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Die Revolution von Fräulein Mindermann: Biografischer Roman
Die Revolution von Fräulein Mindermann: Biografischer Roman
Die Revolution von Fräulein Mindermann: Biografischer Roman
eBook280 Seiten3 Stunden

Die Revolution von Fräulein Mindermann: Biografischer Roman

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Über dieses E-Book

Schon als Kind lehnt sich Handwerkertochter Marie gegen die eng gesetzten Grenzen auf, die ihr als Mädchen im frühen 19. Jahrhundert gesetzt sind. Entgegen dem Wunsch des Vaters schlägt sie gute Partien aus und eignet sich heimlich Bildung an. Sie beginnt zu schreiben und zu dichten.
Als die Europäische Revolution 1848 auch nach Bremen kommt, hofft Marie, endlich aus dem engen Korsett ausbrechen zu können, das die Gesellschaft ihr als Frau setzt. Doch die Revolution scheint auch nur eine Männersache zu sein. Marie beginnt zu kämpfen, für die Demokratie, für sich und für alle Frauen.

Überarbeitete Ausgabe in neuer Rechtschreibung mit erweitertem Glossar.
SpracheDeutsch
HerausgeberPublisher s20008
Erscheinungsdatum26. Juli 2018
ISBN9788828366379
Die Revolution von Fräulein Mindermann: Biografischer Roman

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    Buchvorschau

    Die Revolution von Fräulein Mindermann - Truxi Knierim

    Literaturliste

    Impressum

    © 2018

    Herausgegeben von:

    Kathrin Brückmann

    Rigaer Str. 102

    10247 Berlin

    brueckmann.kathrin@web.de

    Vorbemerkung

    Liebe Leser,

    Marie Mindermann war eine Heimatdichterin, die ihre Gedichte oftmals in niederdeutscher Sprache verfasst hat. Einige davon sind den Kapiteln dieses Buchs vorangestellt. Leider habe ich keine Übersetzung ins Hochdeutsche dazu finden können – vielleicht ist es auch ganz gut so. Das meiste lässt sich auch so verstehen, in jedem Fall das Versmaß genießen.

    Sonstige Zitate aus Zeitungen und Zeitschriften sind in originaler Schreibweise wiedergegeben.

    Am Ende des Buchs findet sich ein Glossar, in dem heute ungebräuchliche Begriffe oder Ausdrücke in Bremer Mundart erklärt sind, außerdem eine Liste von Marie Mindermanns Veröffentlichungen und eine Liste mit weiterführender Literatur.

    Ich wünsche viel Freude beim Lesen und würde mich freuen, wenn Sie Ihren Leseeindruck in Form einer Rezension mit anderen teilen.

    Berlin im Januar 2018, Kathrin Brückmann, Herausgeberin

    Kapitel 1 – Frühjahr 1852

    De plattdütsche Sprake

    An de hochdütschen Lüde

    Jü ehrt min rike Swester hoch,

    Un set’t er baben an den Disch;

    Jü seggt: »Wi hebbt an er genog,

    Ga du na Braken, Moor un Wisch!«

    Ik wet et wol, min Kled is arm,

    Et hett keen Slep, et hett keen Smuck;

    Min Harte abers, dat is warm,

    Is ahne Falsch, un kennt keen Tuck.

    Min rike Swester gunn ik geern

    Alläberall de beste Ste’;

    Man ik moch sin er nich to feern,

    Een Mutter jo ant Hart us le!

    Wrum scholl ik nu so wit hinut?

    Kikt Jü denn blot upt fine Kleed? –

    Van Harten kumt us beid’ de Lut,

    Un beide föhlt wi Freid’ un Leed.

    Un wenn wi use Leder singt

    Un sprekt up use egen Wis’, –

    Ik meen, dat beides hartlig klingt,

    Winnst sunst min Swester ok den Pris. –

    So latet us bi’nanner gan,

    Se – Eddelfro, ik – borgerlich;

    Lat’t mi nich ganz torugge stan, –

    Ik bidde Jo, verget’t mi nich!

