Das Herz des Vedanta: Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upanishaden
Von Shankaracharya und Emanuel Meyer
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Über dieses E-Book
Dieses Buch enthält das Opus magnum des größten alt-indischen Philosophen, Mystikers und Reformators, Sri Shankaracharya. Es vermittelt in über tausend Strophen die Quintessenz der Lehre vom Einen unveränderlichen nicht-dualen Absoluten und beschlägt folgende Themen:
1. Die Anforderungen an den Gottsucher
2. Meister und Schüler
3. Die Schöpfung als Projektion auf das Selbst
4. Die Bedeutung des Axioms "Das bist du"
5. Methoden der Meditation, Zustände der Erleuchtung
6. Der Erleuchtete
Zusammen mit dem "Kronjuwel der Unterscheidung" und den "Sieben Kleinoden geistiger Erkenntnis" bildet das "Herz des Vedanta" eine Trilogie, die dem Leser umfassende Einsicht in die Philosophie des Advaita-Vedanta vermittelt und einen gangbaren Weg zur Erleuchtung, zum geistigen Endziel der Menschheit, und zur immerwährenden Glückseligkeit im Selbst offenbart.
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Buchvorschau
Das Herz des Vedanta - Shankaracharya
Aus dem Sanskrit-Original mit dem Titel ‘Sarva-vedānta-siddhānta-sāra-samgrahaḥ’ übersetzt von:
Emanuel Meyer
Christoph Rentsch
2. Auflage 2007
Alle Rechte vorbehalten
© 2003 by Heinrich Schwab Verlag
Eglofstal 42, D-88260 Argenbühl
Tel. 0049-7566-941957
Einbandgestaltung: Georg Weber
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
ISBN 978-3-7964-0523-5
Śrī Śaṅkarācārya
(788–820 A.D.)
Das Herz des Vedānta
Zusammenfassung
der Kerngedanken
sämtlicher Upaniṣaden
mit Begleitwort von
Emanuel Meyer
HEINRICH SCHWAB VERLAG
ARGENBÜHL-EGLOFSTAL
Inhalt
Cover
Impressum
Titel
Vorwort
Māyā-Pañcakam
Angaben über den Kommentator bzw. die Übersetzer
Abkürzungsverzeichnis
Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden
(Sarva-vedānta-siddhānta-sāra-saṁgrahaḥ)
Zuflucht zum Urgrund
Die vier Hauptthemen
Kapitel 1
Die vier Erfordernisse
Grundsätzliches
Unterscheidungskraft (viveka)
Innerer Abstand oder Losgelöstheit (vairāgya)
Grundsätzliches
Die schädlichen Folgen von Wünschen und Begierden
Methode zur Überwindung von Wünschen und Begierden
Das Übel von Geld und Besitz
Losgelöstheit gegenüber dem Vergänglichen
Die sechs Tugenden (śamādi-ṣaṭkam)
Stille der Gedanken (śama)
Grundsätzliches
Der Weg zur Stille der Gedanken
Beherrschung der Sinne (dama)
Geduld (titikṣā)
Entsagung (uparati)
Verzicht auf Tätigkeit
Unvereinbarkeit von Tätigkeit und Erkenntnis
Erkenntnis
Die zwei Wege
Erkenntnis und Wirklichkeit
Rituale und Entsagung
Glaube (śraddhā)
Meditative Versenkung (samādhānam)
Die Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutvam)
Kapitel 2
Der wahre geistige Meister, der Guru
Der wahre Meister
Des Schülers Hilferuf
Der Meister: Fürchte dich nicht!
Des Schülers Zweifel und Fragen
Vorschau auf die Lehre des Meisters
Gottes Gnade
Beginn der Unterweisung
Kapitel 3
Die Schöpfung
Projektionen auf das Selbst
Unwissenheit (māyā)
Die fein- und grobstofflichen Elemente und Körper
Der Kausalkörper (ānandamaya-kośa)
Die Entstehung der 5 feinstofflichen Elemente
Der feinstoffliche Körper und seine Hüllen
Einleitung
Die fünf Wahrnehmungssinne
Die vier geistig-seelischen Kräfte
Der Körper oder die Hülle der Erkenntnis (vijñānamaya-kośa)
Der Mentalkörper oder die Hülle des Gemüts (manomaya-kośa)
Die fünf Tatsinne und die fünf Lebenskräfte
Der Energiekörper oder die Hülle der Lebenskraft (prāṇamaya-kośa)
Zusammenfassung
Die Entstehung der fünf grobstofflichen Elemente
Die grobstofflichen Elemente, ihre Sinnesund Tatobjekte
Die Gottheiten der zehn Sinne und der vier geistig-seelischen Kräfte
Das Selbst und das Nicht-Selbst
Der grobstoffliche Kosmos
Einleitung
Vier Arten von Geschöpfen
Die Schöpfung als Kollektiv
Das Individuum
Zusammenfassung
Übersichtstabellen zu Kapitel 3
Kapitel 4
Das Selbst und das Nicht-Selbst
Grundsätzliches
Das Nicht-Selbst
Wie kommen Projektionen zustande?
