seiner Zelle bei Tours am Fluss Loire aufzumachen, um sich in die glanzvolle Mitte eitler Macht nach Trier zu begeben. Kaiser Magnus Maximus beordert den widerständigen Geistlichen in die Kaiserstadt. Schon einmal war der im gallorömischen Landvolk Verehrte auf Wegen in die Kaisermetropole unterwegs. Im Jahr zuvor hatte sich die Fratze der römischen Macht gegen Bischof Priscillian erhoben. Zum ersten Mal erlitt ein Mensch im Schulterschluss von Thron und Altar den Schwerttod. Martinus erfuhr nach seiner Abreise von der Hinrichtung des asketischen Spaniers, obwohl man mit dem ihm verhassten Usurpator anderes vereinbart hatte. Noch immer brennt die Flamme der Empörung in seiner Seele mit unerträglicher Schmerzwut. An diesen Ort der Schande und des Frevels, schwor er sich, niemals wieder einen Fuß zu setzen. Doch der Kaiser im Westen des römischen Weltreichs fordert den gekränkten Bischof in der römischen Provinz Lugdunensis tertia zur Audienz. Eine Ordnungsmacht wie die der "pax romana" kann vieles erzwingen ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Apr. 2018
ISBN9783842283800
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    Buchvorschau

    Martinus · Die Reise zum Kaiser - Heinrich Winter

    innewohnt.

    iMachtvolle Ruhestörung

    In Gedanken schweift sein Blick auf den noch winterlichen Fluss. Dieses Wasser birgt seine Schönheit in der Gefährlichkeit. Wenn die Loire mit ungeheuerer Wucht dahinschießt, die Aufschüttungen ihrer Mergelinseln und flachen Ufer nicht mehr kennen will, dann ist da kein Halten mehr. Martinus’ Gedanken fließen mit, halten sich nicht mehr an das Gleichmaß, um das ihm so sehr gelegen ist. Überhaupt, er spürt wie gefährlich es ist, jetzt auf das Tosen und Wüten dort unten im Tal seine Blicke zu wenden. Könnte ihn doch alle Sanftmut verlassen und das Wüten dieser Welt ihm selbst ein Tosen und Aufwallen an Zorn entfachen. Rand- und bandlos sein, nein so mag er sich nicht. Und doch, er weiß es längst, auch das gehört zu ihm, dieser Anteil an kraftvoller Gestaltungswut und an Veränderungswillen. Der Fluss wütet so. Wenn die Schmelze aus den unbekannten Berghöhen sein Element speist, wenn das Licht alle eisige Erstarrtheit in Fließendes wandelt, dann ergießt sich diese angestaute Fülle ungeordnet, zerstörungsbereit und baut Neues auf. Es ist auch in ihm so. Er muss es sich eingestehen. Aber immer noch weiß er nicht, wie er sich im Urteil des Wortes spiegeln sollte, das ihm seit seiner Taufe zur Norm und Richtschnur wurde. Etwa im Urteil eines solchen Wortes, dass die Sanftmut die Erde besitze. Wenn sich Gewaltiges in ihm auftut, dann strömt es mit ohnmächtiger Übermacht auch in ihm. Dann will er alles mitreißen, niederreißen, auch sich in allem neu schaffen. Unverwandt hält das Schauspiel der Natur seine Blicke in Bann, versenkt seine Gedanken in die schöne, Gefahr bringende Flut. Er hält inne. Weckt dieser Blick nicht die Kraft, die allem Leben gegeben ist? Ist dieses Tosen und Schäumen nicht immer da? Wenn er sich an lichten Sommertagen an den Sandbildern im trägen Fließwasser über die unendlichen Einfälle der Natur erfreut, die Lieblichkeit ihrer ungeordneten Formen schon so oft genossen hat, wie leicht ist vergessen, dass diese Formen Zeugen von gewaltigen Kräften sind. Gräser und Buschwerk suchen sich dort einen Ort, auch die Vogelwelt für ihre Brut den Schutz, als gäbe es keine Gefahr, kein Wegschwemmen, keine Zerstörung.