    Marie Mindermann

    Sie fröstelte. Mit nacktem Oberkörper stand sie in dem ungeheizten Zimmer am Waschtisch, tauchte den Lappen ins Wasser, wrang ihn aus und fuhr rasch über Arme, Hals und Brust. Den Unterleib wusch sie nicht. Doktor Meyer meinte zwar, das sei gesund, aber darüber gab es verschiedene Ansichten, auch zu der Frage, ob eine Frau Unterhosen tragen sollte. Sie hatte zeitlebens keine besessen und sah nicht ein, nun, mit vierundvierzig Jahren, für derartigen Luxus Geld auszugeben, da kaufte sie lieber Papier und Schreibfedern aus englischem Stahl.

    Sie rieb sich trocken, schlüpfte in ein steifleinenes Hemd, in das feine dunkle Wollkleid und legte den Kragen aus Brüsseler Spitze um. Dann noch die Ohrringe, dunkelrote Granathänger, die die Mutter bereits getragen hatte. Sie prüfte sich in dem kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Blassblaue Augen, dünne Brauen, die Stirn zu hoch und das Kinn zu energisch. Wenn Caroline sie gleich frisieren würde, sollte sie ein paar Korkenzieherlocken in das Schläfenhaar brennen, das sah gefälliger aus.

    »Marie, beeil dich. In einer halben Stunde kommt der Wagen!«, rief die Freundin aus der Küche.

    Nur noch eine halbe Stunde. Sie trug das seifige Waschwasser hinunter auf die Straße und kippte es in die Gosse, wo es sich mit den säuerlich riechenden Abwässern der Nachbarn vereinigte und träge davonsickerte.

    Nachdem Caroline sie in der Küche frisiert hatte, reichte sie ihr ein Paar Handschuhe. »Zieh die an, Marie. Eine Dame zeigt nicht ihre Hände.«

    In diesem Moment hörten sie den Wagen rumpeln. Hastig warf sie das Umschlagtuch über die Schultern und griff den Aktendeckel mit den Manuskripten.

    »Lies langsam!«, riet Caroline.

    Der livrierte Kutscher half Marie in das Coupé der Familie Scharrenhusen. Außen auf der Tür das Familienwappen, innen tannengrüne Samtpolster, moosgrüne Moirévorhänge, Geruch nach Juchten, nach Familientradition und altem Geld.

    Im Grunde genommen war es ein kurzer Weg zu den Scharrenhusens, Marie hätte ihn gut zu Fuß machen können, wie so häufig, wenn sie in die Altstadt ging, nein, es war nicht weit. Das Herrenhaus befand sich am Altenwall. Ein schmiedeeiserner Balkon, von zwei Säulen getragen, hohe Räume mit stuckverzierten Decken, in der Ecke ein Ofen aus italienischen Fayencen, in schwarzen Rahmen Scherenschnitte mit Kinderprofilen. Und dennoch war es ein weiter Weg, wenn man aus einem Handwerkerhaus stammte.

    Ihre Freundin Caroline hatte ihr die Einladung verschafft.

    »Marie«, hatte sie kürzlich gesagt, »es reicht nicht, dass du ab und zu für ein paar Taler ein Gedicht im Bürgerfreund veröffentlichst. Du musst dir einen Namen machen. Klappern gehört zum Geschäft! Wer soll deine Gedichte kaufen, wenn sie keiner kennt? Außerdem – Frau Scharrenhusen hat eine vorzügliche Köchin. Du wirst die besten Kuchen und Torten essen. Ich beneide dich.«

    »Ich mag nicht.«

    »Ich mag nicht, ich mag nicht!«, wiederholte Caroline ungeduldig. »Nach Mögen wird nicht gefragt! Frau Scharrenhusen hat einige Damen der Bremer Gesellschaft eingeladen: Frau Neubrück, Frau Haase, Fräulein von Katenkampp …«

    Gerade die Namen waren es, die Marie Unbehagen verursachten. Fräulein von Katenkampp … Etwa Fräulein von Katenkampp mit Doppel-P? Konrads Schwester? Erinnerungen kamen hoch …

    Marie, schreib diese Rechnung in Schönschrift ab und bring sie zu von Katenkamps in die Martinistraße, sagt der Vater. Zu etwas muss deine Schreiberei ja gut sein.

    Marie hat die schönste Schrift von den Schwestern, sie ist elf Jahre alt, die Jüngste. Sie sitzt am Küchentisch, vor sich ein weißes Blatt Papier, Tintenfass und Sandstreubüchse, in der Hand einen frisch angeschnittenen Federkiel, vorsichtig, nicht klecksen.

