Die Tragödie des Euro: Ein System zerstört sich selbst
Von Philipp Bagus
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Über dieses E-Book
Das Projekt Euro steht kurz vor dem Scheitern. Philipp Bagus, Professor für Volkswirtschaft und Experte für Geld- und Konjunkturtheorie, belegt, dass diese Entwicklung eine fast schon logische Folge des intrigenreichen Ursprungs des Euro, seines selbstzerstörerisch angelegten Systems und politischer Einzelinteressen ist. So war es beispielsweise schon bei der Gründung ein vorrangiges Ziel der französischen Politklasse, sich der DM und der »Tyrannei der deutschen Bundesbank« zu entledigen. Die einzelnen Regierungen können sich zudem relativ unkontrolliert des Zentralbankensystems bedienen, um ihre Defizite zu finanzieren. Das Ganze ähnelt einer Notenpresse, aus der sich verschiedene Eigentümer nach Bedarf eindecken. Die Folgen sind die Schuldenkrise, monetäre Umverteilung und die Gefahren einer Transferunion – nicht zuletzt zu Lasten der Deutschen. Die gemeinsame Währung wird somit selbst zum Konflikterzeuger und potenziellen Zerstörer Europas. Der Autor stellt schlüssig dar, welche Auswege und Alternativen den Euro-Ländern noch bleiben.
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Buchvorschau
Die Tragödie des Euro - Philipp Bagus
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
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2. Auflage 2012
© 2011 FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Übersetzung: Robert Grözinger
Lektorat: Marion Reuter
Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech
Korrektorat: Monika Spinner-Schuch
E-Book: Grafikstudio Foerster, Belgern
ISBN 978-3-89879-670-5
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86248-328-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86248-329-7
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter
www.muenchner-verlagsgruppe.de
Für Eva
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Widmung
Vorwort von Jesús Huerta de Soto
Einführung
Erstes Kapitel ‒ Zwei Visionen Europas
Die klassisch-liberale Vision
Die sozialistische Vision
Die Geschichte des Kampfes der zwei Visionen
Zweites Kapitel ‒ Die Dynamik des Zwangsgeldes
Auftritt der Banken
Auftritt des Staates
Der klassische Goldstandard
Das Bretton-Woods-System
Europa nach Bretton Woods
Drittes Kapitel ‒ Der Weg zum Euro
Staatsstreich in Deutschland
Unterschiede zwischen der Bundesbank und der EZB
Viertes Kapitel ‒ Warum hochinflationäre Länder den Euro wollten
Die Befreiung Europas von der D-Mark
Prestige
Sozialisierter Geldschöpfungsgewinn
Niedrigere Zinssätze
Mehr Importe und ein höherer Lebensstandard
Eine Ausrede für Haushaltskürzungen
Geldpolitische Umverteilungsgewinne
Fünftes Kapitel ‒ Warum Deutschland die D-Mark aufgab
Die Rolle der französischen Regierung
Vorteile für die herrschende Klasse Deutschlands
Sechstes Kapitel ‒ Das Geldmonopol der EZB
Siebtes Kapitel ‒ Unterschiede in der Geldschöpfung zwischen der Fed und der EZB
Wie die EZB Regierungen finanziert
Achtes Kapitel ‒ Die EWU als selbstzerstörerisches System
Zwangsgeld und externe Kosten
Die Tragödie der Allmende und das Bankwesen
Der Euro und die Tragödie der Allmende
Die Tragödie des Euro und der Fall Griechenland
Neuntes Kapite ‒ Die EWU als konfliktverschärfendes System
Zehntes Kapitel ‒ Der Weg in den Zusammenbruch
Irland
Axel Weber
Der Pakt für Wettbewerb und die Ausweitung des Rettungsschirms
Portugal
Elftes Kapitel ‒ Die Zukunft des Euro
Können Regierungen diese Krise beherrschen?
Fazit
Anmerkungen
Abbildungsverzeichnis
Literatur
Danksagung des Autors
Über den Autor
Vorwort von Jesús Huerta de Soto
Es ist mir eine große Freude, dieses Buch meines Kollegen Philipp Bagus vorzustellen, der einer meiner brillantesten und vielversprechendsten Schüler ist. Das Buch erscheint genau zur rechten Zeit und zeigt, wie der interventionistische Aufbau des Europäischen Währungssystems zu einem Desaster geführt hat.