    Martinus schaut nach dem kleinen Buch, das ihm seit frühester Jugend Anhalt ist, seine aufwallenden Leidenschaften zu zähmen. Seit dem großen Konzil im fernen Osten vor fünf Jahren gehört es zu den verbotenen Schriften. Sollte er die Funken löschen, die ihm diese aufrichtigen Worte einst entzündet haben, nur weil sie jetzt auf einer schwarzen Liste der römischen Präfektur stehen? Bitterkeit steigt in ihm auf. Wut, Verzweiflung möchten nach ihm greifen. Kopfschüttelnd holt er die Schrift vom wenig einzusehenden Ort des hohen Bücherbords. Seine Finger wenden die dünnwandigen Pergamentfolien mit Bedacht. Vater hatte ihm diese Kostbarkeit geschenkt. Hier, da steht es, was ihm der Blick auf den Fluss sinnen lässt. »Denn die Dinge sind wie ein Strom dauernd in Fluss, ihre Auswirkungen in ständiger Wandlung und ihre Ursachen in tausendfachem Wechsel begriffen, und so gut wie nichts ist dauernd. Und die Unendlichkeit der Vergangenheit und die Grenzenlosigkeit der Zukunft, in der alles verschwindet, ist uns stets ganz nahe.« Wie schön schwingen die Gedanken in den Worten dieses längst verstorbenen Kaisers. Sein Vater würde sich freuen, wenn er noch erleben könnte, dass er das Buch im hohen Alter sinnend in Händen hält. Vater war als strammer Militarist und überzeugter Anhänger stoischer Philosophie mit Ehrenbezeichnungen für Treue und Tapferkeit zur Verteidigung der Pax Romana, diesem auf Gewalt und Ausbeutung gestützten römischen Frieden, gütlich überhäuft worden. Der Landsitz auf dem Balkan mit seinen Weinbergen und Obstgärten war diesem Tribun als sichtbares Verdienst für das Vaterland übereignet. Kaiser Marc Aurel war Vaters Vorbild. Jetzt werden diese SELBSTBETRACHTUNGEN des großen Staatenlenkers für die Einheit des Reiches als gefährlich eingestuft. Sie stehen auf dem Index neuester tyrannischer Christenfrömmigkeit. Welch eine Barbarei wütet auf dem Glaubensweg, für den er sich selbst vor Jahrzehnten zur Demut entschieden hat!

    Es ist einer dieser feucht grauen Tage, wenn die Luft von den atlantischen Winden geschwängert ist. Das große Licht an der Feste der Himmel durchbricht nur matt silbern die hohen Dunstgebilde über der Loire. Das Helle und das Dunkel, sie sind an solchen Tagen nicht wirklich geschieden. Es klopft an der niederen Holztüre seiner bescheidenen Stube. Gelassen stellt er das Buch an seinen Ort zurück. Er greift sich eine der brandneuen lateinischen Ausgaben aus beiden Testamenten. Sein hitziger dalmatinischer Kollege ist mit anderem Scharfsinn unterwegs. Dessen Sprachkenntnisse überragen ihn weit. Aber Gelehrtheit und Eitelkeit, diese Zwillinge, vertragen sich doch nicht. Seine Lippen straffen sich zu einem liebevollen Schmunzeln. Man erzählt sich, ein von ihm gezähmter Löwe liege ihm bei der Arbeit zu Füßen. Er weiß, seine Stärken liegen auf anderem Gebiet. Man hat ihm diese noch losen Blätter vom weiten Syrien ins gallische Barbarenland geschickt. Wie er sich dafür dankbar erzeigen könnte, weiß er immer noch nicht. Aber für solche Gedanken ist nun keine Zeit. Sein Schüler Brictius beugt sich durch den schiefwinkeligen Türrahmen. Der sechzehnjährige, hochgewachsene junge Mann schaut seinen sinnenden Lehrer herausfordernd an. Nun, diesen Blick kennt er schon. Der Junge weiß um seine leichte Auffassungsgabe, stammt aus wohlhabendem Haus. Mit leichtem Unwillen blickt Martinus nach dem Eintretenden. Um diese Zeit der nachmittäglichen Ruhe ist wohltuendes Schweigen üblich. In seiner stummen Frage, was es denn gäbe, liegt das Leiden an der Geilheit seiner Zeit.