    Sehr verehrter Herr, schreibt Marie und dann hält sie inne und denkt nach. Nein, sie wird nicht einfach eine Rechnung schreiben, sie wird ein Gedicht daraus machen.

    Wohlgeborener Herr. Was reimt sich auf Herr? Quer, sehr, mehr, schwer – aber das sind keine echten Reimwörter.

    Es geht anders. Wohlgeborener Herr von Katenkamp! Hoffentlich macht es keine Qualen – Mir die Rechnung zu bezahlen – Ich habe geschafft – Mit meiner Kraft – Kaufte voll Stolz – Für Sie gutes Holz – Das kostet dreizehn Taler … Taler … was reimt sich auf Taler? – Maler? Nein … Das kostet … Das kostet dreizehn Gulden – Die Sie mir nun schulden. –

    Fertig. Eine schöne Rechnung. Sand darübergestreut und weggepustet. So etwas hat Herr von Katenkamp noch nie erhalten. Sie faltet das Papier und läuft in die Martinistraße, das ist nicht weit.

    Hohe Häuser, Packhäuser, Kontore, sie sucht, und schließlich findet sie ein Haus mit Messingschild, von Katenkampp, Dienstboten bitte den Seiteneingang benutzen, und sie weiß nicht genau, ob sie eine Dienstbotin ist, denn sie ist weder Wäscherin noch Köchin noch eine Kohlhökersche.

    Beherzt öffnet sie die Vordertür, ein Glockengeläut ertönt, eine kleine Melodie, dann steht sie im Halbdunkel des Flurs und sieht sich verstohlen um. Alte Männer mit Halskrausen schauen ernst und wichtig aus goldenen Rahmen auf sie herab. Was willst du?, fragt eine Frau, und Marie zuckt zusammen, weil sie die Frau nicht hat kommen hören. Eine feine Dame mit einer weißen Spitzenhaube auf dem Kopf und Ringen an den weißen Händen. Sie riecht vornehm. Wortlos reicht Marie ihr den Brief, die Frau entfaltet ihn, liest. Gefällt ihr das Gedicht? Vielleicht hätte Marie doch eine richtige Rechnung schreiben sollen. Da lächelt die Frau und fragt: Bist du die kleine Mindermann?

    Marie nickt.

    Hast du das gedichtet?

    Wieder nickt sie.

    Du bist ja eine richtige Künstlerin, sagt die Frau, und was für eine schöne Schrift du hast! Da können selbst meine Kinder noch von dir lernen.

    Marie errötet über das Lob.

    Du musst den Brief allerdings ins Kontor bringen, hier ist unser Privathaus. Ach, und einen kleinen Fehler hast du gemacht. Wir schreiben uns mit Doppel-P. Darin unterscheiden wir uns von den einfachen Katenkamps.

    Marie bringt kein einziges Wort heraus. Katenkampp mit Doppel-P, denkt sie. Ja, das sind ganz andere Leute als die Nachbarn in der Ostertorstraße, die einfachen Katenkamps, wo die Frau keine Zähne mehr im Maul hat. Diese Dame wird immer Zähne haben.

    Die Frau ruft: Konrad, bring mal die kleine Mindermann ins Kontor.

    Ein Mädchen kommt auf den Flur gelaufen, etwas jünger als Marie, und mustert sie neugierig, und dann gibt Frau von Katenkampp mit Doppel-P Marie den Brief zurück, schenkt ihr einen Babbeler als Wegzehrung und ruft noch einmal: Konrad, wird’s bald?!

    Konrad kommt.

    Er ist mürrisch. Scheint keine Lust zu haben, Marie zum Kontor zu bringen. Sie trottet hinter ihm her die Martinistraße entlang; er ist etwas größer als sie und älter, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, und er trägt eine Schülermütze. Besucht wohl das Gymnasium Illustre, und sie denkt: Wenn ich der Sohn eines Kaufmanns wäre, würde ich auch zum Gymnasium gehen und eine Schülermütze tragen.

    Unter dem dünnen Hemd zeichnen sich seine Schulterblätter wie verkümmerte Flügel ab, er geht ein wenig krumm.

