Müller voll Basel: Kriminalroman
Von Raphael Zehnder
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Über dieses E-Book
Er hat es getan! Kriminalkommissär Müller Benedikt ist tatsächlich von Zürich nach Basel gezogen. Doch auch hier im Nordwesten schläft das Verbrechen nicht: Der neunzehnjährige Sohn eines Nationalrats liegt erschossen auf dem Asphalt im Dreispitz. Müller begibt sich mit seinem neuen Team zur Lösung des Falls in die Welt der Basler Polit-Elite – bis ihn die Spur schließlich ins Altersheim und in eine Studenten-WG führt und die Ermittlungen auf einmal in eine ganz andere Richtung drängen ...
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Müller voll Basel - Raphael Zehnder
Raphael Zehnder wurde 1963 in Baden AG geboren und arbeitete als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, bevor er Französisch und Latein studierte und in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft promovierte. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF, ist Miterfinder und -organisator der Zürcher Kriminalnacht im Theater Rigiblick in Zürich und Autor von sechs Kriminalromanen um den Polizeimann Müller Benedikt. Für «Müller und der Mann mit Schnauz» erhielt er 2015 den Zürcher Krimipreis.
Disclaimer: Alles in diesem Buch ist voll gelogen, erfunden und auch sonst absolut wahr. Nur der Müller ist real und die erwähnten Städte.
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© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Mick Vahlsing, www.fotovia.de
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-367-7
Originalausgabe
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Meinen Eltern Alberto und Therese,
immer wieder Annette und Julius und Vinzenz
Wer eine Jogginghose trägt,
hat die Kontrolle über sein Leben verloren.
Karl Lagerfeld
Magnum ist kein Eis, sondern ein Kaliber.
D. H. Callahan
There is no substitute for hard work.
Stan Cullis, Wolverhampton Wanderers
Protinus inrupit venae peioris in aevum / omne nefas: fugere pudor verumque fidesque; / in quorum subiere locum fraudesque dolusque / insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.
Sed istorum hominum corruptorum non partem facit:
Müller Benedikt (48), Kriminalkommissär, Basel-Stadt
Alii aliaeque hoc in oppido viventes vel laborantes:
Bataille Noël (24), Product Manager, Rhenania Freight SA, 4057 Basel
Blaser Xerxes (21), Aspirant, Kantonspolizei Basel-Stadt
Bucher Manfred (48), Abteilung Gewaltverbrechen, Polizei Zürich
Burri Caro (22), Studentin, 4056 Basel
Cattaneo Roland (38), Kriminaltechniker, Kantonspolizei Basel-Stadt
Cvetinovic Milan (37), Mitarbeiter Senectus Worldwide Inc., 4054 Basel
Dominguez Freddy (25), Detektiv, Kriminalkommissariat Basel-Stadt
Flückiger Paul (19), Gymnasiast, 4059 Basel
Flückiger Ruedi (54), lic. iur., Nationalrat, 4059 Basel
Flückiger-Stadlin Marianne (49), lic. phil., 4059 Basel
Gormann Markus (38), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt
Haberthür François (62), Pathologe, Institut für Rechtsmedizin der Universität Basel, 4056 Basel
Konrad Jacques (76), dipl. Ing. ETH, 4054 Basel
Krebs Sue (18), Gymnasiastin/Fitness-Instruktorin, 4056 Basel
Müller Doris (44), Schwester von Müller, Gesundheitsfachfrau, 4054 Basel
Panzeri Jessica (35), a.k.a. Jazzica, Abt. Wirtschaftskriminalität, Kantonspolizei Basel-Stadt
Probst Boris (24), Marketing-Student, 4056 Basel
Sermeter Gülay (34), Detektivwachtmeisterin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt
Spöndlin Agathe (43), Senectus Worldwide Inc., Standortleiterin Schweizergasse, 4054 Basel
Stickelberger Daniel (44), Dr. iur., Erster Staatsanwalt des Kantons Basel-Stadt
Vetter Rolf (61), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt
Wäckerlin Romina (32), Detektivin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt
Wagner Noah (10) und Maurice (12), Kinder von Müller Doris, 4054 Basel
Werner Gloria (22), Aspirantin, Kantonspolizei Basel-Stadt
Wirz-Bald Angelika (48), Dr. iur., Anwältin/Kulturunternehmerin, 4059 Basel
Et aliorum cuiuscumque sexus plures.