    »Hochwürdigster Lehrer, sehen Sie es mir nach, unten am Portal steht ein Reiter und begehrt eine Audienz.«

    »Ein Mann auf einem Esel?«

    »Nein, Gott bewahre, um eines solchen würde ich nicht Ihre Studien stören!«

    »Gerade darum aber solltest du mich von Müßiggang und eitlen Gedanken lösen. Wer ist es?«

    »Ich weiß es nicht, Meister. Der Rang seiner Erscheinung lässt mich nicht fragen, nur, es scheint wichtig.«

    Brictius senkt den Blick. Die kleine Lektion sitzt. Er hat verstanden. Und doch ist es ihm widerwärtig, sich mit der Armut von Zeitgenossen herumschlagen zu sollen, besonders dieser schmutzigen auf dem Lande. Der aber gilt seines Abts und Bischofs ganze Sorge zum Leidwesen seiner hochadeligen Gesinnung.

    »Im Kapitelsaal will ich ihn anhören. Ich werde mich bereiten.«

    Der Kapitelsaal ist ein säuberlicher Raum, nichts Repräsentatives, schlichte gekalkte Wände, nur geräumiger als die Studierzellen in diesem vom Stadttrubel abseits gelegenen Lehrhaus auf frei gewaschenem Fels erhoben. Einfache Holzstühle stehen an den Wänden. Sie dienen dem gemeinsamen Gebet und den Lehrgesprächen. Feuchte Kälte hält sich im Raum, von Ausdünstungen und Essensdüften noch schwer. Faustus, der mit den Ordnungsdiensten beauftragt ist, hatte sich geweigert zu lüften. »Nicht bei diesem Wetter!«, hatte er nach dem Morgengebet und dem kargen Frühmahl protestiert. Von draußen komme nur noch mehr schlechte Luft herein. So manchen habe diese Nässe und Kälte schon zum Bettlager gezwungen, entgegnet er mürrisch. Martinus lächelt über solche Weisheiten seines bäuerlichen Schutzbefohlenen. Dessen so offen unverstellte Art sieht er von einer Schlichtheit bestimmt, von der er gern selbst mehr Anteil hätte. Er weiß es längst, dass sie durch keine noch so ausgefeilten Bußübungen erworben wird.

    Brictius hat den von ihm angesagten Reiter zum Kapitelsaal begleitet. In respektvoller Haltung wartet der, den Blick ins Leere gerichtet. Der helle Überwurf mit roter Fassung über der gepanzerten Brust, das Kurzschwert mit kostbarem Griff am Gurt, grüßt der Soldat den eintretenden geistlichen Herrn mit der erhobenen Rechten. Auch der Helm, unter die linke Armbeuge geklemmt, zeigt seinen Rang. Diese Kennzeichen militärischen Standes sind Martinus Hinweis genug, mit wem er es zu tun hat. Er selbst trug einmal die Zeichen eines Offiziers der kaiserlichen Garde. Seine sonst um Milde bemühten Altersfalten nehmen Strenge an. Hier ist die ihm von Staats wegen zugeeignete Autorität gefragt. Nichts Gutes kann dieser Besuch bedeuten.

    Mit einer leichten Verbeugung und einer einladenden Handbewegung erwidert Martinus den militärisch korrekten Gruß. Hart und kurz fallen die Worte des sonst Befehle ausübenden Militärs.

    »Cresces Aurelianus, Offizier im Garderegiment. Gruß, im Namen des Caesars und Kaisers, Magnus Maximus. Stehe ich vor seiner Heiligkeit, dem Bischof von Tours?«

    »Heilig ist nur der Eine und Einzige, der Gott aller Götter, der Dreieinige. Mit welcher Nachricht beehrt mich Imperator Maximus?«

    Stechend flammt Glut in Martinus’ Augen auf, dann senkt er den Blick und schweigt. Schauer von Ratlosigkeit huschen durch die strenge Miene des Soldaten. Sein Gegenüber hat eine Autorität, der er nicht gewohnt ist zu begegnen. Erneut nimmt er Haltung an und ebenso unmissverständlich lautet nun die Botschaft.

    »Magnus Maximus zitiert den Bischof Martinus nach Trier. Er wünscht ein Einvernehmen mit der Teilnahme an weiteren geistlichen Versammlungen und die erklärte Loyalität zur Staatsmacht.«

    Martinus verbeugt sich. Ruhig blickt er in die starren Züge seines Gegenübers.