    Das Kontor befindet sich nur einige Häuser weiter, Marie hätte es auch allein gefunden. Konrad kommt mit hinein. Tabakgeruch. Durch die bleigefassten Fenster fällt gedämpftes Licht, und unter den Fenstern befinden sich die Pulte. Schreiber stehen davor oder hocken auf ledergepolsterten Drehböcken und kratzen mit ihren Gänsekielen über Papier. In der Ecke eine Truhe, messingbeschlagen, mit schwerem Schloss: die Geld- und Dokumentenkiste. Aufgetakelte Schiffsmodelle schweben unter der Decke, an der Wand reißt ein präparierter Haifischkopf seinen Schlund auf, Bilder mit Schiffen, naturgetreu gemalt, und große Land- und Seekarten, viel größer und genauer als die Karte von Unterlehrer Suhling in der Domschule. Wo Bremen liegt, steckt ein Fähnchen mit der Speckflagge, von dort aus geht ein Strich die Weser entlang zur Nordsee, und dann über den Atlantischen Ozean nach Amerika, nach Neu York.

    Oh!, sagt Marie. Der Junge ist hinter sie getreten und fragt, ob sie die Karte überhaupt verstünde. Erstaunt dreht sie sich um. Was gibt’s da zu verstehen? Das ist Europa und Amerika, und dazwischen ist der Atlantische Ozean, das sieht man doch.

    Na ja, sagt der Junge, ich meine ja nur, weil Mädchen keine Ahnung von Geometrie haben.

    Marie kaut am Daumennagel, sieht ihn schräg von unten an und lächelt. Und du hast keine Ahnung von – Griechisch. Du verwechselst Geometrie mit Geografie. Marie ist klug. Und sie hat einen ungewöhnlich guten Lehrer, den Unterlehrer Suhling, der erklärt hat, dass Geografie das griechische Wort für Erdkunde ist, genau genommen für Erdbeschreibung.

    Der Junge reißt die Augen auf und legt die Stirn in Falten wie ein Waschbrett. Du weißt ja doch Bescheid!, staunt er. Ich wollte dich bloß auf die Probe stellen, sagt er, aber Marie ist nicht sicher, ob sie ihm glauben soll.

    Ein Mann kommt, in der Hand die schön geschriebene Rechnung. Du, sagt er unwirsch, mit der Rechnung stimmt was nicht. Wir schulden euch keine dreizehn Gulden, sondern dreizehn Taler. Das ist ein Unterschied.

    Marie senkt den Kopf. Ich weiß, flüstert sie. Ihr sollt auch dreizehn Taler bezahlen, aber – auf Taler hab ich kein Reimwort gefunden.

    Der Junge bricht in gemeines Lachen aus.

    Wortlos dreht Marie sich um und geht.

    Der Babbeler reicht von der Martinistraße bis nach Haus …

    Jetzt saß Marie mit den Damen am ovalen Mahagonitisch und hielt sich an der Teetasse fest. Frau Scharrenhusen hatte sie als unsere liebe Heimatdichterin vorgestellt, die so hübsch schrieb. Beifälliges Kopfnicken, wohlwollende Blicke, wie schön, dass Sie uns beehren.

    »Ich danke … ich danke auch … für die Einladung, sehr nett von Ihnen … sehr freundlich …« Nett, freundlich. Die Worte zergingen auf der Zunge, hinterließen jedoch einen klebrigen Geschmack.

    Namen wurden genannt. Frau Neubrück … das ist also die Frau von dem Herrn Neubrück!, dachte Marie.

    Ihr wurde ein Platz auf dem Sofa zugewiesen, gegenüber dem Fräulein von Katenkampp. Verstohlen betrachtete Marie sie, kein Zweifel, sie war es, dieselben grauen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen. Leicht hohlwangig. Wie Konrad.

    Für einen kurzen Moment war es wieder da, das Gefühl der Unzulänglichkeit, des Nichtdazugehörens, des unerwünschten Eindringens in bessere Welten. Unbewusst tasteten Daumen und Zeigefinger nach dem Ring ihrer Mutter, doch die Seidenhandschuhe verwehrten den Trost.

    »Wo nur die Frau Haase wieder bleibt?«, fragte Frau Scharrenhusen stirnrunzelnd.

    »Oh, die arme Frau Eltermann Haase, sie hat es jetzt so schwer. Deshalb kommt sie wohl ein wenig später …«, entschuldigte Frau Neubrück die Dame.

    »Abgesehen davon lässt Frau Haase gern auf sich warten«, stellte Frau Scharrenhusen trocken fest.