Einleitung
Des Schülers Fragen
Die Antwort des Meisters
Die zwei Kräfte der Unwissenheit
Falsche Meinungen vom Selbst
Einleitung
Warum das Kind nicht das Selbst ist
Warum der Körper nicht das Selbst ist
Warum die Sinne nicht das Selbst sind
Warum die Lebenskraft nicht das Selbst ist
Warum ‘Manas’ (das Gemüt) nicht das Selbst ist
Warum ‘Buddhi’ nicht das Selbst ist
Warum die Unwissenheit im Tiefschlaf nicht das Selbst ist
Warum das Selbst nicht gleichzeitig bewusst und unbewusst sein kann
Der Irrtum, das Selbst sei Nichtexistenz
Das wahre Selbst
Einleitung
Warum das Selbst keine Nichtexistenz ist
Das Selbst als kontinuierlich existierender Zeuge
Das Selbst als Sein
Das Selbst als Bewusstsein
Das Selbst als Glückseligkeit
Die einzige Quelle wahrer Freude
Des Schülers Zweifel
Kein Glück in äusseren Dingen
Kapitel 5
Das Absolute
Das homogene Eine ohne etwas anderes
Das Höchste Selbst
Die Welt als Sinnestäuschung
Die Identität von Selbst und Absolutem
Das vedische Axiom Jenes bist du
Der wörtliche Sinn von ‘jenes’
Der wörtliche Sinn von ‘du’
Der übertragene Sinn von ‘jenes’ und ‘du’
Du bist reine bewusste Wirklichkeit
Die Unwirklichkeit der Traum- und Wachzustände
Du bist das Absolute
Keine Vielfalt, keine Dualität, kein Wandel
Du bist der Zeuge, das Absolute, reines Bewusstsein, reines Sein
Warum fürchtest du dich?
Du bist reine bewusste Wirklichkeit
Kapitel 6
Meditative Versenkung
Einleitung
Eignung und Grundlegendes zur Meditation
Zuhören, nachdenken, meditieren
Meditation mit und ohne Gedankeninhalt
Zweierlei Savikalpa-Samādhi
Meditation als Beobachter der inneren Vorgänge
Einleitung
Ich bin der Zeuge
Ich bin reines Absolutes Bewusstsein
Ziel und Hindernisse wahrer Andacht
Erlösung
Eindrücke und Neigungen
Unvereinbarkeit von Werken und Erkenntnis
Wahre Andacht
Meditation mit Worten aus der Heiligen Schrift
Nirvikalpa-Samādhi
Drei weitere Savikalpa-Samādhis
Einleitung
Meditation, um Projektionen zu beseitigen
Meditation über das zu negierende Äussere
So soll der Gottsucher meditieren
Nochmals Nirvikalpa-Samādhi
Die sechs Arten von Samādhi
Die acht Stufen des Yoga
Kapitel 7
Erleuchtung
Rückblick
Vorwort zu Kapitel 7
Der erleuchtete Schüler
Im Selbst verankert
Bekenntnis
Eine weitere Frage
Stufen und Zustände auf dem Weg zur Erlösung
Die sieben Stufen
Die neun Bewusstseinszustände
Definitionen
Der zu Lebzeiten Erlöste
Der Erlöste ohne Körper
Merkmale des Erlösten ohne Körper
Das Absolute
Das Erbe des Erlösten ohne Körper
Apotheose
Schlusswort des Meisters
Abschied
Nirvāṇa Ṣaṭkam
Die Quintessenz
Regeln für die Aussprache von Sanskritwörtern
Original-Sanskrit-Text in internationaler Umschrift
Vorwort
Das Leben des erhabenen Śaṅkarācārya ist in mancher Hinsicht ein Rätsel. Nicht einmal seine Geburts- und Todesdaten sind unumstritten. Nach vorherrschender Ansicht der Biographen erblickte Saṅkarācārya im Jahr 788 nach Christi Geburt in Kalāḍi bei Alwaye im südindischen Staat Cochin das Licht der Welt. Geburt und Kindheit waren von grossen Wundern begleitet. Sein Vater starb, als er noch klein war. Die Mutter liess ihn nur schweren Herzens ziehen, nachdem er – sechzehnjährig – das Mönchsgelübde abgelegt hatte.
Als Spross einer wohlhabenden Familie im Luxus aufgewachsen, entsagte er allem, nahm Abschied und wählte ein Leben der Armut auf der Suche nach der Wahrheit. Während der Wanderzeit fand Śaṅkarācārya seinen geistigen Mentor, Meister Govinda, der ihn nach Benares sandte, dem Zentrum der Wissenschaften und des geistigen Lebens. Sein Inspirator war Gauḍapādaācārya, der Guru seines Gurus, Begründer der Philosophie des Advaita-Vedānta im Kali-Zeitalter.¹)
Mit der Schöpferkraft eines Genies und der grenzenlosen Weisheit des Erleuchteten schuf Śaṅkarācārya in den zweiunddreissig Jahren seines Erdenlebens ein ge waltiges literarisches Werk, von erschöpfenden Kommentaren über die Brahma-Sūtras, die wichtigsten klassischen Upaniṣaden und die Bhagavad-Gītā bis hin zu den philosophischen Werken und einem Band von Gedichten von überirdischer Schönheit. Śaṅkarācāryas epochale Lehren sind der westlichen Welt nur beschränkt und vorwiegend in englischer Sprache zugänglich. Deutsche Übersetzungen sind selten. Die vorliegende ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ ist unseres Wissens die erste deutsche Direktübertragung aus dem Sanskrit-Original des wohl bedeutendsten Werks der Advaita-Vedānta-Philosophie.