Ta-da-da-daaa
Um 03:00 Uhr morgens ist es im Weltall draussen sehr dunkel und sehr gross. Wären nicht all die Sonnen und Sterne, die der Mensch von blossem Auge höchstens als kleine Leuchtpunkte wahrnehmen kann, wäre es da draussen stockfinster. Und in all diesem Dunkel fliegen Meteoriten, Planeten, giftige Gasnebel und Satellitenschrott durchs All, dass es einem im Kopf ganz sturm würde. Doch da draussen hält sich ja niemand auf, den das nervös machen könnte. Irgendwo zwischen diesen Himmelskörpern schwebt auf fester Bahn eine herzige kleine Kugel umher. Wenn wir aus dem finsteren All an sie heranzoomen, sehen wir unzweifelhaft: Sie ist blau wegen der Meere, gelb, grün und braun wegen der Kontinente, und oben und unten ist sie noch ein bisschen weiss. Sie ahnen es, ich spreche von der Erde. Wenn wir näher an die nördliche Halbkugel heranschauen, erkennen wir Italien. Einfach zu merken, ist ein Stiefel mit hohem Absatz, fast etwas verwegen in der Form.
Für uns wichtiger: Etwas nördlich vom Stiefel liegen mitten zwischen Jura, Schwarzwald und Vogesen die Koordinaten 47º33’29’’ N, 7º35’16’’ O, die besiedelt sind von 171’017 Personen. Eine Stadt. Sie steht idyllisch da, wo der Rhein nach Norden ins Ausland abbiegt. Im Westen liegt Allschwil und dann Frankreich, im Süden Binningen und die Schweiz, im Osten die Römerstadt und dann der Aargau und die Riesenbrauerei, und im Norden der Tierpark Lange Erlen und das Bässlergut. Das ist ein Gefängnis. Und im Nordosten das Hörnli, der Friedhof. Und ganz im Norden das Euro-Einkaufsparadies Germany. Die Stadt selbst heisst Basel, liegt beidseits des Flusses, ist alt, und jetzt wohnt auch der Müller dort.
Müller Benedikt, Polizeimann, über zwanzig Jahre im Dienst der Polizei Zürich, Abteilung Gewaltverbrechen, von einem Schusswaffentrauma recht passabel genesen – hat im Dienst an der Müllerstrasse in 8004 einen Flüchtigen erschossen, juristisch zwar entlastet, Untersuchung eingestellt, aber hatte arg daran zu kauen, weil er auch ethisch nicht der Schusswaffenfraktion angehört. Und jetzt eben der Müller in Basel. Neue Stadt, neues Glück? Oder besser: neue Stadt → Glück?
Weil privat glänzt er noch nicht mit Erfolg. Die Liebe hat ihn bisher bloss temporär gestreift. Deshalb hat ihn wenig in Zurigo zurückgehalten und er sich ins Abenteuer hineingestürzt, als sich die Möglichkeit zur Auswanderung ergab.
Weil Auswanderung ist es, obwohl mit dem IC nur zweiundfünfzig Minuten Fahrzeit. Aber: durch einen Tunnel! In eine andere Klimazone! In ein anderes Dialektgebiet! In eine andere Wirtschaftswelt! Zu anderen Menschen! Nah an die Landesgrenzen zu den Deutschen und den Französinnen und Franzosen, nah zu seiner Schwester, die mit ihren beiden Söhnen hier lebt.