    Das Dienstmädchen servierte Kaffee und Tee, Likör wurde gereicht, dazu Mandeltorte, Wiener Torte aus feinstem Kaiserauszugsmehl und als kulinarischen Höhepunkt ›Versoffene Schwestern‹. Genüsslich ließ Marie das Baiser-Gebäck im Munde zergehen, das die Köchin bei Tisch erst mit heißem, gewürzten Rotwein übergossen hatte. Caroline hatte nicht zu viel versprochen.

    »Ach, die Frau Eltermann Haase«, seufzte Frau Neubrück. »Ich hatte einmal die Ehre, bei ihr zu einer abendlichen Gasterei geladen zu sein. Superb! Und ihr Gatte, der Herr Eltermann. Ein reizender Mensch. So feine Manieren. Zwei Kutschen hatte er, einen Landauer und eine elegante Kalesche. Und fromm war er … ach, es ist schon ein Unglück, ein großes Unglück …«

    Verlegenes Schweigen. Marie senkte den Kopf, wollte etwas dazu sagen, biss sich jedoch auf die Lippen. Für einen Moment schloss sie die Augen, um innerlich Abstand zu schaffen, dann richtete sie sich auf und schaute um sich, schaute distanziert in die Runde, vor allem auf Frau Neubrück, schrieb einen imaginären Text. ›Groß und wichtig thront Frau Nichtig auf dem Sofa, streckt den Hühnerhals hervor …‹

    »Entschuldigen Sie bitte, Frau Neubrück«, unterbrach Fräulein von Katenkampp die schwatzhafte Dame. »Es ist zwar sehr informativ, ihrem Vortrag über die feinen Manieren des Herrn Haase zu lauschen, der … na, lassen wir das … Jetzt möchte ich jedoch ein Gedicht von Fräulein Mindermann hören.«

    Die anderen Damen schlossen sich an und baten: Etwas Heiteres, bitte schön.

    Marie öffnete den Aktendeckel und blätterte in den Papieren. Herzklopfen, flattrige Hände. Ein Bogen fiel zu Boden, rutschte unter den Tisch, Marie bückte sich, tastete und geriet an Fräulein von Katenkampp, die ihr bei der Suche behilflich sein wollte. Verlegenes Lächeln. Dann tauchte Marie wieder auf und strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

    Erwartungsvoll lehnten sich die Damen zurück.

    Marie fuhr mit der Hand über das Papier, als müsste es geglättet werden, räusperte sich, trank einen Schluck Tee und sagte: »So etwas richtig Heiteres hab ich gar nicht. Dieses Gedicht beschreibt, wie es in meiner Kindheit beim Essen zuging. Auf Plattdeutsch.

    Bi Dische

    ›Ann Disch!‹ roppt de Mudder, ›dat Eten is fertig!‹ –

    Nu is’t en Gerunne, nu ist’t en Gelope!

    Dat schuft mit de Stöhle, dat schurrt mit de Bänke,

    — De lütjesten Beeden, de stat up’n Fottritt …«

    Anfänglich zitterte ihre Stimme, auch die Hand, die sich an das Papier klammerte, doch nach und nach beruhigten die vertrauten Worte.

    Im Haus ihrer Kindheit. Die Eltern, die Schwestern und die Gesellen, Minka schnurrt auf ihrem Schoß, und der Vater hält die Kappe in der Hand und betet Komm Herr Jesus und sei unser Gast, Löffel schaben, und Herrmann tritt Marie gegen das Schienbein, und Margrete fällt die Kartoffel auf die sandbestreuten Dielen … Sand scheuert den Magen, sagt die Mutter …

    »… Jü Annern kamt mit mi, und spelet dar buten,

    Un passt up de Lütjen, du Hermann und Hinrich;

    Man, wahrscho ik alle – verdregt Jo tohope.«

    Beifall. Wunderbar, Fräulein Mindermann. Man kann sich so richtig vorstellen, wie das früher bei Ihnen war. Ein schönes Gedicht, sehr schön.

    »Aber«, wandte Frau Neubrück ein, »es reimt sich nicht! Ich denk, es ist ein Gedicht!«

    »Muss auch nicht«, erklärte Fräulein von Katenkampp. »Seine Form erhält es durch den Rhythmus, durch die Betonung der Silben.«

    Erstaunt sah Marie sie an. Wie treffend sie das gesagt hatte.