Der überragende Teil von Śaṅkaras Lehrtätigkeit galt der Verbreitung des advaita-vedāntischen Gedankenguts, des nach Ansicht von Raphael, eines in Italien lebenden Erleuchteten, höchsten metaphysischen Pfades, den die Menschheit kennt. Dazu trugen die von ihm an vier Kardinalpunkten des indischen Subkontinents – Śṛṅgeri bei Mysore, Puri in Orissa, Dvāraka in Gujarat und Badrīnāth im Himālaya – gegründeten Klöster mit ihrer geistigen Tradition entscheidend bei. Von den sechs Denkschulen des Hinduismus geniesst der Advaita-Vedānta im modernen Indien mit Abstand die grösste Gefolgschaft.
Die kürzeste Definition des Advaita-Vedānta ist in der Schluṣtrophe eines Lehrgedichts von Śaṅkarācārya mit dem Namen ‘Blütenkranz von Versen über die Erkenntnis der Absoluten Wirklichkeit’ (brahma-jñāna-āvalīmālā) enthalten. Sie lautet:
Das Absolute ist wirklich, die Welt ein Trugbild. Die Seele ist das Absolute, nichts anderes. Mit diesen Worten ist die Wissenschaft der Wahrheit zu lehren. Das ist die Quintessenz des Vedānta.
Śaṅkarācārya ging als Reformator des Hinduismus in die Geschichte ein. Er befreite die zeitlosen vedischen Wahrheitslehren von den erstarrten Liturgie-Formen einer verknöcherten Priesterschaft und liess sie wieder in ihrem ursprünglichen Glanz erstrahlen. Er schaffte die grausamen Tieropfer ab, machte das Studium des Advaita-Vedānta allen Gläubigen, besonders auch den Frauen, zugänglich und drängte den als gott- und seelenlos verworfenen Buddhismus zurück.
Der Autor der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ gilt als göttliche Inkarnation in einer Zeit geistigen Umbruchs. Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und Präzision vermittelte er seinen Zeitgenossen und Dutzenden von Generationen nach ihm im Kleid erhabener dichterischer Schönheit einen Querschnitt durch die fundamentalen geistigen Lehren sämtlicher Upaniṣaden. Die Verfasser der Upaniṣaden sind begnadete Seher reinen Gemüts. Diesen Erwählten hat Gott die ewig unveränderlichen geistigen Gesetze für die dürstende, nach immerwährendem Leben in ununterbrochener Glückseligkeit lechzende Menschheit ins Herz geschrieben.
Śaṅkaras Opus magnum ist eine klare, wenn auch anspruchsvolle Vorgabe für den geistigen Pfad, ein für viele Menschen guten Willens gangbarer Weg zur Gotterfahrung. Dieser führt aus dem Bewusstsein der Dualität, gekennzeichnet durch die kosmische Macht der Māyā mit ihren Kräften der Verhüllung und der Projektion, hinaus in das Bewusstsein der All-Einheit mit dem Merkmal der einen unteilbaren Absoluten Wirklichkeit und Wahrheit.
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass europäische Gelehrte altindischer Philosophie die ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ nach Kriterien von Stil und Semantik einem angesehenen Autor des Mittelalters namens Sadānanda zuschreiben. Dieser lebte von etwa 1560 bis 1630 und wurde auch Sadānanda Yogīndra (König der Yogis) genannt. Der Titel deutet darauf hin, dass er schon zu seiner Zeit als Erleuchteter angesehen wurde. Sadānanda Yogīndra war Autor eines Werks über ‘Die Essenz des Vedānta (Vedānta-sāra)’, das von berühmten Philosophen wie Nṛsiṁha Sarasvati und Rāmatīrtha kommentiert wurde.
Massgebende indische Autoritäten widersprechen dieser Ansicht. Sie gaben den Übersetzern des vorliegenden Werks eine schriftliche Bescheinigung über die Urheberschaft Śaṅkarācāryas von Sarva-vedānta-siddhānta-sāra-saṁgrahaḥ. – Wie dem auch sei, die zeitlose geistige Botschaft und Gültigkeit des wohl bedeutendsten Werks über die Lehre vom einen, nicht-dualen Absoluten wird von niemandem in Frage gestellt.