    »Die Worte des Kaisers sind mir Befehl. Mein Dank gilt dem Boten. Ich wünsche, dass er sich vom anstrengenden Ritt erfrischt. Und möge er dann an diesem Ort Ruhe finden. Es wird ein paar Tage benötigen, bis alles für die Abreise geregelt ist. Ihr seid eingeladen, am Leben der Brüdergemeinschaft teilzunehmen. Man möge mich entschuldigen. Studien und Abendgebet warten auf ihre Verrichtung.«

    Langsam entfernt sich der Geistliche. Brictius steht bereit, Anweisungen für Speise und Trank in Auftrag zu geben.

    iiBischof und Offizier

    Wieder und wieder greifen nach Martinus die politischen Realitäten. Hat er doch den Militärdienst quittiert, um am Ränkespiel der Macht nicht mehr beteiligt sein zu müssen. Aber er hat es von Anfang an gespürt, seine Erhebung zum Bischof würde nichts Gutes bringen. Zwar war er sich damals im Tumult der Ereignisse über seinen Widerstand nicht wirklich im Klaren. So in die Öffentlichkeit gezerrt zu werden, von einer aufgebrachten Menge begeistert gefeiert zu werden widerstrebt seinem Wunsch nach Rückzug von Welt. Lautheit signalisiert ihm schon immer, im Falschen zu sein. Längst hat er es auch erfahren. Zu sehr steht dieses Amt im Zentrum der wechselvollen Geschichte der von Rom und Konstantinopel bestimmten kaiserlichen Glaubensdekrete. Staatsreligion ist der Christenglaube geworden, unter Theodosius I. ganz entschieden. Zwar ist Martinus von der Göttlichkeit seines Herrn überzeugt. Wie sollte man auf Leben und Tod der Liebe des »Galliläers« folgen, wie Christus noch zwei Jahrzehnte zuvor von Kaiser Julian abschätzig genannt wurde? Nein, es ist schon richtig, das erneuerte Bekenntnis »wahr Mensch und wahrer Gott« auf dieser Synode am Bosporus in der Kaiserstadt im Osten bekräftigt zu sehen. Aber dass Priscillian, dieser Freigeist und strenge Asket, vor Monaten in Trier hingerichtet worden ist, zeigt doch nur, wie Glaube und Politik nun nicht mehr voneinander frei sind. Magnus Maximus ist ihm ein Gräuel. Glaubenssätze sind diesem Usurpator nur Anlass für seine Karriere, endlich die Alleinherrschaft über das ganze Reich zu erlangen. Es ist längst kein Geheimnis mehr, die Erdrosselung des jungen Kaisers Gratian in Lyon ist ihm zuzuschreiben. Und der Tod von Bischof Priscillian ist diesem Römer die schäbige Möglichkeit, sich bei Theodosius I. beliebt zu machen und mit mordlüsternen Intrigen die Stufen nach ganz oben hinaufzusteigen. Nun ist Martinus selbst in dieses Intrigenspiel verwoben, hat er sich mit einem Brief an Bischof Ambrosius in Mailand gegen Priscillians Hinrichtung in die politische Arena begeben. Sollte er nichts zu diesem himmelschreienden Mord an einem aufrichtigen Christen gesagt haben? Er hat sich positioniert und seine Abwesenheit im Fall einer Hinrichtung bei künftigen Synoden erklärt. Priscillians Glaubensweg ist nicht der seine. Mit dieser Form von Askese kann er sich nicht anfreunden. Strengster Verzicht auf gutes Essen und Wohlsein verachtet doch auch, was an Kostbarkeiten geschenkt ist. Der Weg einer noch so ernsten Kasteiung kann einen himmlischen Frieden und wahre Gerechtigkeit nicht herbeizerren. Der Nazarener war ein Mensch, ein Mann aus Fleisch und Blut. Schildern die Schriften ihn nicht auch als einen, der Wein und Gesang liebte? Frauen waren seine engsten Begleiterinnen. Gott in ihm, welch eine Schönheit, so von ihm zu denken! Von diesem Wunder will Martinus sich nicht abbringen lassen, nicht durch noch so kluge Vernunftgründe und ängstliche Vorbehalte um der Heiligkeit des Höchsten willen! Die Schönheit Gottes liegt in diesem Glauben. Aber brannte in Priscillian nicht auch dieses Feuer eines Johannes in der Wüste, der mit seinem Weg dem Nazarener voranging, prophetische Würde im Kamelhaarmantel?! Respekt und Achtung kann doch auch dieser fromme Weg beanspruchen, auch wenn ihm die Gefahr selbstmächtiger Erlösungshoffnungen nicht fern ist. Priscillian war kein Feind. Und wenn schon, sogenannten Abweichlern gut gemeinter Rechtgläubigkeit gilt doch die Zuwendung in besonderer Weise, wie in des Meisters großer Rede am Meer vom heiligen Matthäus aufgezeichnet. Die geistlich Armen nennt er selig, und die um ihres Glaubens willen Verfolgten. Magnus Maximus, der Kaiser in Trier, ist ein Feind des Glaubens mit dem gültigen Bekenntnis auf den Lippen, um selbst ein Gott zu sein. Verhasst ist Martinus dieses Geschachere um Macht und Einfluss, nun mit dem Missbrauch von Glaube und Frömmigkeit. Tief verletzt bohrt die Ohnmacht in ihm. Diese Enthauptung in der Kaisermetropole raubt ihm die Sinne. Geschändete Erde, veruntreuter Himmel, inmitten der Bäder und Basiliken kaiserlicher Pracht!

