Unerschrocken: Mit dem Glauben durch angstvolle Zeiten
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Buchvorschau
Unerschrocken - Thomas Dienberg OFMCap
Autor
Einleitung
Ich bin seit mehr als dreißig Jahren im Orden der Kapuziner. Seit sechsundzwanzig Jahren bin ich Priester, und ich muss gestehen: Ich habe Angst. Ja, ich habe Angst, wenn ich an das Leben, an die Zukunft, an den Tod und vieles mehr denke. Muss ich mich deswegen schämen? Sollte es bei mir aufgrund meines Glaubens nicht so viel anders sein? Gesichert und gefestigt im Glauben, in angstvollen Zeiten ohne Angst, mit großer Zuversicht, mit Mut und Hoffnung? Wagen, das Leben zu gestalten – sollte ich nicht eine solche Haltung haben, und keine Angst? Zeugt das von der Kleingläubigkeit im Menschen, von der Jesus im Evangelium immer wieder einmal spricht? Zeugt das von meiner Wankelmütigkeit und meinem mangelnden Vertrauen in Gott und Jesus Christus? Ich Kleingläubiger und Zweifler, Fragender und Suchender?
Angst ist ein Lebensthema. Und gerade im Moment ist es ein beherrschendes Thema in Deutschland. German Angst, die Angst vor den Populisten, die Angst vor Überfremdung, die Angst vor der Altersarmut, vor dem nächsten Terroranschlag direkt vor der Haustür. Die Medien berichten darüber, in allen Varianten und Schattierungen. Manche nutzen es, manche schüren sie, manche versuchen sie zu verharmlosen, die Angst, die umherschleichende, beunruhigende Angst vor einer ungewissen Zukunft. Verschiedene Ängste werden benannt und statistisch mit Zahlen unterlegt. Leben wir in angstvollen Zeiten, in ängstlicheren Zeiten im Vergleich zur Vergangenheit? Oder gibt es weniger vertrauensvolle Deutungsmuster von Leben und Welt, die helfen würden, mit Ängsten umzugehen, mit den existenziellen Ängsten, die immer schon da waren und immer da sein werden, und den anderen, den »modernen« und den aktuellen Ängsten?
Ja, ich habe Angst und ich bekenne meine Angst! Oft fühle ich mich hin- und hergerissen zwischen Hoffnung, Resignation, Mut, Optimismus und Angst, Sorge, Furcht. Es ist das Auf und Ab meines Lebens. Und ich denke mir oft, vielleicht ist das auch gut so. Ich bin mir nicht sicher, meiner selbst nicht und meines Lebens nicht. Vieles entzieht sich meiner Machbarkeit und meiner Planbarkeit. Ich muss es geschehen lassen und weiß nicht, was sich daraus ergibt, und es mir am Ende bescheren wird. Das Leben ist eine Reise vom Gewissen in das Ungewisse und vom Ungewissen in das Gewisse – und nur wenig davon habe ich in meiner Hand und kann frei darüber verfügen. Und selbst das macht manchmal Angst und bereitet Sorge: Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Kann und darf ich mir trauen? Da ist doch so vieles in mir selbst, das mir ständig zu Frage wird, wo ich mich nicht mehr kenne und nur noch wundere, über mich selbst, über meine Unfähigkeit, über meine dunklen Seiten … und das macht mir Angst. Diese Angst kann ich auch nicht hinwegreden oder schönreden. Wenn sie da ist, dann ist sie da und lässt sich nicht erweichen, nicht harmonisieren oder frömmelnd wegbeten.
Ja, vielleicht ist das kleingläubig, aber vielleicht ist es auch einfach menschlich, allzu menschlich. Ich bin kein Held im Glauben, sondern manchmal verzagt. Glaube und Angst gehen Hand in Hand, schon immer und auf ewig. Angst und Glaube schließen sich jedoch nicht aus, denn der Glaube ist gewiss und ungewiss zugleich. Die Frage, ob ich als Christ und als Priester Angst haben darf oder nicht, stellt sich mir nicht. Die Angst gehört zum Glauben, trotz und in allem. Mir scheint, dass die Art und Weise, wie ich mit der Angst umgehe, der entscheidende Punkt ist und mich als Christen auszeichnet, als Ordensmann und Priester.