Vorab einige grundsätzliche Betrachtungen zum Inhalt. ‘Hinduismus’ als Bezeichnung einer der grossen Weltreligionen ist in der eigenen Tradition ein Fremdwort. Der wahre Name heisst ‘Sanātana Dharma’, wörtlich die ‘immerwährende Pflicht’. Gemeint ist das ewig gültige, unveränderliche Pflichtgebot des Menschen, der ihm vom Schöpfer in die Wiege gelegte kategorische Imperativ, sich der Identität seiner innersten Seele mit der Absoluten Wirklichkeit bewusst zu werden oder – in Begriffen der christlichen Glaubenslehre – vollkommen zu sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist
.
Im Gegensatz zu den anderen Weltreligionen kennt das ‘Sanātana Dharma’ keine Gründerpersönlichkeit wie Moses, Jesus Christus, Mohammed, Buddha, Konfuzius. Seine Heiligen Schriften sind göttliche Offenbarungen, auf Sanskrit ‘śruti’, das Gehörte. Das von Gott offenbarte Wissen heisst ‘veda’, von ‘vid’ = wissen. Es gibt vier Vedas:
den Ṛg-Veda (Lobhymnen an die Götter),
den Yajur-Veda (Anleitung zu Opferritualen),
den Sāma-Veda (rituelle Gesänge),
den Atharva-Veda (okkult-mystische Abhandlungen).
Wissenschaftler haben versucht, das Alter des gesamten Veda anhand der Urschriften zu ermitteln. Ihre Ergebnisse weichen um Jahrtausende voneinander ab. Abgesehen davon sind solche Schätzungen unerheblich. Lange bevor die Vedas die Form von Hand- und Druckschriften annahmen, wurden sie nach alter Tradition in anfang- und endloser Zeitfolge vom Meister mündlich auf den auserwählten Schüler überliefert. Klangbilder und Metrum machten dem Novizen das Auswendiglernen zur Freude. Das strenge Versmass gehorchte aber nicht nur prosodischen Formzwängen. Es diente in hohem Mass auch Erfordernissen der Sicherheit. Oft wurden den Werken ingeniöse Schutzmechanismen in Gestalt unauffälliger Redefiguren eingebaut. Sie hatten den einzigen Zweck, nachträgliche Änderungen zu verhindern.
Erleuchtete wissen, dass der Veda nie nicht existierte und in alle Zukunft nie vergeht.
Jeder der vier Vedas besteht aus vier Segmenten: den ‘Saṁhitas’ (Urtext des Veda in Poesie), den ‘Brahmaṇas’ (Kommentar zum Urtext in Prosa), den ‘Āraṇyakas’ (Meditationen) und den ‘Upaniṣaden’. Diese werden auch Vedānta, wörtlich ‘Ende des Veda’, genannt.
Die ersten drei Segmente ergeben zusammen den einen Teil der Heiligen Schriften. Er handelt von religiösen Zeremonien und Opferritualen und heisst ‘Karma-kāṇḍa’ (ritueller Teil). Der Vedānta bzw. die Upaniṣaden bilden den anderen Teil der Heiligen Schriften. Dieser vermittelt das Wissen von der Absoluten Wirklichkeit. Er trägt den Namen ‘Jñāna-kāṇḍa’ (philosophischer Teil).
Śaṅkarācāryas ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ resümiert den Teil der Heiligen Schriften, der das Wissen vom Absoluten vermittelt, den philosophischen Teil der vier Vedas.
Der Aufbau von Śaṅkarācāryas Opus magnum ist unschwer zu erkennen, obschon im Original jede Gliederung nach Kapiteln, Abschnitten und Unterabschnitten mit den zugehörigen Überschriften fehlt. Er macht klar, für wen das Wissen vom Absoluten bestimmt ist, wer das vedische Wissen vermittelt und woraus das Wissen vom Absoluten besteht.
Niemandem ist es verwehrt, die Wissenschaft aller Wissenschaften zu studieren. Selbst eine Schnupperlehre kann sich als wertvoller Same erweisen. Ein wenig schon von diesen religiösen Lehren (dharma) schützt vor grosser Angst
, tröstet der Erhabene Kṛṣṇa seinen Schüler in der Bhagavad-Gītā (BhG 2,40). Gleich zu Beginn seiner ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ aber sagt Meister Śaṅkarācārya:
Nun werden die Grundgedanken der Wissenschaft des Vedānta zusammengefasst, damit die fest entschlossen Erlösung Suchenden Glückseligkeit und Erleuchtung finden. (Vers 4) – Als ‘geeigneter Sucher’ gilt, wer die vier Erfordernisse weitgehend erfüllt, logisch denken kann, intelligent und weise ist. (Vers 7)
Die vier Erfordernisse, die fest entschlossen Erlösung Suchende erfüllen müssen, sind im ersten Hauptabschnitt ausführlich dargelegt. Für diese ist das Wissen vom Absoluten bestimmt.