Vor sich sieht Müller in diesen Minuten die Postleitzahlen 4000 bis 4059. Als neonfarbene Ziffern tanzen sie spiralförmige Muster vor sein geistiges Auge, was auch immer das ist. Rot und grün und gelb und blau sagen sie ihm nicht «ciao, ciao, ciao», sondern «salut», weil er zwar weggegangen ist aus der einen Stadt, aber angekommen ist an seinem neuen Wohnort. Wo sich Tram- und Buslinien in Quartiere hinausbewegen, die er nicht kennt, eine fremde Geografie voller rätselhafter Wörter: Merian-Iselin? Gotthelf? Bachletten? Am Ring? Gundeldingen? Matthäus, Kleinhüningen, St. Johann, Breite, Clara, Klybeck, Wettstein … Diese Wörter hört er jetzt, mit viel Hall und Echo und verzerrt. Und eine Rückkopplung, als sei der Polizeifunk vollkommen hinüber, vernimmt er auch. Allmählich geht das spiralige Zifferngetanze über in ein unregelmässiges Gezucke und das Wortgehalle in ein Pfeifen, ein Pfeifen, ein Pfeifen, das hältst du im Kopf nicht aus.
Der Müller erwacht. Das Kopfkissen ist nass, sein ganzer Körper. Diese Hitze! Und schon hell? Wo ist er? Wo bin ich, denkt er, wo? Er schaut um sich, erkennt das Nachttischchen und das Buch darauf, den Wecker, der 05:12 anzeigt, die Deckenlampe, die er länger schon besitzt. Dort auf dem Horgen-Glarus-Stuhl sein blaues Hemd und die Hose. Verloren kann er also nicht sein, nur sich verloren fühlen. In der neuen Stadt, am neuen Wohnort, von dem er, ehrlich gesagt, gar nichts weiss.
Ausser: dass das Verbrechen auch hier existiert.
EINS (Mittwoch, 10. Juli)
Die Nacht kann dunkel sein. Vor allem bei Neumond in der Industriezone. Und einsam.
Die Nacht kann knallhellgrell sein. Das Mündungsfeuer macht’s.
PENG.
Aber das siehst du nicht. Und falls doch, bist du tot. Oder, weil nicht alle treffen gut, bist du in Panik. Weg hier, zuckt er durch dich hindurch, der Gedanke, der dir Brücke wäre zurück in Sicherheit, ins problemlose Leben, ins problemärmere. Hey, da will dich jemand fertigmachen, auslöschen, umbringen, töten, killen. E.R.S.C.H.I.E.S.S.E.N. Du wendest dich ab, als du es siehst, auch wenn du es nicht verstehst, dass er eine Waffe zieht, gezogen hat, du weichst zwei, drei, vier Schritte zurück.
Wer könnte schon verstehen, was geschieht in so einer Situation? Da fehlt fast allen die Erfahrung.
Keine Zeit, um nachzudenken: Du rennst mit deinen Sneakers, deinen Markensportschuhen, haha, weit kommst du nicht. Vielleicht hat jemand den Schuss gehört und deine Schritte, als du weggerannt bist, und hoffentlich die 117 gerufen? Und den PENG zweiten Schuss? Hört ihn jemand?
Träum schön! Hat nicht, hat niemand, niemand hat etwas gehört: Oslo-Strasse, Dreispitz, Logistikunternehmen, Container, Kräne, verwaiste Bahngeleise, Lagerhallen, teils ungenutzt, ein Schrottplatz, Laderampen, leerer Asphalt, die Speditionsmitarbeiter seit Stunden weg, der Campus der Kunsthochschule, das Ateliergebäude nachts verlassen. Niemand hier.
Nur du und er.
Du rennst. Bist du getroffen? Der Schock, dass der wirklich auf dich geschossen hat, schiesst, nicht lockerlässt. Am Ärmel, nein an der Schulter … ist das Blut? Ja, du bist getroffen.
Hinter dir Schritte, er verfolgt dich. PENG. Ein dritter Schuss. Der dritte Schuss. Der dritte Schuss. Arrivederci, bye-bye.