Angst ist ein schlechter Ratgeber, so heißt es oft. Das stimmt sicherlich, das lässt sich aber nicht verallgemeinern und stimmt in vielen Einzelfällen eben auch nicht. Generell kann man auch sagen, dass Angst eine Dimension von Vorsicht beinhaltet – und Vorsicht tut allemal gut! Angst kann lebensrettend werden, Angst macht alarmbereit. Doch hilft mir das? Stärkt mich das? Lässt mich das ehrlich und redlich meinen Ängsten in die Augen schauen? Oder laufe ich nicht allzu gerne vor ihnen davon, und das zu Recht? Augen zu, Ohren zu, nicht daran denken! Was nicht sein darf, kann nicht sein?
Auch Jesus hatte Angst im Garten von Getsemanie: Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Das war eine tiefe existenzielle Angst, und er hat sie bekannt, hat seinen Vater um Hilfe gebeten. Blieb die Angst, nachdem man ihn im Garten Getsemanie festgenommen hatte, als er vor Herodes und Pilatus stand? Blieb die Angst am Kreuz? Er betete den Psalm 22: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Der Psalm wendet sich von tiefer Klage in eine Gottesgewissheit und in ein starkes Vertrauen dem lebendigen Gott gegenüber. Wie im Leben? Vom Ungewissen in das Gewisse? Oder ist das nicht auch schon Interpretation des Autors, Wunschdenken, Hoffnungsdenken, Glaubenswissen?
Ich möchte Sie, lieber Leser, liebe Leserin, im Folgenden an meinen Gedanken über die Angst im Glauben teilhaben lassen und nehme Sie mit auf eine Reise. Ganz bewusst hat dieses Buch den Titel »Unerschrockenheit«. Denn das scheint mir die Tugend zu sein, die mir oft fehlt, die ich aber auch manchmal habe, die so viele Menschen im Glauben, trotz ihrer Angst und einer angstvollen Zeit, in der Vergangenheit und in der Gegenwart auszeichnet. Und das ist für mich die Art und Weise, wie ich mit meiner Angst in angstvollen Zeiten umgehen darf. Ich stelle Ihnen weiter einige Gestalten unseres Glaubens vor Augen, die in ihrer Unerschrockenheit Vorbild sein können. Menschen, die gängigen Mustern, Ängsten und Versuchungen getrotzt haben – um des Lebens willen.
Außerdem möchte ich gerne einige Haltungen beschreiben, die sich aus der Unerschrockenheit im Glauben ergeben. Es sind Haltungen, die mit Fragen einhergehen, mit vielen Fragen, denn diese sind Ausdruck der Gewissheit in aller Ungewissheit, meiner Ungewissheit in der Gewissheit des Glaubens. Zuletzt habe ich einige Texte und Gedanken von Menschen und Heiligen zusammengetragen, versehen mit kurzen Anmerkungen, Gedanken und Fragen, die als Reflexionshilfe für die eigene Sammlung oder für das Gespräch in Gruppen dienen können.
Doch zunächst beginne ich mit einer kurzen Beschreibung der angstvollen Zeit. Etwas, das für mich in vielen Punkten im wahrsten Sinne des Wortes fragwürdig erscheint und manchmal nichts anderes darzustellen scheint als einen Hype, von den Medien gefördert, gelenkt und thematisiert.
Bevor ich auf diese Fragen eingehe, möchte ich diese Einleitung mit einigen persönlichen Gedanken und Assoziationen abschließen, die mir auf verschiedenen Reisen in den letzten Monaten gekommen sind. Vielleicht finden Sie sich mit Ihren Gedanken in meinen Assoziationen wieder, vielleicht ergänzen Sie diese oder widersprechen. Aber letztlich sind das meine Fragen und Gedanken, die mir im Umgang mit meiner Angst kommen. Sie könnten deshalb genauso gut auch am Ende meines Buches stehen.
Von der Angst
Ich fahre durch die weiße Winterlandschaft in Deutschland
Es ist so wunderschön
Alles ist ruhig weiß bedeckt
Die rote Abendsonne verleiht allem dieses schöne warme Licht
Frieden
Genügsamkeit
Zufriedenheit
Stille
Und das soll irgendwann vorbei sein
Dahinein fällt eine Bombe
Erschießt ein Mensch andere Menschen
Zünden Menschen Häuser von Fremden an
Prügeln und mobben Fremde …
Ein Buch über Angst – Hoffnung – Perspektiven
Was macht mir in meinem Leben Angst?