    Wo bleibt die Weite und Größe dieses Glaubens, wie ihn der Rabbi aus den galliläischen Bergen vorgelebt hat? Was kann er, Martinus, dazu beitragen, dass die Freiheit menschlicher Klugheit als Herzenskraft die Verhältnisse im Reich bestimmt? Um dieses Zieles willen hat er sich dem Druck gebeugt, selbst Macht anzunehmen, die Macht eines Staatsamtes auszuüben. Gehalten an das Wort des heiligen Petrus, so will er das Amt ausüben. »Bekehrt zu dem Hirten und Bischof der Seelen.« Ein solcher Bischof zu sein, das gilt ihm als der rechte Weg, mit der gefährlichen Würde dieses römischen Staatsamtes belastet zu sein.

    Einsam ist es um ihn geworden. Die Nähe zu ihm ist seit dem Vorfall in Trier gefährlich. Wer Wert auf eine gutbürgerliche Existenz legt, muss um die wetterwendige Religionspolitik der jeweiligen Kaiser bemüht sein. Das aber ist mit Martinus nicht zu machen. Noch immer zieht er es vor, im Sommer auf seinen Landreisen, mit seiner abgetragenen Tunika und dem Tribon, dem grob kratzigen Obergewandt, um die Schultern geworfen, unterwegs zu sein. Im Winter kann man ihn von den Fischern, Hirten und Bauern nur dadurch unterscheiden, dass seine Kleidung nicht ganz so schäbig wirkt. Aber mit der Kapuze über den strähnig hervorquellenden Haaren und in seinen Mantelumhang gehüllt, ist er einer von ihnen. Die »humilitas«, die Demut, die vornehmste Tugend der Geduld, das ist zwar fester Bestandteil der christlichen Lehre, aber mit diesem Mut zu leben, noch dazu als Bischof, das wird selbst von Amtsbrüdern mit verärgerter Skepsis beäugt. In Martinus aber flammt diese Stelle seines längst verstorbenen Amtsbruders Cyprian, in dessen Streitschrift ÜBER DEN SEGEN DER GEDULD, eineinhalb Jahrhunderte zuvor geschrieben. »Wir aber, geliebteste Brüder, sind Philosophen nicht in Worten, sondern in Taten und legen die Weisheit nicht in der Kleidung an den Tag, sondern in der Wahrheit.« Aber vergessen sind alle längst gefassten Einsichten einer gotterfüllten Menschlichkeit, wie sie der große Kirchenlehrer im fernen nordafrikanischen Karthago zu einer Zeit festhielt, die noch Blutzeugen um des Christusglaubens willen kannte. Wenn nun aber auch in der Kirche die römische Ordnungsmacht Einzug gehalten hat, dann sieht sich auch der Bischof von Tours zwar gegen seinen Willen, aber in der Pflicht, sich als römischer Amtsträger zu zeigen. Das gemeinsame Abendgebet drängt zum Abbruch seiner Gedanken. Man beginnt erst mit des Bischofs Erscheinen. Der Gang in den Kapitelsaal ist ihm längst zur angenehmen Pflicht geworden.

