41'285 km² Verbrechen: Kriminalpoesie à gogo
Von Raphael Zehnder
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Über dieses E-Book
Ob in den eigenen vier Wänden, am Arbeitsplatz, bei einem Spaziergang im Wald oder in den Weiten des Internets – Verbrechen geschehen überall und zu jeder Zeit. Kommissär Müller und Detektivwachtmeisterin Gülay Sermeter von der Basler Kriminalpolizei und Bucher Manfred von der Polizei Zürich haben sich dem Kampf gegen die Gesetzlosigkeit verschrieben und berichten in poetischer Form von Hunderten Kriminalfällen aus allen Ecken der Schweiz.
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Buchvorschau
41'285 km² Verbrechen - Raphael Zehnder
Raphael Zehnder wurde 1963 in Baden AG geboren und verdiente sein Geld als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, bevor er in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft promovierte. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. 2015 wurde er mit dem «Zürcher Krimipreis» ausgezeichnet. www.raphaelzehnder.ch
Vielleicht ist dieses Buch ein Roman. Mono, aber auch mit handelsüblichen Stereo-Gehirnen lesbar. Alle Begebenheiten und Figuren in diesem Buch sind wahrhaftig erfunden.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive shutterstock.com/Rauf Aliyev, shutterstock.com/Imnamlas
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-038-9
Kriminalpoesie à gogo
Originalausgabe
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Den Kolleginnen und Kollegen
im Blaulichtdistrikt gewidmet –
und natürlich Annette, Julius und Vinzenz.
In memoriam Alberto Zehnder (1935 – 2019)
Was ist ein Einbruch in eine Bank
gegen die Gründung einer Bank?
Bertolt Brecht
Einige Leute müssen gehen.
Tony Soprano
Das Leben ist hart,
aber wenn man blöd ist,
ist es noch härter.
Jackie Brown in
«Die Freunde von Eddie Coyle»
von George V. Higgins
Einsatzplanung
Ende Mai, Feierabend, schwül, Zürich, Gartenwirtschaft am See. Wir sind zu viert plus die Enten und Schwäne. Drüben die Enge und dahinter der Uetliberg.
Vor uns halb leere Gläser und volle Teller.
«Wollen wir alles mal aufschreiben?» Bucher Manfred, Detektivwachtmeister bei der Polizei Zürich, meint es ernst. «Unsere Erlebnisse … Interessiert vielleicht die Leute, oder?»
«Warum nicht?», fragt Gülay Sermeter, Kriminalpolizistin in Basel, besonders befasst mit Verbrechen im elektronischen Raum.
Der Müller zweifelt. «Denkt ihr?»
Mit Gülay verbindet ihn die Liebe. Mit Manfred, seinem besten Freund, hat er vor einem Vierteljahrhundert die Polizeischule absolviert und in Zürich über zwei Jahrzehnte Dienst getan. Die zwölf Stadtkreise rauf und runter, Leimbach bis Neuaffoltern, Altstetten bis Seefeld, quer durchs Strafgesetzbuch. Seit einigen Jahren wohnt er wie Gülay und ich in Basel und bekämpft als Kriminalkommissär das Verbrechen. Mich kennen die drei von meinen Krimis.
Drei Stockenten paddeln vorbei. Grün schillern ihre Köpfe. Drei Männchen.
Manfred visiert seine Salatschüssel an. Wird er mit dem Sellerie anfangen, mit den Karotten oder den Tomaten? Gülay nagt an einem Pouletschenkel, Müller schneidet das Schnitzel klein, und ich winke dem Kellner: Bitte nochmals vier IPA.
Gülay antwortet als Erste: «Das gibt doch was her, nicht? Wer weiss schon, was wir tun? Sie meinen, wir verteilen Bussenzettel oder schiessen Kriminelle über den Haufen. Oder … wir haben nicht alle Teller im Schrank wie die Fernsehkommissare.»
Sie lachen.
Manfred findet Gefallen an seiner Idee. «Die Leute mögen Geschichten – erst recht Kriminalfälle. Aus sicherer Entfernung das Elend der Welt betrachten …»
Er lässt den Satz in der Schwebe.
«Mhm», gibt der Müller Laut, während seine Zähne Pommes frites zerkauen. Mhm bedeutet, er wird gleich etwas sagen.
Das Bier kommt, der Kellner füllt die Gläser.
Das Bier schmeckt kühl und bitter gut. Auf dem See wellen sich die Wellen. Enten enten hinter Enten her. Pedalos sind unterwegs.
«Erzähl», wendet sich Müller an Manfred, «wie stellst du dir das vor?»