Da gibt es vieles und wenig
Eine Fülle und eine Leere
Berge und Täler
Sümpfe und klare Seen
Angst
ein einsames Gefühl
überwältigend
es überzieht mich wie eine Eisschicht
es nagt an mir
es befreit mich
lähmt mich
Angst vor dem Alter
vor der Zukunft
vor mir selbst
vor dem Tod
Letztlich ist es der Tod, der Angst macht
alles durchdringt mit seiner Fragwürdigkeit
mit seiner Endgültigkeit
Es ist nicht mehr
gar nichts
gähnende Leere
nicht einmal mehr Langeweile
rein gar nichts
Das Leben ist wie eine Reise auf einem Fluss
Die Landschaften ziehen vorbei
Menschen sind zu sehen
verschwinden
und dann: das Aus
das Ziel
das Nichts
wozu all die Mühen
wozu all das Schöne
wozu all das Erleben
Wenn ich es doch nicht festhalten kann
Wir sind alle kleine Fausts
faustisches Leben
Am Ende ist nichts mehr zum Festhalten
zum Anhalten
zum Innehalten
zum Verweilen
zum Trost
Nichts
ausgelöscht
Wer warst Du
warum und wozu
Nimm dich nicht so wichtig
ein Staubkorn im Kosmos
Gegangen versucht
vergangen
schneller oder langsamer
Ein Sinn
Das Leben ist eine vergebliche und
zum Scheitern verwirklichte Sinnsuche
Warum bin ich ins Leben gerufen
zum Leben verdammt
wenn dann doch alles umsonst ist
Danke für …
Ist Religion dann hilfreich
meine Religion
meine Spiritualität
Geist? –
Ich kann sehr gut darüber schreiben
über Inkarnation
über das Faszinierende aus der christlichen Spiritualität
darüber, dass Gott die Welt geschaffen hat
dass er ist
Dass es, wie es ist, gut ist
Weil es ein Später
ein anderes
ein etwas
die Fülle im Nichts
gibt –
Doch stimmt das?
Schreibe ich darüber so viel, weil ich es mir
und den anderen beweisen will?
Das Leben ist kein Trugschluss
kein hoffnungsloses Hin und Her
keine Einbahnstraße
kein Umsonst
keine Eintagsfliege
Glaube, ja, natürlich
Sinn des Lebens
Gott des Lebens
Gott über Leben und Tod
Gott Urheber des Sinns
Sinn in Gott
Sinnengott
sinnlos
betäubendes Hin und Her
um dem Endgültigen auszuweichen
der gähnenden Leere
dem schwarzen Loch
das mich mit gierigem Lechzen
empfängt
umschließt
verschlingt
betäubendes Nichts
das mich auslöscht
Du bist nicht mehr
Du warst nie
Just forget it
Ich schreie diese unerträgliche Leere
diese wahnsinnige Schwärze
aus
Lass mich in Ruhe
Lass von mir ab
Verschone mich
Das ist meine Angst
ein Leben lang sich etwas vormachen
weil ich es nicht besser weiß
nicht besser wissen will
Augen zu
Ohren zu
ein großes, lautes ohrenbetäubendes NEIN
Weil ich leben will
Weil ich nicht vergehen will
Weil ich ich bin
Weil ich –
Weil
AUS
All die anderen Ängste sind zweitrangig im Leben
Sie sind Ausdruck der einen großen
Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens
Angst vor Altersarmut
Angst vor Gewalt und Terror
Angst vor Überfremdung
Angst vor Krankheit
Weil wir das Leben nicht akzeptieren
wie es ist
eben sinnlos?
Hilft der Glaube?
Kann er eine Perspektive geben inmitten aller Lebensangst?
Der Glaube an Christus, der wiederkommen wird
Es wird kein Tod mehr sein, Gott wird abwischen alle Tränen
der Angst
Das Kind wird am Loch der Schlange spielen
Siehe, ich mache alles neu
Es gibt etwas anderes
Größeres, das trägt und stützt
hilft und Trost spendet
das den Blick auf eine umfassende Perspektive lenkt
eben nicht auf das AUS, sondern auf das Weiter?