Wo die Oslo-Strasse in die Florenz-Strasse mündet, rechts beim Poller, an der Ecke des schwarzen neuen Gebäudes mit dem dänischen Konsulat und der Plattform für digitale Geschäftsfelder drin, dort finden sie dich. Aber erst am nächsten Morgen. Du bist längst ausgekühlt.
Lufttemperatur 22 Grad Celsius schon frühmorgens.
ZWEI (Donnerstag, 11. Juli)
07:16 Uhr. Der Anruf kommt von Daniel Stickelberger persönlich, dem Ersten Staatsanwalt, dem Chef des Chefs. Der Tote ist der Sohn eines Nationalrats, von der Partei, die Lärm macht, viel Lärm und lieber Lärm als Lösungen vorschlägt. Gymnasiast ist er, war er, neunzehn, keine Vorstrafen, keine Vorgänge registriert, «unbeschriebenes Blatt», hiess es vordigital. «Übernehmen Sie das persönlich, Müller», sagt der Erste Staatsanwalt im fünften Stock in seinen Telefonhörer.
Neunzehn. Tot. Der Müller hasst das.
Also nichts mit langsamem Einarbeiten, Heranführen an den neuen Aufgabenbereich, die neuen Abläufe, Eingewöhnen in der fremden Stadt.
Der Müller zehn Tage im Amt.
Wäre er nicht Polizeimann, sondern Künstler, würde man sagen: «lebt und arbeitet in B.», als wäre für einen wie ihn, wie Sie, wie mich das eine ohne das andere überhaupt möglich.
Erst wenige Tage ist er in dieser Stadt, aber es reichte schon, um festzustellen, wie heiss es hier wird: Die Luft steht. Als Glocke hockt Satan Celsius über den Einwohnern. Glutofen.
«Wir fahren sofort hin», antwortet der Müller, legt auf und ruft Sermeter an, ob sie Zeit hat. Sie hat. Runter zum Parkplatz. Dunkelblauer Mondeo. Fahren los.
Blau jetzt ein. Horn höchstens bei Kreuzungen. Waaghof → rechts hoch → dann rechtwinklig links → Markthalle → Centralbahnplatz → Post → Grosspeter → Brücke über die Geleise. Der Müller hat sich die neue Geografie noch nicht einmal ansatzweise merken können. Das GPS kennt sich aus, die Kolleginnen und Kollegen natürlich auch. Im Müllerkopf ist ein anderer Stadtplan eingebrannt. Die zwölf goldenen Stadtkreise am unteren Seebecken. Die blau-weisse Landkarte wird jetzt, kannst du dir beim Zürimüller zwar nicht richtigrichtigrichtig vorstellen, wird jetzt auf dem Status quo einfrieren, allmählich verblassen und überschrieben werden. Der Müller jetzt voll Basel? Nordwestschweiz? Wirklich? Ja, so ist es. Und der Müller jetzt bei der Staatsanwaltschaft und nicht mehr bei der Polizei? Halt, falsch, stimmt nicht, Erklärung folgt gleich. Wichtiger Schweizergrundsatz: «Das ist von Kanton zu Kanton verschieden», also sechsundzwanzig Kantone, Föderalismus, Autonomie und so weiter. Obwohl fürs ganze Land nur eine Strafprozessordnung und nur ein Strafgesetzbuch. Sobald nämlich das StGB ins Spiel kommt, übernimmt im Kanton Basel-Stadt das Kriminalkommissariat den Fall, und das Kriminalkommissariat, also Müller, gehört zur Staatsanwaltschaft. Okay? Da gab es eine Vakanz, und Oberleutnant Tschudin von der Rekrutierungsstelle hat den ihm von einer Plauderhalbstunde her bekannten Müller informell angerufen. Der Müller hat formell eine Bewerbung geschickt und so weiter et cetera, was verlängere ich’s → prozedural und formal alles i. O. → Seit Anfang Monat ist der Müller steuerrechtlich und beruflich ein Basler.