Die gegenwärtige Währungskrise ist die direkte Folge einer vom europäischen Bankensystem vorgenommenen Kreditexpansion. In den frühen 2000er Jahren wurde insbesondere in den Peripheriestaaten der Europäischen Union wie Irland, Griechenland, Portugal und Spanien der Kredit ausgeweitet. Verbunden mit einem Rückgang der Inflationserwartungen und Risikoprämien sorgte die Kreditexpansion für eine beträchtliche Senkung der Zinssätze. Aufgrund des Ansehens der neu gegründeten, nach dem Vorbild der Bundesbank gestalteten Europäischen Zentralbank sanken die Inflationserwartungen deutlich. Die Risikoprämien verringerten sich künstlich aufgrund der erwarteten Unterstützung durch stärkere Nationen. Das Ergebnis war ein künstlicher Aufschwung. Es entstanden Vermögenswertblasen wie zum Beispiel eine Immobilienblase in Spanien. Das neu geschaffene Geld wurde hauptsächlich in die Länder an der Peripherie eingespeist, wo es Überkonsum und Fehlinvestitionen finanzierte, hauptsächlich in den aufgedunsenen Automobil- und Bausektoren. Gleichzeitig förderte die Kreditexpansion die Finanzierung und Ausweitung untragbarer staatlicher Wohlfahrtsprogramme.
Im Jahr 2007 begannen sich jene mikroökonomischen Auswirkungen zu zeigen, die jeden künstlichen, durch Kreditausweitung und nicht durch echte Ersparnisse finanzierten Aufschwung rückgängig machen. Preise für Produktionsmittel, wie zum Beispiel Rohstoffe, und für Löhne stiegen an. Aufgrund des Inflationsdrucks stiegen auch die Zinssätze, weshalb die Zentralbanken ihre expansive Haltung abschwächen mussten. Schließlich begannen die Verbraucherpreise relativ zu den Produktionsfaktorpreisen zu steigen. Es wurde immer offensichtlicher, dass der Mangel an echten Ersparnissen viele Investitionen untragbar machte. Viele dieser Investitionen wurden im Bausektor getätigt. Der Finanzsektor geriet unter Druck, weil Hypotheken verbrieft worden waren und direkt oder indirekt in den Bilanzen der Finanzinstitute auftauchten. Der Druck gipfelte im Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers, was zu einer ausgewachsenen Panik auf den Finanzmärkten führte.
Bedauerlicherweise griffen die Regierungen in den notwendigen Anpassungsprozess ein, anstatt eine Entfaltung der Marktkräfte zuzulassen. Es ist dieser missliche Eingriff, der nicht nur eine schnellere und gründlichere Erholung verhinderte, sondern als Nebenwirkung auch den Keim der Währungskrise vom Frühjahr 2010 legte. Regierungen versuchten, die überdehnten Sektoren mit höheren Ausgaben zu stützen. Sie subventionierten den Neuwagenkauf, um die Automobilindustrie zu unterstützen, und vergaben öffentliche Aufträge, um sowohl den Bausektor als auch indirekt die Bankbranche zu unterstützen, die diesen Industriezweigen Kredite gegeben hatte. Darüber hinaus stützten Regierungen den Finanzsektor direkt, indem sie für seine Verbindlichkeiten bürgten, Banken ganz oder teilweise verstaatlichten, oder ihnen Wertpapiere abkauften. Gleichzeitig schnellte die Arbeitslosigkeit in die Höhe, weil die Arbeitsmärkte reguliert waren. Öffentliche Einnahmen aus Einkommenssteuer und Sozialversicherung gingen stark zurück. Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung nahmen zu. Einnahmen aus Körperschaftssteuern, die in Branchen wie dem Bankwesen sowie der Bau- und Automobilindustrie künstlich aufgebläht gewesen waren, versiegten fast völlig. Aufgrund sinkender Einnahmen und steigender Ausgaben kam es als direkte Folge staatlicher Reaktionen auf die Krise, die von einem nicht durch echte Ersparnisse gespeisten Aufschwung verursacht worden war, zu rasant ansteigenden Haushaltsdefiziten und Staatsschulden.