Von der Unerschrockenheit
Unerschrockenheit: Was heißt das eigentlich?
Mit Mut durch die Welt gehen, sich nicht erschrecken lassen
trotz Erschrockenheit weitermachen
sich nicht langfristig beirren lassen
wagemutig
freimütig
Bin ich unerschrocken?
Es hat etwas mit Stellung beziehen zu tun
weil ich an etwas glaube
weil ich dem Menschen glaube
weil ich an den Menschen glaube
Ich bin doch eher feige
Halte mich gerne im Hintergrund
Kann trotzdem meinen Mund manchmal nicht halten
Habe aber Angst vor Auseinandersetzungen
Doch stelle ich mich
Stelle ich mich hin und bekenne
Setze ich mich ein
für die Sache, die mir am Herzen liegt?
Mut, Furchtlosigkeit, Tapferkeit
drei verschiedene Bedeutungen
Kühnheit, Zivilcourage
andere Worte für Unerschrockenheit
Spart die Angst nicht aus
Lässt sich von der Angst anspornen
Geht Hand in Hand mit der Angst
Bin ich unerschrocken
Tapfer und furchtlos
Lasse ich mich ansprechen
oder bin ich nicht einfach nur satt
Lasse mich nur ungern stören
Stehe nur ungern auf
Erhebe nur ungern meine Stimme
Habe mich eingerichtet
Will mich nicht stören lassen
Will nichts aufgeben
Will nichts riskieren
Will mich nicht aus der Reserve locken lassen
Will will will nicht –
Doch warum geht es immer nur um meinen Willen
sehnsüchtig
suchend und fragend
Gott wo bist du
Lass mich zu Dir stehen
Lass mich zu mir stehen
Lass mich zur Welt stehen
Lass mich ein Held werden
nur im Kleinen
nur ein wenig
sodass ich mit Stolz auf mich schauen kann
Gott
Du Kleingläubiger
Wem traust Du
nur dir
Dann lass es sein
Dann vergiss es
Unerschrocken in Zeiten der Angst
Ach Gott
Ein Publizist spricht vom Mut zur gepflegten Polemik
vom Mut zur intellektuellen Unerschrockenheit
die die Dinge beim Namen nennt
nicht schwafelt
nicht auf die Konsequenzen schaut
sondern auf Redlichkeit
Wahrheit und Engagement
gepflegt polemisch mit dem Finger in der Wunde
der Versuch, wie Vaclav Havel es sagt, in der Wahrheit zu leben
eben – UNERSCHROCKEN …
Ein Blick auf die angstvollen Zeiten
Was ist überhaupt Angst, und wem hilft es, wenn man die Ängste untersucht und dabei offensichtlich feststellt, dass Deutschland ein Land der Angst ist und es in den vergangenen Jahren zunehmend mehr geworden ist? Stimmt das so überhaupt?
Ich möchte mich nicht allzu lange bei diesen Fragen und Phänomenen aufhalten, muss aber doch einen kurzen Blick darauf werfen. Denn es scheint in der Tat so zu sein, dass die Zeiten im Moment angstvolle Zeiten sind, und dass viele Menschen vor allem keinen Weg sehen, wie sie mit dieser Angst umgehen sollen. Unzählige Autoren haben sich in jüngster Vergangenheit und in der Gegenwart mit der Angst und insbesondere mit Deutschland, als einem Land der Angst, beschäftigt und Bücher wie Artikel publiziert. Es lassen sich verschiedenste Ratgeber finden, die helfen wollen, mit der Angst umzugehen und mit ihr zu leben. Manche stellen den Glauben in den Mittelpunkt, den Glauben, der Hoffnung verleiht und der Angst den Garaus macht.
Die Ängste heute
Die sogenannte R+V Studie »Die Ängste der Deutschen in 2016« stellt nach der Befragung von ca. 2400 deutschen Mitbürgern fest, dass der Angstindex der Deutschen, den die R+V Versicherung in Wiesbaden seit 25 Jahren analysiert und festlegt, im Jahr 2016 um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr angestiegen