Wer vermittelt das vedische Wissen? Antwort: Der wahre geistige Meister. Diesen charakterisiert der Autor wie folgt:
In der Heiligen Schrift bewandert, in der Absoluten Wirklichkeit verwurzelt, friedvoll, allen gleich gesinnt, nicht an Besitz gebunden, nicht ichbezogen, jenseits aller Gegensatzpaare, frei von Habgier, unabhängig, rein, intelligent, ein Nektarozean der Barmherzigkeit. Diese Merkmale und Eigenschaften kennzeichnen den wahren geistigen Meister, den, der die Höchste Wirklichkeit kennt. Diesen muss der Wahrheitssucher von ganzem Herzen verehren, damit er das Ziel des Lebens erreiche. (Vers 252-253)
Über den wahren geistigen Meister unterweist der Autor den geeigneten Sucher im zweiten Hauptabschnitt.
Das umfassende Wissen vom Absoluten wiederum lehrt Śaṅkarācārya in den fünf Hauptabschnitten ‘Die Schöpfung’, ‘Das Selbst und das Nicht-Selbst’, ‘Das Absolute’, ‘Meditative Versenkung’ und ‘Erleuchtung’. Soviel zum Aufbau des grossen Lehrwerks über den Advaita-Vedānta.
Gleichsam als Meilenstein Null am Anfang der geistigen Wanderschaft schicken wir der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ Śaṅkaraācāryas kurzes Lehrgedicht über die kosmische Macht der Täuschung voraus, das:
Māyā-Pañcakam
Vers 1
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, bringt in Mir – dem Höchsten Bewusstsein, frei von allen Vorstellungen, dem Unvergleichlichen, Ewigen, Unteilbaren, Ungeteilten – die Verschiedenheit von Welt, Gott und Einzelseelen hervor.
Vers 2
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, verdüstert ohne Unterschied alle Einzelseelen, angefangen von den Vierbeinern bis hin zu den Weisen, welche hunderte heiliger Offenbarungsschriften einschliesslich der Upaniṣaden erläutern, indem sie ihnen Tag für Tag Reichtümer und Vergnügen vorspiegelt.
Vers 3
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, bindet das nicht-duale ungeteilte Bewusstsein vom Wesen der Glückseligkeit an den Ozean der Wiedergeburten, begrenzt durch Raum, Luft, Feuer, Wasser und Erde, und verwirrt es über alle Massen.
Vers 4
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, erzeugt im Höchsten Bewusstsein, das aus Freude besteht und frei von Unterschieden der Merkmale, Kaste und Geburt ist, die Vorstellung, ein Brahmane, ein Handwerker oder Bauer zu sein und die Illusion, Gattin, Kinder und Haus zu haben.
Vers 5
Māyā, ausserordentlich geschickt im Erschaffen von Unwirklichem, verwirrt über alle Massen selbst die Weisen, indem sie diese dazu verleitet, im Ungeteilten Bewusstsein einen Unterschied zwischen Brahmā²), Viṣṇu³) und Śiva⁴) zu machen. Welch ein Jammer!
Möge Śaṅkarācāryas ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’, das Herz des Vedānta, allen ernsthaft nach Erkenntnis strebenden Menschen die kosmische Täuschung (māyā) mit ihren würgenden Begrenzungen überwinden helfen. Mögen diese Sucher mit Gottes Gnade das Endziel des Menschseins erreichen und die Existenz im Bewusstsein der All-Einheit vom Wesen immerwährender, ununterbrochener Glückseligkeit im Selbst noch in diesem Leben verwirklichen!
Emanuel Meyer
Christoph Rentsch
1) Das Kali-Zeitalter umfasst 43’200 Jahre und erstreckt sich nach unserer Zeitrechnung vom Jahr 3102 vor bis zum Jahr 40’098 nach Christi Geburt.
2) Erschaffer der Welt
3) Erhalter der Welt
4) Zerstörer der Welt
Angaben über den Kommentator bzw. die Übersetzer
Emanuel R. Meyer, Rickenbach ZH (Schweiz). 20 Jahre Sanskrit-Studium in Indien und Europa. Seit 1969 Schüler von Sri Swami Omkarananda. Vor 1986 Leiter eines Schweizer Industrie-Konzerns für Leichtmetall und Chemie.
Christoph Rentsch, a in Muni-ki-Reti (Nordindien).
Abkürzungsverzeichnis
Das Herz des Vedānta
Zusammenfassung der
Kerngedanken
sämtlicher Upaniṣaden
(Sarva-vedānta-siddhānta-sāra-saṁgrahaḥ)
Zuflucht zum Urgrund
Zu Beginn des Werks verneigt sich der Verfasser nach überliefertem Brauch vor seinem geistigen Meister. Der Weisheit Suchende braucht keine andere Hilfe als einen wahren Meister
, erklärt Śaṅkarācārya an anderer Stelle (Vers 181). Das Wort ‘Urgrund’ steht für die Absolute Wirklichkeit (Brahma), das Fundament der sichtbaren und unsichtbaren Welt als Substrat und tragende Grundlage aller offenbarten Erscheinungen. Angst, Zorn, Begierden und Wünsche – die drei Ursachen menschlichen Leidens – entstehen aus dem ‘Abfall von Gott’, aus dem Getrenntsein vom Urgrund alles Seienden jenseits von Zeit und Raum, Ursache und Wirkung.