«Wir alle … notieren Fälle, an denen wir gearbeitet haben, wir oder Kolleginnen und Kollegen. Das bringen wir in eine … interessante Form.» Er schaut mich an. Er spürt: «Interessant» klingt reichlich vage.
Müller sagt: «Fälle … wie denn? Ich meine, wir alle haben Hunderte von Fällen bearbeitet. Das übertrifft jeden amerikanischen Roman.»
Zu mir sagt er: «Dein Schnitzel wird kalt.»
Da hat er recht.
Möwen kreischen. Der Zürichsee liegt schlapp in seinem Becken.
«Wir wählen aus», schlägt Gülay vor, «damit sich die Geschichten nicht wiederholen.»
Sie streicht sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen hinters Ohr.
«Auswählen? Nach welchen Kriterien?», fragt Müller. «Was wir tun, schafft es ja kaum in die Medien oder ins Kino.»
«Oder in ein Buch», werfe ich ein, um zu beweisen, dass ich auch dabei bin.
«Ein Buch, ja!» Begeisterung bei Manfred.
Er spiesst mit der Gabel Salatblätter auf, schiebt sie in den Mund, kaut, und seine Augen pendeln zwischen uns.
«Du bist der Protokollführer», sagt der Müller zu mir. «Du kennst alle Buchstaben.»
«Du auch», gebe ich zurück.
«Falsch. Ich habe ein Korrekturprogramm.»
Dann lachen die gemeinen Hunde.
Gülay fährt fort: «Du schreibst, und wir kramen in unseren Erinnerungen, fragen in unseren Teams nach und schicken dir Notizen.»
«Solche Sachen zum Beispiel?», regt Manfred an.
Blaulicht bedeutet: Vielleicht bleibt noch Zeit.
Kein Blaulicht: Willkommen in der Ewigkeit.
«Warum nicht?», findet Gülay. «Aber näher an den Fällen, anschaulicher.»
«Näher am Lebendigen», sagt Müller.
Weit im Westen im Limmattal ist die Sonne untergegangen. Kein Lüftchen weht, aber Ende Mai ist die Stadt Zürich immerhin noch nicht ultrahocherhitzt. Der Kies knirscht, wenn neue Gäste dazukommen und die beiden Kellnerinnen und ihr Kollege Bestellungen aufnehmen und Teller und Flaschen an die Tische bringen. Zu uns jetzt eine Flasche Mineralwasser und Brotnachschub. Sauce auftunken.
Auf dem Wasser schwimmen zwei Schwäne vorbei.
Müller zweifelt weiter. «Keiner hat die Geduld, eine Tonne Material zu lesen. Vor allem nicht über kleine Delikte. Schusswechsel und Verfolgungsjagden, das wollen die Leute. Aber … Scheckbetrug, Ladendiebstahl, Ehrverletzung … nein. Ein Hacker kann in deinem Computer enormen Schaden anrichten, aber wie willst du das erzählen?»
Stumm tauchen Egli und Albeli unter Entenfüssen hindurch. Im Westen steht ein rosa Wölkchen.
Gülay sagt: «Wir fassen alles zusammen. Ein paar Sätze. Das Wesentliche. Kein Schnickschnack, keine langen Beschreibungen.»
Ich denke: klingt gut. Dann brauche ich nicht zu recherchieren, wie die Tapete am Tatort ausgesehen und welche Hose das Opfer getragen hat.
«Das. Machst. Du. Die Form», sagt Gülay und zeigt auf mich, als ob sie gemerkt hätte, dass ich mich schon zurücklehne, geistig gesprochen.
Hoch oben fliegt ein Jet mitten durchs rosa Wölkchen und zerstört es.
«95 Prozent der Polizeiarbeit sind Büroarbeit», ergänzt Manfred, «da schadet es nicht, sich beim Erzählen auf den Kern zu beschränken.»
«Niemand will zusehen, wie wir E-Mails schreiben, telefonieren und Datenbanken abfragen.» Der Müllerpragmatismus.
«Oder wie wir Datenträger sicherstellen und mit der Auswertung beginnen.» Der Sermeterpragmatismus.
«Akten studieren, Besprechungen abhalten, Rapporte schreiben.» Der Buchersarkasmus.
Nachdenken.
Der Müller sagt, und wie er es formuliert, wirkt es wie eine Dienstanweisung: «Wir beschränken uns beim Erzählen aufs notwendige Minimum. Die Leserinnen und Leser sollen sich im Kopf ihre eigenen Bilder machen.»
«Gefällt mir», sagt Gülay.