Neuorientierungsmotivation auch: Seine Schwester Doris und ihre Kinder wohnen hier, und dieser Scheissclaudio ist endlich weg aus ihrem Leben, Kinderbesuche nur noch unter Aufsicht, weiss der Teufel, was da war oder sein könnte. Willst du gar nicht alles wissen. Doch! Als Polizeimann und als Bruder und als Mensch musst du, weil Kindeswohl und Kindesschutz! Nicht dass Claudio … texten wir hier nicht aus, sonst ist fertig lustig.
Der Müller also, wiederholen wir es kurz und schmerzlos, ist neu ein Bebbi. Plötzlich lebst du in einem … in einem Halbkanton, der sich anfühlt wie ein ganzer und vollwertiger. Item: Basel. Das bedeutet, denken wir nach, um nichts Falsches zu sagen, weil «Slippery When Wet» (Bon Jovi), die Ortsveränderung bedeutet einen Kulturclash. Zürich und Basel … äh … fangen wir so an: In Zürich heisst es Grossmünster, in Basel lediglich Münster. Da kommst du schon ins Denken, was das als Subtext und im U-Bewussten aussagt, wenn du dir das genauer überlegst. «J’ai jamais rien vu d’aussi haut / Oh! C’est haut, c’est haut», schrieb Serge Gainsbourg, er habe nie so etwas Hohes gesehen, oh, wie hoch das sei! Er gab zwar vor, New York zu meinen, in Wirklichkeit meinte er Zürich und das Grossmünster und den Uetliberg, gestand er mir neulich.
Dort, in Zürich, gibt es zwei kleine Flüsse; hier auch zwei kleine, aber dazu noch einen ganz kleinen am Zoo vorbei und vor allem einen riesigen, der bis ans holländische Meer hinunterfliesst. In Zürich gibt es einen See, zugegeben, da bekommst du als Müller voll Heimweh und Augenwasser, auch wenn du in hässigen Sekunden denkst, das Seeufer sei völlig überfüllt und überbadet und übernutzt, und Geld für ein Schifflein hast du sowieso nicht. In 4000 gibt es ein fett gedrucktes Thema in Rot-Blau, den Fussballclub, der heilig ist für alle. Als Zugezogener lernst du in deiner ersten Woche: Fussball = diskursives Minenfeld, sozial verbotene Zone, wenn du nicht rot-blau denkst und dazu sogar noch einen verdächtigen Dialekt sprichst. Apropos: Den lokalen Dialekt darfst du nie und keine Sekunde lang nachahmen, sonst → «Hundert Jahre Einsamkeit» (G.G. Márquez). Weil Imitation nur blöd tönt. Die Tageszeitung mit dem rot-schwarzen Layout lesen? Willst du das wirklich? Etwas Unbedachtes über Chemie und Pharma sagen? → Wärst du sofort aussätzig. Witze über Familiennamen mit ck und dt und v? Vergiss es einfach.
Hier braucht der Müller ein neues Koordinatensystem. Muss er sich umgewöhnen. Das betrifft auch die Polizei. Der Wissenschaftliche Dienst ist hier nicht der WD. Er heisst hier Kriminaltechnische Abteilung.
Ruhig jetzt! Fokussieren! Konzentration! Strassenverkehr!
Wo waren wir? Mit Müller und Sermeter im Auto. Bahngeleise! Unten fahren die Züge nach Zürich vorbei, auch die nach «Germania» (Tacitus), «Olten» (Lenz), «Bern» (Hofer), Luzern, Lugano, Delémont. Der Zug nach Zürich ist kein Einzelfall, auch andere Linien führen weg von hier. Keine Zeit für Sentimentalitäten.