Vers 1
Ich verehre Govinda, meinen Meister, den Inbegriff von Bewusstsein und Glückseligkeit. Die Verherrlichung des Meisters führt zur vollendeten Glückseligkeit und Erkenntnis.
Vers 2
Um das ersehnte Ziel zu erreichen, nehme ich Zuflucht zum Höchsten Selbst als Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit jenseits von Worten und Gedanken, dem Urgrund von allem.
Vers 3
Den Weisen nimmt dieser Urgrund die aus dem Getrenntsein vom Absoluten entstehende Angst. In diesem Urgrund sind die Lotusfüsse des Erhabenen Gaṇeśa Quelle der Barmherzigkeit.
Die vier Hauptthemen
Definiert eure Begriffe
, ermahnte 1200 Jahre vor Śaṅkarācārya der griechische Philosoph Sokrates seine Schüler, als er die vornehme Jugend seiner Zeit auf der Akropolis und auf den Strassen und Plätzen Athens in der Kunst des Debattierens unterwies. Wie kann man Jungbürgern die Demokratie und reifen Menschen das geistige Lebensziel erklären, wenn jeder nur schon unter diesen zwei Allgemeinbegriffen etwas anderes versteht?
Śaṅkarācāryas Klarheit in Didaktik und Ausdruck sind bereits im Unterabschnitt ‘Die vier Hauptthemen’ erkennbar. Vedānta ist eine Wissenschaft. Sie gründet in den 108 klassischen Upaniṣaden mit ihrer tiefen Symbolik, den verborgenen Sinngehalten und der oft schwer verständlichen Ausdrucksweise. Kein Geringerer als der Grossmeister des Advaita-Vedānta hat ihre Leitsätze übersichtlich zusammengestellt, damit opferbereite Menschen – vom Zwang zur Wiedergeburt erlöst – den Zustand immerwährender Glückseligkeit erlangen.
Vers 4
Nun werden die Grundgedanken der Wissenschaft des Vedānta zusammengefasst, damit die fest entschlossen Erlösung Suchenden Glückseligkeit und Erleuchtung finden.
Vers 5
Im Einklang mit dieser Wissenschaft ergeben sich vier Hauptthemen. Die im Titel erwähnten Kerngedanken werden jetzt dargelegt.
Vers 6
Der geeignete Sucher, der Gegenstand der Suche, der Zusammenfall von Wissendem und Gewusstem, der Zweck der Suche: diese vier Hauptthemen sind der Anfang und das Ende der heiligen Wissenschaft.
Und nun die klaren Definitionen der Verse 7–11:
Vers 7
Als ‘geeigneter Sucher’ gilt, wer die vier Erfordernisse weitgehend erfüllt, logisch denken kann, intelligent und weise ist.
Nur wer findet, ist ein geeigneter Sucher. Finden heisst, das Selbst erfahren, das Selbst verwirklichen. Finden bedeutet, die Identität von Selbst und Absolutem zu erkennen.
Der Ausdruck wer die vier Erfordernisse weitgehend erfüllt
steht für die Sanskrit-Vokabeln caturbhiḥ sādhanaiḥ saṁyak saṁpannaḥ – wörtlich: wohl versehen mit den vier Mitteln zum Zweck
oder, freier ausgedrückt: wer den vier Anforderungen gewachsen ist
. Fündig wird, wer den vier Erfordernissen restlos genügt, sei es dass er die spezifische Eignung von Haus aus hat, sei es dass er die vier Qualifikationen – begleitet von einem wahren Meister – in einem disziplinierten Lernprozess erwirbt.
Vers 8
‘Gegenstand der Suche’ ist das Reine Bewusstsein, wo die Einzelseele und die Absolute Wirklichkeit eine untrennbare Einheit sind. In dieser Hinsicht stimmen alle Upaniṣaden überein.
Vers 9
Als ‘Zusammenfall’ bezeichnen die Weisen gemäss der Heiligen Schrift den Zusammenfall des zu Beweisenden – nämlich der Identität von Einzelseele und Absolutem – mit dem Beweis. Dieser Zusammenfall wird als Identität des Wissenden und des Gewussten definiert.
Vers 10
‘Zweck der Suche’ nennt der Weise die Erkenntnis der Einheit von Absoluter Wirklichkeit und Selbst. Dadurch wird der Mensch von den Fesseln des Geburtenkreislaufs sofort vollständig befreit.
Vers 11
‘Zweck der Suche’ ist ferner die zielgerichtete Motivation für jede Tätigkeit. Ohne einen Zweck vor Augen strengt sich auch der gewöhnliche Mensch nicht an.
Kapitel 1
Die vier Erfordernisse
Mit 239 Strophen nimmt der Hauptabschnitt über die vier Anforderungen an den Gottsucher fast den vierten Teil der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ ein. Ob der ‘geeignete Sucher’ dem Zwang zur Wiedergeburt entrinnen kann, hängt entscheidend von seiner Eignung und seinem Einsatz ab. Schon der Umfang des ersten Kapitels zeigt, wie sehr die Frage: tauglich oder noch nicht tauglich?
ins Gewicht fällt.