Der spanische Fall ist paradigmatisch. Die spanische Regierung subventionierte die Automobilindustrie, den Bausektor und die Bankbranche, die im Zuge der Kreditausweitungsphase des Aufschwungs erheblich expandiert hatten. Gleichzeitig sorgte ein sehr inflexibler Arbeitsmarkt dafür, dass die offizielle Arbeitslosenquote auf 20 Prozent stieg. Die Märkte und andere EU-Mitgliedsstaaten begannen, sich über das hierdurch entstandene öffentliche Defizit Sorgen zu machen, weshalb sich die Regierung schließlich genötigt fühlte, einige zögerliche Sparmaßnahmen anzukündigen, um weiterhin Schulden aufnehmen zu können.
In dieser Hinsicht offenbarte sich einer der »Vorteile« der gemeinsamen Währung. Ohne den Euro hätte die spanische Regierung ihre Währung ganz sicher genauso entwertet wie im Jahr 1993 und hätte Geld gedruckt, um das Defizit zu reduzieren. Die Folge wäre eine Revolution in der Preisstruktur und eine sofortige Verarmung der spanischen Bevölkerung bei drastischem Anstieg der Importpreise gewesen. Außerdem hätte es eine Entwertung der Regierung ermöglicht, ihre Ausgaben ohne jegliche Strukturreformen weiter fortzusetzen. Mit dem Euro kann die spanische Regierung (oder irgendeine andere Regierung in Schwierigkeiten) ihre Währung nicht entwerten oder Geld für die direkte Schuldentilgung drucken. Jetzt, unter dem Druck der Kommission und der Mitgliedsstaaten wie Deutschland, mussten diese Regierungen Sparmaßnahmen ergreifen. Somit ist es möglich, dass das zweite von Philipp Bagus in diesem Buch dargestellte Zukunftsszenario Wirklichkeit wird. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt könnte reformiert und durchgesetzt werden. Demzufolge würden die Regierungen der Europäischen Währungsunion ihre Sparmaßnahmen fortsetzen und verstärken sowie strukturelle Reformen vornehmen, um dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zu entsprechen. Von konservativen Staaten wie Deutschland unter Druck gesetzt, würde sich die gesamte Europäische Währungsunion in Richtung traditioneller Krisenpolitik mit Ausgabenkürzungen entwickeln.
Im Gegensatz zur EWU halten sich die USA an keynesianische Rezepturen für Rezessionen. Dem keynesianischen Standpunkt zufolge muss die Regierung in Krisenzeiten einen Rückgang der »gesamtwirtschaftlichen Nachfrage« durch einen Anstieg ihrer Ausgaben ausgleichen. Deshalb betreiben die USA Defizitfinanzierung und eine extrem expansive Geldpolitik, um die Wirtschaft anzukurbeln. Vielleicht kann man als eine positive Wirkung des Euro vermerken, dass er die gesamte EWU in Richtung Sparsamkeit gedrängt hat. Ich habe tatsächlich bereits die Meinung vertreten, dass die gemeinsame Währung ein Schritt in die richtige Richtung ist, da sie die Wechselkurse innerhalb Europas festsetzt und dadurch den monetären Nationalismus und das Chaos flexibler Zwangsgeldwechselkurse beendet, das von Regierungen insbesondere in Krisenzeiten manipuliert wurde.¹
Seit er Student in meinem Kurs war, hat mein lieber Kollege Philipp Bagus meine ziemlich positive Sicht des Euro kritisch hinterfragt, wobei er zu Recht auf die Vorteile des Währungswettbewerbs hinwies. Sein Buch Die Tragödie des Euro – Ein System zerstört sich selbst kann als ausgearbeitete Darstellung seiner Argumente gegen den Euro gelesen werden. Während durch eine gemeinsame Währung theoretisch der monetäre Nationalismus in Europa abgeschafft wird, stellt sich die Frage: Wie stabil ist eine gemeinsame Währung in Wirklichkeit? Bagus behandelt diese Frage aus zwei Perspektiven, indem er gleichzeitig die zwei hauptsächlichen Leistungen und Beiträge dieses Buches vorbringt: eine historische Analyse der