Lebens-Abschnitte: Nichts ist zu Ende
Von Rainer Grebe
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Über dieses E-Book
Aber - es ist niemals zu Ende - es gibt stets einen neuen Anfang. So wie er in seiner geteilten Stadt die politischen Spannungen des Kalten Krieges erfährt, so erlebt er auch 1989 den Fall der Mauer. Wir begleiten ihn auf seinem privaten wie beruflichen Weg, der ihn durch Europa und Afrika, nach Werder in Brandenburg und zu sich selbst führt.
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Buchvorschau
Lebens-Abschnitte - Rainer Grebe
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Impressum:
© Verlag Kern GmbH, Ilmenau
© Inhaltliche Rechte beim Autor
1. Auflage, Oktober 2017
Autor: Reiner Grebe
Bildquelle Cover: www.fotolia.com | © peshkov
Umschlag/Layout/Satz: B.Winkler, www.winkler-layout.de
Lektorat: Dorothea von der Höh, Kevelaer
Sprache: deutsch, broschiert
ISBN: 978-3-95716-253-3
ISBN E-Book: 978-3-95716-247-2
www.verlag-kern.de
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.
Reiner Grebe
LEBENS-ABSCHNITTE
Nichts ist zu Ende
Roman
Über das Buch
Die nachfolgende Geschichte sowie die dort handelnden Personen sind frei erfunden. Entstehende Ähnlichkeiten mit realen Ereignissen und Personen sind rein zufällig.
Der Autor blickt mit feinem Humor, aber auch ernsthaft und gesellschaftskritisch auf sich, sein Land und die Weltpolitik.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Vorwort: Entstehende Ähnlichkeiten … sind rein zufällig
Max
Das Ende einer Ehe
Begegnungen
Liv
Die neue Wohnung
London
Mallorca
Fall der Mauer
Tante Anna
Das Grundstück in Werder
Ein Sommerhaus in Werder
Die Reise zu den Pyramiden
Karnak und das Tal der Könige
Auf dem Nil nach Assuan
Weihnachten in Nordfriesland
Die erste Krise
Wasser und Strom in Werder
Das Segelboot
Die Gegenwart und Weihnachten
Die Töchter
Eine wichtige Entscheidung
Vorwort: Entstehende Ähnlichkeiten … sind rein zufällig
Der Zufall und sein kleiner Bruder zufällig: Zwei Wörter unserer Sprache, die wir natürlich auch im Duden finden. Dort wird dieser Begriff als etwas beschrieben, das man nicht vorausgesehen hat, was unerwartet geschieht.
Sieht man sich in den Sprachen dieser Welt um, stellt man überrascht fest, dass es dort die Wörter für Zufall oder zufällig nicht gibt. Waren die Anderen zu nachlässig, zu schlampig, dass sie diese Wörter nicht in ihren Sprachschatz aufgenommen haben? Oder ist vielleicht eher so, dass unsere Sprache weniger klar und eindeutig ist, dass wir uns mit solchen Wörtern an der einen oder anderen Stelle behelfen müssen?
Wissenschaftler kennen den Zufall nicht, da in ihren Systemen alles sinnvoll ineinander greift, keine Wirkung ohne Ursache ist und umgekehrt. Sie waren es also nicht, die uns dieses Wort beschert haben. Und die Ökonomen, die Finanzfachleute, die nicht nur unsere, sondern die gesamte Weltwirtschaft am Laufen halten? Bei denen ist der Zufall so häufig wie deren Geldanlagen auf einem Postsparbuch. Sie waren es also auch nicht. Wenn wir uns der Ethik, der Moral, dem Glauben nähern, dann wird klar, dass jeder gläubige Mensch, sei er nun Christ, Moslem, Jude, Buddhist oder Hinduist, so er denn fest zu seinem Glauben steht, alle Dinge, die geschehen, Rückschläge, die er erleidet, dem eigenen Schicksal entsprechen, das allein in Gottes, Allahs oder Buddhas Hand liegt. Auch hier geschieht nichts zufällig.
Wer, in aller Welt, hat uns diese beiden Wörter Zufall und zufällig beschert? Geht man nach dem Ausschlußverfahren, ist das Ergebnis eher unbefriedigend: War es ein Atheist, der – nicht unbedingt von strebsamer Natur – als Grund für sein wiederholtes Scheitern den Zufall erfand?
Vielleicht ist aber die folgende Vorstellung charmanter.