    Dem Gardeoffizier, Cresces, hat man sein Pferd mit Hafer und frischem Wasser versorgt. Ihm selbst trägt man kalte Entenkeule auf Erbsenmus und Waldbeeren auf. Ein Neunauge, frisch aus dem Fluss, gedünstet und in Walnussfett kurz angebraten, liegt dabei. Brot, Wein und Wasser stehen bereit. Es gibt im Lehrhaus des Bischofs Platz für fremden Besuch. Gesättigt und doch in innerer Anspannung steigt Cresces die schmale Steintreppe zu seiner ihm angewiesenen Zelle. Der leichte Sellinerwein, den er reichlich gekostet hat, schwingt noch nach. Er steht vor dem kleinen Fenster seines Schlafgemachs. Der noch helle Blick über die Hügel und Felder von Turonnes, dem südlichen Landstrich der gallischen Provinz Lugdunensis, ist eine Augenweide. Noch stehen die Reben des Weinbaus kahl und nackt, aufgereiht wie schnurgerade Nähte auf weit dahinwallenden Tuchbahnen. Sonnenstrahlen legen einen goldenen Glanz auf das braune Land. Noch nie ist er so weit ins Herz Galliens mit einem Auftrag verpflichtet gewesen. Überhaupt, er ist Sizilianer. Zu dieser Jahreszeit Anfang März sprießen dort die Mangoldblätter auf den erwärmten, von den frischen Westwinden befeuchteten Ländereien seines Oheims bereits üppig. Dort ist er aufgewachsen, im Haus dieses hohen Verwaltungsbeamten, der ihn als dreijährigen Jungen in Obhut nahm, als seine Familie einem Überfall westgotischer Barbaren zum Opfer gefallen war. Die Ziegen- und Schafherden, die Wollschur, der rege Handel mit feinen Stoffen für Festkleider, mit Lederwaren für die Reiterei, mit exotischen Früchten wie Ananas, Granatäpfeln, süßen Bananen, und immer wieder die Geschäfte mit Wein und Getränken aller Art, als Junge streifte er gern durch dieses Treiben eines wohlhabenden Latifundiums seines in den nordafrikanischen Staatsdiensten verdienten Onkels. Immer aber war auch Vorsicht geboten, die Ordnung, die Standespflichten, die strenge Disziplin nicht zu verletzen, die einem Kind in besonderer Weise gilt, das das einst öffentliche Ansehen seiner ermordeten Eltern wieder zum Leben erwecken soll und seinem kinderlosen Ziehvater Ehre zu machen hat. Ein Glück war sein Lehrer. Dieser Sklave hatte einen Blick für ihn, für seine Lust an sportlichen Übungen und seinen Lerneifer für technische Herausforderungen. Auch der konnte mit dem Stock zuschlagen, wenn er es an Konzentration fehlen ließ. Aber das ist nichts Besonderes. Schmerzerfahrung ist römische Alltagskultur. Kinder und erst recht Jugendliche machen da keine Ausnahme. Härte und Unnachsichtigkeit einer bis ins Kleinste geregelten Hierarchie sind ihm seit Langem zur Selbstverständlichkeit geworden. Er darf froh sein, die Chance eines Freien mit Karrierezukunft einst genutzt haben zu dürfen. Seine damaligen Studien für griechische Sprachkenntnisse, die philosophische Schulung, der Rhetorikuntericht und vieles mehr sind ihm im höheren Militärdienst oftmals nützlich. Seltsam, wie ihm dieser Ort hier Bilder seiner Kinder- und Jugendzeit erweckt. Die Erinnerungen an das weiträumige Anwesen sind wach, während seine Blicke über das fremde Land streifen. Seine Gedanken kehren zur kurzen Begegnung mit dem ergrauten Mann vor gut zwei Stunden zurück. Das hohe Alter dieses geistlichen Herrn, die ihm fremde Gedankenwelt dieses Greises machen ihm Sorgen. Unverzüglich hat der Kaiser die Audienz angeordnet. Wer weiß, welche Schwierigkeiten ihm dieser Sonderling auf der vieltägigen Reise nach Trier bereiten wird.