Ursprünge des Euro und eine theoretische Analyse der Funktionsweise und Mechanismen des Euro-Systems. Beide Analysen führen zum gleichen Ergebnis. In der historischen Analyse beschäftigt sich Bagus mit den Ursprüngen des Euro und der EZB. Er enthüllt die Interessen von nationalen Regierungen, Politikern und Bankern auf eine ähnliche Weise, wie es Rothbard in The Case against the Fed in Bezug auf den Ursprung des Federal Reserve System macht. Tatsächlich hätte das Buch auch den analogen Titel The Case against the ECB oder Der Fall EZB tragen können. Betrachtet man die politischen Interessen, die Dynamik und die Umstände im Zusammenhang mit der Einführung des Euro, wird erkennbar, dass der Euro tatsächlich ein Schritt in die falsche Richtung sein könnte; ein Schritt hin zu einem paneuropäischen inflationären Zwangsgeld, das die Hindernisse hinwegfegen sollte, die Wettbewerb und konservative Geldpolitik der Bundesbank zuvor auferlegt hatten. Bagus’ theoretische Analyse verdeutlicht die inflationäre Absicht und Ausrichtung des Euro-Systems noch mehr. Das Euro-System wird als ein selbstzerstörerisches System entlarvt, das zu massiver Umverteilung innerhalb der EWU führt, mit Anreizen für Regierungen, die EZB als Instrument zur Finanzierung ihrer Defizite zu missbrauchen. Bagus zeigt, dass der Begriff von der Tragödie der Allmende, den ich zur Beschreibung des Teildeckungsbankwesens verwendet habe, auch auf das Euro-System anwendbar ist, wo verschiedene europäische Regierungen den Wert der gemeinsamen Währung ausnutzen können.
Ich bin froh, dass das Mises Institute dieses Buch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Die Zukunft Europas und der Welt hängt davon ab, dass die Geldtheorie und die Funktion der monetären Institutionen begriffen werden . Dieses Buch ist sehr hilfreich beim Verständnis der Geschichte des Euro und des ihm zugrunde liegenden verkehrten institutionellen Systems. Es bleibt die Hoffnung, dass es auch dabei helfen kann, einen Gezeitenwechsel hin zu einem soliden Geldsystem in Europa und der ganzen Welt herbeizuführen.
Einführung
Die jüngste Krise des Euro-Systems hat die Finanzmärkte und die Regierungen erschüttert. Der Euro hat gegenüber anderen Währungen erheblich an Wert verloren, und zwar mit einer für die politischen und finanziellen Eliten besorgniserregenden Geschwindigkeit. Sie fürchten sich davor, die Kontrolle zu verlieren. Im monatlichen Bericht vom Juni 2010 räumt die Europäische Zentralbank (EZB) ein, dass das europäische Bankensystem Anfang Mai 2010 am Rande des Zusammenbruchs stand. Mehrere europäische Regierungen, darunter jene Frankreichs, standen kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Gemessen an Credit Default Swaps stieg das Zahlungsunfähigkeitsrisiko einiger europäischer Banken auf ein höheres Niveau als während der Panik nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008.
Die politische Klasse reagierte auf die Krise mit verzweifelten Versuchen, das sozialistische Projekt einer gemeinsamen europäischen Zwangsgeldwährung zu retten. Sie hatte Erfolg – zumindest bis auf weiteres. Nach intensiven Verhandlungen wurde zur Stützung europäischer Regierungen und Banken ein beispielloser 750-Milliarden-Euro-»Rettungsschirm« geschaffen. Gleichzeitig jedoch begann die EZB etwas, was viele zuvor für undenkbar gehalten hatten: den offenen Erwerb öffentlicher Schuldverschreibungen, eine Handlung, die ihre Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit untergräbt.² Die Öffentlichkeit und der Markt werden die monetäre Struktur der Europäischen Währungsunion (EWU) für immer anders wahrnehmen als zuvor.