Es waren die Autoren und Schriftsteller, die ihre fantasievoll gewobenen Erzählungen mit selbst Erlebten, selbst Erfahrenem verknüpften, weil nur das überzeugt, glaubhaft und nachvollziehbar ist, was man selbst erfahren, selbst durchlebt hat. Für sie ist nur wichtig, dass ihre Geschichten den Leser berühren, emotional auf eine Reise mitnehmen. Ein möglicher Streit, ob diese oder jene Situation tatsächlich so gelaufen ist oder ob die eine oder andere reale Person sich in der Geschichte wiederzufinden glaubt, ist für sie nicht bedeutsam.
An dieser Stelle sollte es der Zufall nicht wollen, dass Sie sich jetzt zufällig einer anderen Aufgabe im Haus zuwenden müssen. Bleiben Sie einfach konsequent, lesen Sie entspannt weiter. Freuen sie sich unvoreingenommen auf die Menschen, die ihnen begegnen werden und auf das, was sie auf unterschiedliche Weise erleben.
Max
Max leerte mit einem letzten Zug die Kaffeetasse. Sein Blick glitt noch einmal über die vor ihm liegende Tageszeitung – am Datum blieb er für einen kurzen Moment hängen: 22. Dezember. In zwei Tagen war Heiliger Abend. Der Tannenbaum stand noch im Wassereimer auf der Terrasse. Seine Geschenke hatte er bereits so rechtzeitig wie in keinem der Jahre zuvor gekauft, sie mit etwas weniger Geschick als seine Freundin liebevoll in Weihnachtspapier verpackt und wieder versteckt. Das war nicht der Grund, warum das Datum ihn plötzlich in die Erinnerung abgleiten ließ.
Advent, Vorweihnachtszeit. Eine Zeit des Besinnens, der Freude auf den Heiligen Abend. Wo war das alles geblieben? Seit Oktober zogen die Marketingstrategen des Einzelhandels alle Register. In den Regalen wetteiferten Tüten mit Spekulatius, Lebkuchen und Dominosteinen gemeinsam mit Senfgurken, Wurst und Käse um die Gunst der Kunden. In den Büros, im „normalen Alltag erhöhte sich in dieser Phase fast stündlich die Schlagzahl, das Tempo, der Jahresendstress. Jedes Mal der sich immer wiederholende Vorsatz: „Im nächsten Jahr geh‘n wir es aber ruhiger an. Diesen Konsumwahnsinn machen wir nicht mehr mit!
Max erinnerte das an den Film Und ewig grüßt das Murmeltier. Er fühlte sich nicht wie das putzige Tierchen, sondern in dieser belastenden Endlosschleife gefangen. Der Höhepunkt dieser Rallye war ohne Zweifel der Heilige Abend.
Aber der Reihe nach. Seine Gedanken trugen ihn mehr als vierzig Jahre zurück. Max hatte vor einigen Jahren Monika geheiratet. Als das zweite Kind unterwegs war, zogen sie vom verschlafenen Stadtrand wieder zurück nach Berlin. Dort draußen sagte man immer, wenn man etwas einkaufen, ins Kino oder Theater wollte: „Wir fahren nach Berlin." Sie hatten eine schöne Dreizimmerwohnung in der Nähe des Rüdesheimer Platzes gefunden. Nicht nur die Wohnung war perfekt, vielmehr war es ihre Lage, die sie sofort begeistert hatte. In nur wenigen Minuten war man in der Steglitzer Schloßstraße und nur ein wenig länger dauerte es, wenn man in den Grunewald wollte. Auch an ihre beiden Töchter, Miri – eigentlich Miriam – und Lisa, hatten sie gedacht. Kita und Vorschulklasse lagen gleich um die Ecke, Grundschule und Gymnasium in Schlagweite. Da sie erst im letzten Jahr diese größere Wohnung bezogen hatten, würde der Heilige Abend diesmal mit der ganzen Familie bei ihnen gefeiert werden.
Die Größe der Wohnung an sich war in Ordnung. Max fand, dass es dennoch einiges gab, was dem neuen Heim etwas mehr Glanz, eine individuelle Note geben könnte. Sie hatten kaum Kisten und Umzugkartons ausgepackt, alle Sachen an ihren Platz geräumt, begann er zu planen und zu zeichnen.