Also, da capo: Brücke über die Bahngeleise → «Münchensteinerstrasse» liest der Müller jetzt. Sermeter fährt ruhig, schnell, sicher. Autovertretungen, eine nach der anderen, an dieser Strasse. All diese Marken, zum Beispiel ☐☐☐☐☐☐ und ☐☐☐☐☐, ☐☐ und ☐☐☐☐ sowie ☐☐☐☐ aber auch ☐☐☐☐ und nicht zu vergessen: ☐☐☐☐, obwohl ein ☐☐☐ auch nicht verachtenswert wäre. Gleich hinter der Stadtgrenze biegt Sermeter rechts ab. Biegt sie also, sage ich, rechts in eine kleinere Strasse ab → «Florenz-Strasse» liest der Müller, wir sind in der weiten Welt. Dann sieht er zwei Patrouillenfahrzeuge, die Uniformierten, die Absperrung. Links die Oslo-Strasse, schmal zwischen einem grossen hellen und einem dunklen Gebäude. Versenkbare Poller verhindern die Durchfahrt. Die Kriminaltechniker. Sermeter fährt rechts ran, sie steigen aus, der Müller sofort vorwärts.
Ein schrankförmiger Uniformierter will ihn aufhalten, Sermeter sofort dazwischen: «Das ist Kriminalkommissär Müller.»
«Ah, pardon, willkommen», sagt der Breitschultrige. Immerhin macht er keinen Zürcherwitz.
Paul Flückiger, auf dem Rücken liegt er, die Schulter blutig. Blutig auch das bedruckte T-Shirt vor dem Bauch. Zwei Kugeln im Körper. Der Asphalt voller Blut, eingetrocknet. Der Tote muss etliche Stunden hier gelegen haben, die halbe Nacht.
Ein schöner junger Mann, denkt der Müller. Das Gesicht entspannt, fast lächelt er. Seine Augen starren nutzlos in den Himmel, die Haare, blond, halblang, Wuschelkopf, haben ihre Spannung nicht verloren, das dunkelblaue T-Shirt mit schwarzem Aufdruck «Stereo», graue Cargohose, blau-weisse Markensportschuhe. Die eine Hand unterhalb des Herzens vor der Brust. Den anderen Arm nach rechts abgespreizt.
Sie haben ihn von hinten erwischt. Wort «sie» = Behelfskonstruktion. Weil alles ist möglich.
Der Müller schaut. Sermeter schaut. Hart, abgebrüht, abgestumpft vielleicht die Polizisten, weil zu viel gesehen all die Jahre bei ihren Einsätzen? Mag sein, durchaus, vergiss es trotzdem: Maschinen sind die Polizisten nicht. Manch einer betrachtet den toten Menschenkörper, und in seinem Innern formuliert sich wie von Adam Smiths unsichtbarer Hand ein «Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe …». Im heiligen Rhythmus spricht die Seele weiter, gedanklich weit entfernt von diesem erbärmlichen Ort, diesem Pfuhl, wo ein Mensch auf dem Asphalt sein Leben ausgehaucht, wie es poetisch heisst, hat. Besondere Betonung bekommt das Gebet, kalt überläuft es das Rückgrat jetzt bei der Stelle: «und erlöse uns von dem Bösen …»
Der Müller: «Wer hat ihn gefunden?»
Sie kennen das: Die Polizeimaschinerie schaltet von null auf hundert, und wir müssen, bevor Sie sich zu viele Fragen stellen, etwas klären: die Zuständigkeit.
Lagerhäuser, Containerterminal, Eisenbahnschienen, die Asphaltstrassen kreuzen. Da und dort wächst aus Rissen im Pflaster Gras, kleine Blümchen sogar, sie trotzen den Temperaturen. Lkws stossen ihren schwarzen Rauch aus. Langsam kreischen Güterwagen auf den Gleisen, die mitten durch den Dreispitz führen, geschoben oder gezogen von roten Rangierloks. Endstation Laderampe. Ein Gabelstapler surrt, darauf ein rauchender Mann mit Mütze, Oberkörper nackt. Gleich links neben dem Fundort der Leiche der Campus der Kunsthochschule, Atelierlofts, die Cafeteria. Weiter hinten ein Turm mit Hörsälen und Arbeitsräumen. Semesterferien jetzt, kaum Studentinnen und Studenten da. Ein Platz, der Freilager-Platz, bei dessen Überquerung Passanten zu dieser Jahreszeit bereits frühmorgens geröstet und im Winter von der Bise schockgefroren werden. Hoch darüber ragt ein Riegel mit Eigentumswohnungen auf und schiebt zackenförmig Balkone zur Tramlinie hin. «Hoch hinaus ist nie zu tief», behauptet kühn das Diodorische Axiom.