    iiiDas Abendgebet

    Wie an jedem Abend versammeln sich seit zehn Jahren in dieser kleinen Klosteranlage etwa zwanzig Männer verschiedenen Alters im Kapitelsaal zum gemeinsamen Gebet. Martinus hat sie vier Jahre nach seiner Bischofsweihe gegründet. Wer aber mit unaufschiebbaren Tätigkeiten, etwa der Hilfe für einen Kranken gebraucht wird oder für die Beschaffung von Feuerholz, gilt als mitbetender Bruder. Da der kaiserliche Bote nicht erscheint, ist klar, dass er kein getaufter Christ sein kann. Man nimmt es still zur Kenntnis. Wenn die Sonne ihr Licht von diesen Weltgegenden des Imperiums mit sich ins Finstere nimmt, dann hüllt der Glanz der Abendgebete die beginnende Nacht nach den Regeln der »Apostolischen Tradition«. Diese Schrift des römischen Bischofs Hippolyt ist Maß für den liturgischen Rhythmus der Betenden. Martinus ist sie eine hilfreiche Grundlage für seine klösterliche Gründung von Anfang an. Der anstehende Tagespsalm für Morgen-, Mittag- und Abendgebet ist nach einer laufenden Ordnung vorgegeben, auch die biblische Lesung. Für diese Lesepraxis besitzt die Versammlung in Marmoutier bei Tours eine überaus kostbare Abschrift der berühmten Pergamenthandschrift der biblischen Schriften. Aus dieser Unzialhandschrift in Großbuchstaben, mit der Rohrfeder geschrieben, soll in fließendem Sprechton gelesen werden. Da sie in griechischer Sprache verfasst ist, gehört das Erlernen dieser Sprache im Osten des Reichs zur Pflicht für jeden Mitbruder aus dem Westen. Martinus hat sie von seinem vor drei Jahrzehnten verstorbenen Lehrer Hilarius, Bischof von Poitiers, ererbt, ein Geschenk von unschätzbarem Wert. Dieses Buch enthält nicht wie andere Pergamentschriften etwa nur das heilige Evangelium des Johannes, oder auch nur die Briefe der Apostel Paulus und Petrus. Vollständige Schriften des Alten und große Teile des Neuen Testaments birgt diese Bibelausgabe. Für Martinus’ theologische Lehrgespräche mit seinen Schülern erweist sich dieses Buch mit den Schriften Israels als besonders hilfreich. Muss doch jeder im Respekt vor Gottes Zorn und Gnade in Geschichten sein, aus denen auch der Christus seine Weisheit schöpfte. Schwer liegt das Buch auf einem hölzernen Stehpult, von einem hellen Linnen abgedeckt, geöffnet auf der Seite, die für die Tageslesung ansteht. Zwei Stoffsäckchen, gefüllt mit wasserziehenden Blütenstengeln der Königskerze und der Ringelblume, liegen dicht an dem erlesenen Werk. Soll doch die feuchte Luft vor allem in den kalten Monaten weniger Schaden anrichten können. Die Rollen für die Stundengebete sind nach den Gaben der Klosterschüler verteilt. Es erwies sich bald, wer einen Ton für den Psalmengesang verlässlich angeben kann. Wer das Gotteswort mit klarer warmer Stimme zu verlauten vermag, liest vor. Mut und theologische Kenntnisse sind für eine kurze Auslegung der Lesung gefragt. Wer ein überfließendes Herz für besondere Anliegen hat, eröffnet die Fürbitte. Nur eines bleibt Martinus vorbehalten: das Gebet des HERRN einzuleiten und den dreieinigen Segen des Aaron, des Bruders des Mose, zu spenden.

    Das Abendgebet nimmt seinen Lauf. Stimmen beginnen, die Bitte Davids um Bewahrung leise zu memorieren. Die Lesung des Gotteswortes wird in aufrechter Haltung entgegengenommen. Martinus’ Gedanken schweifen ab. Der hohe militärische Gast, der weite Weg Richtung Osten, die Unabwägbarkeit der Ereignisse auf dem Weg in die Kaiserresidenz an der Mosel machen ihm Sorgen. Er ist ein alter Mann geworden im siebzigsten Lebensjahr. Würden seine Kräfte mithalten? Würde er am Ende selbst wie Priscillian sein Leben dahingeben müssen? Im ruhigen Fortgang des Stundengebets schwindet seine Unruhe. Es ist, wie es sein ägyptischer Amtsbruder Euagrios Pontikos erfahrungsgeschwängert sagt: »Lesung, Nachtwachen und Gebet sind Mittel, die einen unruhigen Geist zur Ruhe verhelfen … Der Groll verschwindet, wenn man Psalmen singt.« Wie Balsam sind ihm die vertrauten Worte: »Ja, auf dich, Herr, sehen meine Augen; ich traue auf dich. Bewahre mich vor der Falle der Übeltäter.« Die Nacht hat sich über den Fluss und seine Ufer gelegt. Zum Schweigen verpflichtet, suchen sie alle ihre Zelle auf, die Erholung zu empfangen, die ein seliger Schlaf schenkt. »Und die Unendlichkeit der Vergangenheit und die Grenzenlosigkeit der Zukunft, in der alles verschwindet, ist uns stets ganz nahe.« Noch einmal berühren Martinus diese Worte des Philosophenkaisers, bevor ihn Somnus, der machtvolle Gott des Schlafes und der Träume, anhaucht. Oder ist es einer der himmlischen Dienstengel, der schützend mit ihm schon auf der Reise ist?