Nach dem Abitur wäre er gern Architekt geworden. Da niemand aus der Familie dieses Berufziel für realistisch hielt, gab es auch keine moralische Unterstützung. Motivation – genau das hätte er damals gebraucht. Seine Eltern waren hingegen Pragmatiker: „Du solltest bei der Post anfangen. Die bietet dir sogar die Möglichkeit für ein Fachhochschulstudium." Für Kinder seiner Generation waren die Wünsche der Eltern, auch die Berufswünsche, verbindlich. Sie hatten eine andere Bedeutung als für folgende Generationen.
In der Diele wurde ein Teil der Decke abgehängt. Dank der mit einer Fototapete – Motiv Forum Romanum – dekorierten Wand und eines riesigen, die ganze gegenüberliegende Fläche bedeckenden Spiegels, entstand zwar kein Tanzsaal, aber mit der indirekten Beleuchtung ein völlig neues Raumgefühl. Diese beabsichtigte Wirkung sollte sich am ersten Heiligen Abend in den neuen vier Wänden vorübergehend verabschieden.
Sie alle kennen den Schnitt von Badezimmern: schmal, rechts die Badewanne, am Ende vor dem Fenster die Toilette, davor das Waschbecken. Alles nicht sehr heimelig. Wenn dann noch eine kleine Waschmaschine eingefügt wird, ist beim Toilettengang ein erhebliches Maß an körperlicher Fitness und Geschmeidigkeit nicht unvorteilhaft. Auch hier brachte Max einige kreative Elemente aus der Dielenveredelung ins Spiel. Decke abhängen, die gesamte linke Wandseite mit deckenhohen Spiegeln versehen. Die andere Wand erhielt eine Korkauflage, die Badewanne eine Holzverkleidung. Die sanfte indirekte Beleuchtung weckte bei den Badezimmerbesuchern jetzt den Eindruck, sie würden den Wellnessbereich eines Spitzenhotels betreten. Wenn es noch in der Badewanne geblubbert und gesprudelt hätte, wären sie vielleicht von ihren ursprünglichen Absichten abgewichen und auf einen Jacuzzi-Besuch umgestiegen.
Das Schlafzimmer wurde zum zweiten Wohnbereich mit Esstisch, im Wohnzimmer stand dort, wo einst der Esstisch seinen Platz hatte, ein edler großer Ledersessel in Reichweite zu der kleinen, aber sehr fein bestückten Hausbar. Wenn Max hier auf seinem Lieblingsplatz saß, konnte er leicht nach hinten wippen, sich sanft drehen. Auch dieser Ort sollte am Heiligen Abend eine ganz neue Definition erhalten.
Wenn man Gäste einlädt, stellt sich nur in ganz seltenen Fällen die Frage: Kommen sie alle zur gleichen Zeit oder sollten kleine Intervalle eingebaut werden? Es kann sein – gerade bei Familienfesten ist das nicht ausgeschlossen –, dass es interne Spannungen gibt. Die Geschwister haben eine schon länger anhaltende Kommunikationspause, bei den Großeltern und Enkeln herrscht eine für Außenstehende nicht nachvollziehbare belastende Eiszeit. Da gilt dann das „Ampel-Prinzip": Die einen bleiben, solange die anderen noch nicht da sind. Rückt die erste Besetzung ab, kommt Phase Grün für die andere Fraktion. Alle diese möglichen Störfaktoren gab es in Max‘ kleiner Familienidylle nicht. Dennoch hatte die Ankunft der Gäste am Heiligen Abend fast surreale Züge. Als es gegen 18 Uhr an der Haustür klingelte und Max öffnete, standen Eltern, Schwiegereltern, Schwager mit Freundin in geschlossener Formation vor ihm, als hätten sie sich verabredet. Das Betreten der Wohnung, das Abnehmen der Garderobe und deren angemessene Unterbringung – fast die Quadratur des Kreises. Während die Ersten die Diele musterten, zu viert vor dem Spiegel standen, diesen und die hinter ihnen klebende Fototapete komplett ausfüllten, war von dem neuen Raumgefühl nichts mehr zu spüren. Zur gleichen Zeit begannen die letzten Gäste bereits auf der Straße und im Schutz des Treppenhauses, sich ihrer Garderobe zu entledigen. Nach einigen Minuten, das Dielenchaos hatte sich inzwischen aufgelöst, hörte Max schon erste anerkennende Bemerkungen jener, die unmittelbar nach der Dielenpassage das Bad aufgesucht hatten. Auch beim übrigen Teil der Wohnung wurde nicht mit Lob gespart.