    »Hmm!« Frau Neubrück sinnierte. »Und warum auf Platt? Plattdeutsch klingt so … gewöhnlich. Das ist keine echte Kunst. Warum nicht Hochdeutsch? Ich meine … Sie sprechen doch eigentlich ganz gut Hochdeutsch.«

    Empörte Proteste. Nein! Auf keinen Fall! Gerade das Plattdeutsche mache doch den Reiz des Gedichtes aus. Fräulein Mindermann sei eine Heimatdichterin.

    Frau Neubrück reckte das Kinn hoch. »Ich meine ja bloß …«, sagte sie.

    »Wissen Sie«, erklärte Marie, »Niederdeutsch ist meine Sprache, meine Muttersprache. Und manches, vor allem meine Gefühle und Empfindungen, kann ich eben besser in Platt ausdrücken.«

    »Also«, erklärte Frau Neubrück, »ich spreche ja auch Platt. Auf dem Markt, mit den Domestiken, mit den Handwerkern. Deshalb ist es für mich so alltäglich. Wie ein Alltagskleid. Ein Gedicht hingegen ist etwas Besonderes, das braucht ein Sonntagskleid und Sonntagssprache.«

    Marie schüttelte den Kopf und schluckte mühsam ihren Ärger herunter. Diese eingebildete, dumme Pute! Platt war für sie die Sprache der kleinen Leute. Natürlich.

    Unterdessen schaute Frau Scharrenhusen unbehaglich von der einen zur anderen. »Ja«, sagte sie, »ja – so ist das. Ja – da fällt mir ein, war jemand von Ihnen am Sonntag in der Martinikirche? Unser Freund Wimmer hat uns in seiner Bibelstunde wieder köstlich amüsiert. Kennen die Damen vielleicht das kleine Heftchen, in dem er aufs Korn genommen wird? Das muss ich Ihnen zeigen.«

    Materialia – gesammelt in feierlichen Abendstunden in der Kirche Sanct Wimmerius Simplicius. Mit bescheidenen Anfragen und Bemerkungen versehen von einem aufmerksamen Zuhörer, stand auf dem grünen Deckblatt.

    Der Pastor Wimmer erheiterte mit seinen pietistischen Ansichten oft einen Teil der Gläubigen. Einen Teil. Der andere Teil stand hinter ihm und pochte wie er auf die Unfehlbarkeit der Bibel, die das absolute Wort Gottes verkünde. Ohne Wenn und Aber.

    Frau Scharrenhusen trug aus dem Heft vor, kürzlich habe Wimmer gepredigt, die christlichen Frauen verdanken es ihrem Herrn Jesum, dass sie lesen und schreiben können. Woraufhin jener unbekannte Zuhörer fragte, ob der Herr Jesus den Frauen am Ende auch das Stricken und Stopfen beigebracht habe. Auch überlege er, wie es möglich gewesen sei, dass bereits Jahrhunderte vor Christi Geburt Isabel unter Ahabs Namen Briefe schrieb, nachzulesen im Alten Testament, Buch der Könige.

    Die Damen klatschten in die Hände. Vortrefflich!

    Frau Scharrenhusen blätterte weiter, suchte nach einer anderen Stelle. »Hier. Das ist auch gut. –

    Ein anderes Mal meinte Wimmer, die heutige Not der Arbeiter, ihr Hunger und Elend, werde übertrieben dargestellt, dabei läge im heiligen Bibelbuche der Trost und die Erlösung vom Elende. Dazu schreibt der Verfasser: Da möchte es wohl sehr geraten sein, den hungernden Bewohnern des Spessarts, der Rhön und des Thüringer Waldes Bibelzufuhren zu senden, damit die armen Leute satt werden. Auch die Provinz Fulda nicht zu vergessen, wo das herrliche Kriegsheer so hübsch aufgeräumt hat mit irdischer Speise, wahrscheinlich nur deshalb, um den Hungernden die himmlische Bibelspeise zu verschaffen.«

    »Auch in Bremen hungern Menschen«, stellte Fräulein von Katenkampp fest. »Letzten Sonntag hat Pastor Dulon in der Liebfrauenkirche eine Predigt über das hiesige Elend gehalten. Anschließend kamen neunundzwanzig Taler zusammen. Er hat sie gleich den betreffenden Familien gebracht.«

    »Dulon!«, rief Frau Neubrück entsetzt. »Zu diesem Volksverhetzer gehen Sie?!«

    »Frau Neubrück!«

    »Also – mein Mann sagt, seit der unselige

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