    ivDie Befreiung

    Ein unschuldiges Frühlicht erhellt diesen ersten Morgen nach der Ankunft des kaiserlichen Offiziers. Dunstschleier liegen vor der großen Lichtscheibe und dämpfen ihre weiße Glut. Es ist einer von diesen Tagen im noch jungen Jahr, der nach der ersehnten Wärme des Südens Ausschau hält. Martinus fröstelt, während er sich in einen neuen Tag begibt, der ihm den Gang in eine verschleierte Zukunft zumutet, ihn ahnen lässt, dass sich sein Leben auf immer verändern wird. Es steht eine Reise an, von der er nicht weiß, wie sie endet. Dieser Kaiser ist unberechenbar. Der Weg dorthin birgt Gefahren. Niemand kann sagen, wie lange man unterwegs sein wird, ob man das Ziel der Reise erreicht. Herausgerissen ist er aus den Tagen ruhiger Erkundungen. Diese Reise wird neue, aufwühlende Antworten bereithalten.

    Martinus’ Leidenschaft sind Bücher und Menschen. Wann immer es ihm möglich ist, meidet er offizielle Verpflichtungen. Doch jetzt drängen noch anstehende Aufgaben heran. Die Reise an die Mosel erzwingt Klärungen vor Ort. Die Dienste im Kloster und der Stadtkirche sind zwar in guten Händen, doch müssen sie für den weiteren Gang der Dinge angeordnet werden. Eine Sache aber liegt ganz und gar im Argen. Es ist das Unrecht einer Gefangenschaft ehrbarer Bürger, das ihn seit Wochen umtreibt.

    Die Leitung des Klosters wird er seinem Diakon Quietus Ligerianus übergeben. Seit der zur kleinen Communio gehört, sind auch die anderen Brüder eher zu Harmonie und Freundlichkeit miteinander aufgelegt. Quietus stammt aus einer Fischerfamilie stromaufwärts an der Loire. Schweigsamkeit ist seine Stärke. Fische sind auch wortarme Wesen. Die Menschen, die sie mit ihrem Tod ernähren, werden bei ihrem Anblick schweigsam. In Quietus’ Familie gibt es keine lauten Worte. Das hat der in der Mitte seines Lebens stehende Mann mitgenommen, als er sich entschied, dem Fischerhandwerk die Übung des Gebets hinzuzufügen. Wo Klärung nötig wird, hört er eher zu, als dass er vorschnellen Rat gibt. Bei seinen Mitmenschen Gefühle zu achten scheint ihm angeboren. Die Worte der Schriften bedenkt er mit freiem Respekt. Martinus wird ihm zu Beginn der nachmittäglichen Lehrstunde vor allen Mitbrüdern für Entscheidungen das letzte Wort anvertrauen.

    Drei kirchliche Gebäude innerhalb der Mauern der Stadt, die Stadtkirche, eine Grabeskirche und das Bischofspalais, sind zu verwalten. Sie sind das Werk Litorius’, seines Vorgängers im Bischofsamt. Schon während seiner weitschweifenden Besuche bei den Landbewohnern in der Diozöse konnte er sich auf Marcus Grannus verlassen. Als leitender Presbyter und Priester ist er sein ständiger Stellvertreter in der Kirche. Er wird die täglichen Dienste dort zur öffentlichen Zufriedenheit auch ohne seine Begleitung weiterführen. Seit Jahren zelebriert er vor versammeltem Volk für seinen Bischof die Messe, während dieser in der Sakristei still mitfeiert, um neugierigen Blicken entzogen zu sein. Das hohe Langhaus mit seinem kuppelförmigen Rundchor nach Osten und einem Querhaus, von dem aus man in die Sakristei gelangt, prägt seit gut drei Jahrzehnten das Stadtbild. Der mächtige Bau zeigt, welcher Glaube in der Stadt die

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