Langsam fanden Max und Monika wieder in den lockeren Gastgebermodus zurück. Für ihre beiden Töchter war dieser Gästeansturm eher geschmeidig abgelaufen, sie hatten die Wohnungsbesetzung aus der sicheren Entfernung ihres Kinderzimmers verfolgt. Der Grund ihrer Aufregung: das schier endlose Warten auf die Bescherung.
Bei Max‘ Eltern gab es am Heiligen Abend stets den Klassiker: Würstchen mit Kartoffelsalat. Diese Variante hatte den Charme, dass es für Max‘ Mutter, die Hausfrau, keinen Küchenstress gab und für ihn sich das Warten auf die Bescherung nach den Längen der Würstchen berechnen ließ.
Heute sah das etwas anders aus. Monika bat zu Kassler in Blätterteig, Nudel- und Kartoffelsalat sowie einer kleinen Eiskreation als Dessert an den Tisch. Die Sicht der Töchter: Das kann dauern.
Zeit – ein ohne Zweifel objektiver, weil messbarer Wert – wird von jedem Einzelnen völlig anders empfunden. Das fängt aus der Wahrnehmung eines Kindes zuerst beim Warten auf die frische Windel, spätestens jedoch am Heiligen Abend an und wird sich mit dem Älterwerden noch einige Male im Leben in die eine oder andere Richtung drehen.
Der Jugendliche möchte ganz schnell Altersmarken erreichen, weil sich ihm dann neue Freiheiten eröffnen: nicht mehr so früh ins Bett müssen, bestimmte Sendungen im Fernsehen anschauen dürfen, länger abends mit Freunden abhängen können und nur wenig später das erste Mal wählen zu können.
Dann erreicht man jedoch einen Punkt, an dem man auch mal zurück- und nicht nur nach vorn schaut. In der Disco stellt man fest, dass coole Klamotten und Outfit nicht darüber hinwegtäuschen können, dass man nicht zu jener Generation gehört, die hier deutlich die Mehrheit stellt. Und wenn man später eine Familie und eigene Kinder hat, bekommt Zeit eine ganz neue Geschwindigkeit.
Nur zur Erinnerung: Die Uhren ticken noch immer im gleichen Rhythmus.
Wenn Stress und Abeitsalltag irgendwann ihre deutlichen Spuren innerlich und äußerlich hinterlassen haben, wächst die Sehnsucht nach Freizeit und Ruhe. An seinem vierzigsten Geburtstag wird klar, spätestens jetzt beginnt die zweite Halbzeit. Der Faktor Zeit bekommt eine ganz neue Bedeutung im Leben. Mit jedem Jahr, das verstreicht, wächst das Gefühl, Wochen, Monate, die Jahreszeiten gewinnen immer mehr an Tempo. Man plant seine Zeit, schaut auf den Kalender und stellt mit Erschrecken fest, dass die weißen, die noch nicht verplanten Abschnitte immer kleiner werden. Das schlechte Gewissen meldet sich auch, weil die gemeinsame Zeit mit der Familie, den Freunden – Menschen, für die man wichtig ist – wie feiner Sand durch die Finger rinnt. Diesen Fluss der Zeit hat Dalí in seinem Bild Die Beständigkeit der Erinnerung am Beispiel der zerfließenden Uhren bedrückend und doch ganz wunderbar eingefangen.
Das Abendessen war geschafft, die letzten Teller abgeräumt, die Geduld der Kinder kurz vorm Anschlag. Alle Familienmitglieder hatten ihre Geschenke sorgfältig unter dem Weihnachtsbaum im Wohnzimmer arrangiert. Schon anhand der Verpackung war zweifelsfrei abzulesen: Die Kinder waren sehr reichlich bedacht worden.
Als Max ins Weihnachtszimmer ging, um mit einem zarten Glockenschlag die Familie, vor allem aber seine beiden Töchter, zur Bescherung zu rufen, traf ihn ein anderer, völlig unerwarteter Schlag: Schwager Kalle – eigentlich Karlheinz – hatte in Max‘ Lieblingssessel Platz genommen, eine Colaflasche schon zuvor aus dem Kühlschrank gefischt und war soeben im Begriff, aus Max‘ sorgsam gehüteten 15 Jahre alten Whisky – großzügig eingeschenkt – und jener Brause eine Whisky-Cola zu mixen. Max, noch unter Schock, schwang die Glocke mit einer Wucht, als würde der Baum in Flammen stehen. Kalle goss unbeeindruckt zügig