Grundsätzliches
Vers 12
Nur der Weise, der die vier Mittel zum Zweck vollendet hat, erreicht das Ziel, kein anderer.
Vers 13
Wenn die vier Erfordernisse, von denen die höchsten Seher sprechen, erfüllt sind, ist Erlösung möglich. Wenn sie nicht erfüllt sind, ist Erlösung gewiss nicht möglich.
In der ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ sind die Anforderungen an den Gottsucher strenger formuliert als in anderen Lehrwerken von Śaṅkarācārya. Hier müssen alle vier Anforderungen erfüllt und alle sechs Tugenden gegeben sein. Der Meister lässt den Gottsucher nicht im Zweifel, dass er sonst keine Chance hat, letzte Erkenntnis zu gewinnen.
Vers 14
Als erste Voraussetzung gilt die Unterscheidung (viveka) zwischen Ewigem und Vergänglichem. Die zweite Voraussetzung ist der innere Abstand (vairāgya) von Reichtum, Lohn und Genuss im Diesseits und im Jenseits.
Vers 15
Als dritte Voraussetzung wird Vollkommenheit in den sechs Tugenden genannt, das heisst: Stille der Gedanken, Beherrschung der Sinne, Geduld, Entsagung, Glaube und meditative Versenkung. Als vierte Voraussetzung bezeichnet die Heilige Schrift die Sehnsucht nach Erlösung (mumukṣutvam).
Die vier Erfordernisse werden nun ausführlich erklärt:
Unterscheidungskraft (viveka)
Wie im ‘Kronjuwel der Unterscheidung’ steht die Fähigkeit des Unterscheidens auch hier an erster Stelle der vier Anforderungen an den Gottsucher. Von ihm erwartet der Meister ein sicheres Urteil, ob etwas vergänglich oder unvergänglich, absolut gesehen wirklich oder unwirklich, wahr oder Täuschung ist. Das Urteil ist immer ‘entweder oder’, nie ‘sowohl als auch’. Nur das Absolute ist ewig, ewig unveränderlich, bleibt sich selbst überall, zu allen Zeiten, unter allen Umständen gleich.
Vers 16
Die Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem wird als Wissen definiert, dass nur die Absolute Wirklichkeit ewig, alles andere aber vergänglich ist.
Vers 17
Die Ursache, zum Beispiel Lehm, ist ewig, weil sie zu allen Zeiten existiert. Ihre Wirkung aber, zum Beispiel ein Krug – das Produkt von Lehm –, ist vergänglich, weil man sieht, wie dieser zerbricht.
Vers 18
Genauso ist das ganze Universum vergänglich, weil es eine Wirkung des Absoluten ist. Die Ursache dieser Wirkung aber, die Höchste Absolute Wirklichkeit, ist unvergänglich wie der Lehm im vorerwähnten Beispiel.
Vers 19
Was man als Schöpfung bezeichnet, geht wahrlich aus Dem, aus Diesem hervor
, verkündet auch die Heilige Schrift: nämlich aus dem Absoluten. Deshalb besteht in Bezug auf die Vergänglichkeit der Schöpfung kein Zweifel.
Vers 20
Nachdem die Vergänglichkeit des vielheitlichen Universums in jeder Beziehung feststeht, ist der Glaube an die Ewigkeit von Paradies und Hölle ein Irrtum der Unwissenden.
Paradies und Hölle sind das dem Menschen unter dem kosmischen Gesetz von Ursache und Wirkung namens ‘Karma’ beschiedene Entgelt für gute Werke oder die Strafe für Verstösse gegen die geistigen Gebote und Verbote. Beide sind Gemütszustände, beide haben einen Anfang und ein Ende. Sie beginnen, wenn das Umfeld und die Umstände passen, und enden, sobald der Lohn für verdienstvolle Taten abgegolten und die Verstösse gesühnt sind.
Vers 21
Das ist Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit. Unterscheidung ist gemäss Heiliger Schrift und Logik die Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem.
Das Problem ist erst dann endgültig vom Tisch, wenn der Gottsucher durch die Gnade der Erleuchtung die fast unüberwindliche Macht der Māyā und ihre trügerischen Wirkungen durchschaut, sich konsequent vom Vergänglichen abwendet und den ganzen Lebensinhalt mit allem Tun und Lassen auf das Unvergängliche ausrichtet.
Wachsende Kraft der Unterscheidung hilft nicht nur, unsere Lebensprioritäten je nach der Tiefe unserer Sehnsucht nach Erlösung langfristig zu überdenken und notfalls zu ändern, sie hat auch willkommene Nebenwirkungen, wie der Leser sogleich feststellen wird.
Innerer Abstand oder Losgelöstheit (vairāgya)
Grundsätzliches
Obschon die Kraft der Unterscheidung (viveka) auch in Śaṅkarācāryas ‘Zusammenfassung der Kerngedanken sämtlicher Upaniṣaden’ unter den vier Voraussetzungen den ersten Platz einnimmt, tritt der Autor in seinem Opus magnum viel eingehender auf das Gebot der Losgelöstheit, des inneren Abstands von Sinnesobjekten (vairāgya) ein. Er widmet dem Thema ‘Losgelöstheit’ volle 27 Strophen – und was für Strophen! – verglichen mit den sechs präzisen, aber eher nüchternen Versen über die Kraft der Unterscheidung (viveka).