Stehen Müller Benedikt und Sermeter Gülay vom Kriminalkommissariat Basel-Stadt also jenseits der Kantonsgrenze auf basellandschaftlichem Gebiet und schauen zu, wie der Tote daliegt. Gibt das nicht interhalbkantonalen Zwist? «Strafprozessordnung» heisst der Rettungsanker. Wenn sich der Tatort nicht eindeutig feststellen lässt, ist die Behörde des Wohnorts des Opfers zuständig. Und unklaren Tatort haben wir hier: Zwei Patronenhülsen liegen an der Ecke Wien-/Münchensteinerstrasse auf Stadtbasler Gebiet, die Blutspur zieht sich von da tropf tropf über die Stadt- und tropf Kantonsgrenze bis zur tropf Stelle, wo das Opfer zusammengebrochen ist, nachdem zum dritten Mal auf es gefeuert wurde. Auf Münchensteiner Gebiet, Kanton Baselland. Dort, am Beginn der Oslo-Strasse, wo links das Ateliergebäude der Hochschule für Gestaltung und Kunst anfängt und rechts der dunkle Neubau «Oslo Nord», liegt die dritte Hülse.
Hier draussen sehen sich der Müller und Sermeter um. Der Pathologe kommt, Händeschütteln, François Haberthür heisst er. Haberthür, klein, schnell, nicht unfreundlich, erfahren, betrachtet den Toten von allen Seiten, und nach einer Weile nickt er. Auf dem Müller seinen Frageblick hin: «Zwei Treffer, würde ich auf Anhieb sagen. Einer traf vermutlich die Schulter, der andere schlug in den Rücken ein.»
Drei Hülsen → zwei Treffer = gute Quote. Amateure und Hobby-Gewalttäter brauchen gewöhnlich mehr Versuche, bis die Zielperson tot ist. Versuchen Sie mal, ich meine das natürlich rein theoretisch und rhetorisch, versuchen Sie mal jemanden zu erschiessen. Sie werden merken: a) ethisch-moralisches Dilemma («Thou shalt not kill», sagt das Fifth Commandment von The Holy Bible), b) woher kriegst du eine Waffe? (Das persönliche Sturmgewehr ist für unsere Versuchsanlage höchst ungeeignet.), c) die Schussabgabe selbst ist nicht ohne, weil c1) die Waffe ein Gewicht hat, c2) der Arm aufgrund der physischen Anstrengung die Tendenz hat zu zittern, c3) die Operation innert sehr kurzer Frist abzuwickeln ist, weil die Zielperson vermutlich sofort die Flucht ergreift oder Abwehrhandlungen einleitet, und c4) beim Betätigen des Abzugs noch einmal mechanische Kräfte auf die Waffe einwirken, wodurch die ursprünglich beabsichtigte Flugbahn des Geschosses sich noch einmal zuungunsten des Schützen verschieben dürfte, zumal c5) die Urteils- und Handlungsfähigkeit des Schützen nicht selten durch emotionale Erregung getrübt ist, was der Zielperson c6) zum Heil gereichen oder c7) ein veritables (vor allem bei automatischen und halbautomatischen Waffen) Übermass an gegen sie abgefeuerten Projektilen bescheren kann («Overkill»). Kurz – und ich betone ausdrücklich: rein rhetorisches und theoretisches Gedankenspiel, jede Haftung im Sinne von Art. 24 StGB (Anstiftung zu einem Verbrechen) weise ich kategorisch zurück – entweder vermasselst du die Chose und schiesst daneben, oder du durchlöcherst ihn so siebmässig, dass seine Überreste auf dem Asphalt eher flüssig sind denn fest.