«Kein Blut in Nahaufnahme», fasse ich zusammen. «Kein Grusel- und Psychozeug, keine Cellomusik, die Bedrohung ausdrücken soll, keine Killerclowns, keine mondsüchtigen Serientäter, keine Kettensägen, keine apokalyptischen Schiessereien.»
«Nur wenn nötig», antwortet Manfred, «nur, wenn es tatsächlich so war.»
«Die Wirklichkeit, wie wir sie erleben», setzt Gülay hinzu.
«Mhm», sagt Müller.
Auf einem Dach setzt eine Amsel zum Abendgesang an, obwohl die Sonne längst untergegangen ist.
Auf den Tellern sind nur noch Saucenschlieren zu sehen.
Gülay lässt die Sache keine Ruhe. «Kurze Texte also, gut. Aber wie bauen wir die Sammlung auf?»
Manfred: «In der Reihenfolge der Artikel im Strafgesetzbuch?»
«Mhm», sage ich, und der Müller ergänzt: «Die Tötungsdelikte hintereinander, die Verletzungen des Postgeheimnisses, die Vermögensdelikte … nein, das ist zu eintönig.»
«Wir könnten den Stoff chronologisch ordnen», schlägt der Müller vor.
Gülay: «Nein, so wären die Fälle zu leicht identifizierbar. Persönlichkeits- und Datenschutz …»
Manfred: «Was ist mit Vorfällen, die mit einem Freispruch geendet haben oder bei denen das Verfahren eingestellt wurde? Das würde Freigesprochene als mutmassliche Täter verewigen …»
Die mondsüchtige Amsel auf dem Baum singt noch immer. An den anderen Tischen murmeln und lachen andere Gäste.
Der Kellner tritt an den Tisch und fragt: «Ein Dessert?» – «Vier Espresso», sage ich, ohne die Freunde zu fragen. Die anderen nicken.
Manfred steht auf und begibt sich ins Restaurant. Wir hören dem Knirschen des Kieses unter seinen Schuhen zu und sagen nichts. Es ist wunderbar, der Windstille zuzuhören, den Vögeln, den Wellen und den Blättern des Kastanienbaums über der Gartenwirtschaft beim Wachsen.
Als Manfred zurückkommt, sagt er: «Nach den sieben Todsünden? Das wär doch was, oder? … Hochmut, Habgier …» Da stockt er, doch Gülay hilft ihm weiter: «Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit … sieben … ja, das sind alle.»
Müller schüttelt den Kopf. «Das wirkt antiquiert. Und meist kommen bei einer Straftat mehrere dieser … Sünden zusammen.»
Manfred: «Wenn ihr immer Nein sagt, könnt ihr auch mal eine Idee beisteuern.»
Er wirkt ein bisschen beleidigt, aber so falsch liegt er nicht.
Gülay: «Nach Orten? Ein Kapitel Basel, eines Zürich, eines … ich weiss nicht … Bern?»
«Ich, ähm …», beginne ich, ohne eine Idee zu haben.
Zum Glück fällt in diesem Moment am Nebentisch ein Glas zu Boden, das auf dem Kies nicht einmal zerbricht. Ich bin gerettet, und der Müller springt für mich ein.
«Wir ordnen die Fälle nach dem Ort.»
Verständnisfrage von mir: «Also wie Gülay gerade gesagt hat: Zürich, Basel, Bern, Genf, Lausanne …?»
«Nein, nicht so», der Müller ungeduldig, «sondern … Delikte am Arbeitsplatz, im häuslichen Umfeld, unter Freunden und Bekannten, im Quartier …»
«… im Internet», ergänzt Gülay.
«Eine kriminelle Topografie», sage ich.
«Viel zu akademisch», meint der Müller.
«Das bedeutet …», will ich erklären.
«Was meinst du mit ‹Topografie›?» Gülay schaut mich interessiert an.
«Ein Topos kann ein Ort im eigentlichen Sinne sein –»
«Oh, oh», sagt Gülay, «ein Topos …»
«Du und deine alten Sprachen», frotzelt Manfred.
«Viel zu kompliziert», sagt Müller.
Ich fahre fort: «Jetzt lasst mich doch … also ein Tatort: die Nachbarschaft, der öffentliche Raum. Ein krimineller Ort kann auch ein Kreis von Personen sein, eben Partnerschaften, Freunde und so weiter. Das Internet», da nicke ich Gülay zu, «ist auch ein Ort, ein virtueller, aber mit realen Delikten.»
Gülay, Manfred und Müller lehnen sich zurück, und der Müller sagt: «Ich wusste gar nicht, dass du so lange am Stück sprechen