Vers 22
Innerer Abstand ist Wunschlosigkeit des von Gedanken leeren Gemüts gegenüber diesseitigen und jenseitigen Dingen, die erwiesenermassen vergänglich sind.
Im folgenden Vers klingt ein weiterer Grund an, weshalb dem Gebot der Unterscheidung zwischen Vergänglichem und Ewigem der Ehrenplatz gebührt. Der Meister sieht die Kraft der Unterscheidung als Schrittmacher für den inneren Abstand von Sinnesobjekten.
Vers 23
Aus der Unterscheidung zwischen Ewigem und Vergänglichem entsteht mit der Zeit der dauernde innere Abstand von vergänglichen Dingen wie Blumen, Weihrauch, Frauen, Speise, Trank usw.
Und jetzt erweitert der Verfasser, stets sich selber treu, die Definition des inneren Abstands von Sinnesobjekten um das wenig schmeichelhafte Attribut ‘Krähendreck’ für alles Wahrnehmbare.
Vers 24
Völlige Losgelöstheit ist Abscheu vor Objekten der Begierde wie vor Krähendreck. Vollendete Losgelöstheit entsteht – so sagen die Weisen – aus der Einsicht, dass Begierden erweckende Objekte schädlich sind.
Dazu ein einleuchtendes Beispiel:
Vers 25
Wenn man einsieht, dass ein Objekt schädlich ist, begehrt man es nicht mehr. Wer würde einer noch so schönen Dirne nachlaufen, wenn er weiss, dass sie schwer krank ist?
Trotz dem summarischen Beiwort ‘Krähendreck’ für Objekte der Sinneswahrnehmung soll man das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Es wird eine differenzierte Methode empfohlen:
Vers 26
Man muss die Dinge von Fall zu Fall genau untersuchen. Die genaue Untersuchung ihrer Eigenschaften und ihres wahren Wesens enthüllt dann ihre etwaige Schädlichkeit.
Mit einem Trommelfeuer rhetorischer Fragen unterzieht der Meister den Gottsucher in der Folge einer eigentlichen Gehirnwäsche. Er zieht alle Register seiner legendären Dichtkunst. Der Schüler muss die überragende Wichtigkeit inneren Abstands einsehen, das Gebot der Losgelöstheit von all dem beachten, was mit den fünf Sinnen und dem Denkorgan wahrnehmbar ist, und dann die Lust nach Vergänglichem verlieren.
Dreizehn Strophen beginnen nacheinander mit den Worten: Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er … das und jenes bedenkt? Die Klangbilder des Sanskrit-Originals lassen sich nur schwer ins Deutsche übertragen. Der blumige Stil deutet an, wie sehr der geistige Lehrer dem Wahrheitssucher die Schrecken des Geburtenkreislaufs einprägen und aus einem ‘Möchtegern-Gottfinder’ einen zu Opfern bereiten, fest entschlossenen Gottsucher machen will.
Der Reihe nach führt ihm der geistige Lehrer die Widerlichkeit des Daseins im Mutterleib, die Leiden als Kind, die Missetaten der Jugendzeit und die Krankheiten, Schmerzen, Sorgen und Ängste im späteren Leben vor Augen. Wer bliebe ungerührt, wenn er vom tiefgreifenden Wandel des Sterbevorgangs hört, wenn ihm die Schreckensbilder der Hölle und die Vergänglichkeit himmlischer Freuden bewusst werden? Lassen wir die Worte des Meisters in den Versen 27 bis 35 auf das Gemüt einwirken:
Vers 27
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er an den Aufenthalt im Mutterleib denkt, inmitten von Harn und Kot, von Darmwürmern gebissen, schmachtend in der Hitze des Verdauungsfeuers?
Vers 28
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er sich vorstellt, wie er in den eigenen Ausscheidungen von Harn und Kot mit dem Kopf nach unten lag, wenn er an die Kindheit denkt, als er unter Schlägen, Besessenheit durch Dämonen, Krankheiten und anderen Beschwerden litt?
Vers 29
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er sich an die Schläge erinnert, die er als Kind von den Eltern und anderen bekam, an seine Unwissenheit und Unbesonnenheit, an sein schlechtes Betragen und seine verbotenen Abenteuer?
Vers 30
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er an seine Einbildung und Überheblichkeit zurückdenkt, an die Respektlosigkeit gegenüber Älteren, an die Schwäche gegenüber Begierden, an die Übertretungen der Gesetze, an all die jugendlichen Missetaten?
Vers 31
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er an körperliche Verunstaltungen denkt, an die Geringschätzung von Seiten aller anderen, an die allgemein erbärmlichen Lebensbedingungen, den Schwund der geistigen Fähigkeiten, die Beschwerden des Alters?
Vers 32
Wem verginge nicht die Freude am Vergänglichen, wenn er die übelriechenden Infektionen und die