Zurück an die Oslo-Strasse zum Pathologen. Haberthür macht seine Arbeit und kann zum Müller schon sagen: «Keine Kontaktwunde. Schussabgabe vermutlich ungefähr vom Fundort der Hülsen.» Als Polizeimann weisst du: Er wird dir den Todeszeitpunkt, die Reihenfolge der beiden Treffer und die genauere Schussdistanz später nennen und die Ballistiker von der Kriminaltechnischen Abteilung das Kaliber, die Schusswinkel, alles.
Ausserdem die Kriminaltechnik am Tatort Fotos und Trallala, Körper abkleben und so weiter, muss ich nicht beschreiben, was die tun, «CSI: Vegas», Sie kennen das vom Fernsehen, wo die Wirklichkeit für den Film adaptiert ist. Und der Müller und Sermeter lesen den traurigen Schauplatz ins Gehirn ein, versuchen sich jede Einzelheit zu merken. Die Berichte des Pathologen und der Kriminaltechnischen Abteilung, die du auf deinem Desktop haben wirst, sind das eine. Die persönlichen Eindrücke, die HD-Auflösung der Wirklichkeit, der Geruch, die Position des toten Körpers im Kopf zu haben sind das andere. Am Tatort spürst du die Not des Opfers. Zu spät.
Den Namen des Toten wissen wir. Die erste Streife, die den Fundort gesichert hat, hat in seiner Tasche den Ausweis gefunden, der Zentrale durchgegeben, die den Staatsanwalt avisiert und der den Müller, et voilà. Manche Dinge sind manchmal einfach.
Nun müssen wir zum Toten recherchieren. → Telefonieren. Schickst du als Müller deshalb deine Equipe los, weil ein afrikanisches Sprichwort sagt: «Wenn du schnell vorwärtskommen willst, mach es allein. Wenn du weit kommen willst, mach es gemeinsam.» Bedeutet hier: Hintergrundüberprüfung: Persönlichkeit und Umfeld des Opfers. Familie, Schule, Freunde, Sportverein? Jetzt in den Schulferien, Donnerstag, 11. Juli, nicht ganz einfach, weil alle sonst wo in der Welt verstreut. Die Stadt hat sich geleert. Die hiergeblieben sind, sind glücklich, weil sie Platz haben und Ruhe, ausser sie wohnen Wand an Wand mit einem Lärmhaus, wo Kurzzeitgäste Kurzzeitappartements gemietet haben und auf dem Balkon rumgrölen und die Lautsprecher mit Idiotenmusik voll aufdrehen, aber noch nicht zu dieser taghellen Uhrzeit. Die schlafen wohl noch ihren Rausch aus.
Machst du dir womöglich Vorstellungen über den Toten, wenn du die Parteizugehörigkeit und den politischen Ruf seines Vaters kennst («Parteifreunde und politische Gegner bezeichnen Nationalrat Ruedi Flückiger als ‹hart, aber integer›, als ‹umgänglich, aber unnachgiebig›, als ‹konsequent und taktisch geschickt›», schrieb unlängst eine Regionalzeitung, weil sie über eine Bundesratskandidatur spekulierte). Der Müller als Migrant aus Zürich und vorher Aargau ist nach elf Tagen am neuen Dienstort natürlich nicht in die Regionalpresse eingelesen und unbeleckt von der örtlichen Notablenhierarchie, also tendenziell unvoreingenommen. Auf den Namen «Nationalrat Flückiger» hin geht in seinem Kopf kein 30-Sekunden-Ressentiment ab. Aber Vorstellungen haben wir schon, ungefähr so: Wenn einer dieser Partei angehört, gebe es nur drei Möglichkeiten: Der Politiker sei a) fleischig, angefettet, Riesenpranke, laute Stimme, glatt rasiert bis zur Schmerzgrenze und Augen mit