Der Widerstand gegen diese beispiellosen Maßnahmen nimmt zu, insbesondere in Ländern mit traditionell konservativer Geld- und Haushaltspolitik. Eine Umfrage in Deutschland ergab, dass 56 Prozent der Deutschen gegen den Rettungsfonds waren.³
Es überrascht nicht, dass die Mehrheit der Deutschen eine Rückkehr zur D-Mark will.⁴ Die Menschen scheinen intuitiv zu verstehen, dass sie auf der Verliererseite eines komplexen Systems stehen. Sie sehen, dass sie regelmäßig sparen und ihre Gürtel enger schnallen, während sich Regierungen anderer Länder einem wilden Kaufrausch hingeben. Ein führendes Beispiel ist das »Tourismus für alle«-Programm in Griechenland: die Armen erhalten staatliches Geld für ihren Urlaub. Selbst mitten in der Krise setzt die griechische Regierung dieses Programm fort, wenn auch die Zahl subventionierter Übernachtungen auf zwei reduziert wurde.⁵ Die Regierung Griechenlands hält außerdem ein öffentliches Rentensystem aufrecht, das großzügiger ist als das Deutschlands. Griechische Arbeiter erhalten eine Rente von bis zu 80 Prozent ihrer Durchschnittslöhne. Deutsche erhalten nur 46 Prozent, ein Betrag, der in Zukunft auf 42 Prozent sinken wird. Während Griechen 14 Rentenzahlungen im Jahr erhalten, bekommen Deutsche zwölf.⁶
Deutsche bewerten die Rettung Griechenlands als Abzockerei. Die Rettungsaktion macht die in die EWU eingebetteten Zwangstransfers offensichtlicher. Aber die meisten Leute verstehen immer noch nicht genau, wie und warum sie zahlen. Sie haben den Verdacht, dass der Euro irgendetwas damit zu tun hat.
Das Euro-Projekt haben europäische Sozialisten angestoßen, um damit ihrem Traum von einem europäischen Zentralstaat näherzukommen. Das Projekt wird jedoch bald scheitern. Der Zusammenbruch ist weit davon entfernt, ein Zufall zu sein. Er ist schon Teil der institutionellen Struktur der EWU, deren Entwicklung wir in diesem Buch nachvollziehen werden. Diese Entwicklung ist eine Geschichte über Intrigen und ökonomische und politische Interessen – eine faszinierende Geschichte, in der Politiker um Macht, Einfluss und ihren Stolz kämpfen.
Erstes Kapitel ‒
Zwei Visionen Europas
Seit den Anfängen der Europäischen Union gibt es einen Streit zwischen den Vertretern zweier unterschiedlicher Ideale. Welche Gestalt sollte sie annehmen: die einer klassisch-liberalen Vision oder die einer sozialistischen Vision Europas? In den Strategien dieser beiden Visionen hat die Einführung des Euro eine Schlüsselrolle gespielt.⁷ Um die Tragödie des Euro und seine Geschichte zu verstehen, ist es wichtig, mit diesen beiden divergierenden Visionen und ihren Spannungen vertraut zu sein, die angesichts einer Einheitswährung in den Vordergrund getreten sind.
Die klassisch-liberale Vision
Die Gründungsväter der EU, Schuman (Frankreich [geboren in Luxemburg]), Adenauer (Deutschland) und Alcide de Gasperi (Italien), allesamt Deutsch sprechende Katholiken, standen der klassisch-liberalen Vision Europas näher.⁸ Sie waren außerdem Christdemokraten. Für die klassisch-liberale Vision ist individuelle Freiheit der wichtigste kulturelle Wert der Europäer und des Christentums. In dieser Vision verteidigen souveräne europäische Staaten private Eigentumsrechte und eine freie Marktwirtschaft in einem Europa der offenen Grenzen und ermöglichen damit den freien Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Ideen.
Der Vertrag von Rom von 1957 war der größte Erfolg für die klassisch-liberale Vision Europas. Der Vertrag sicherte vier Grundfreiheiten: Freiheit des Güteraustausches, des Dienstleistungsangebots, der Kapitalbewegung und der Niederlassung. Der Vertrag erneuerte die Rechte, die ein wesentlicher Bestandteil der kurzen klassisch-liberalen Periode Europas im 19. Jahrhundert gewesen waren, aber im Zeitalter des Nationalismus und Sozialismus abgeschafft worden waren. Der Vertrag stellte eine Abkehr vom Zeitalter des Sozialismus dar, der zu Konflikten zwischen europäischen Nationen führte, die in zwei Weltkriegen ihren Höhepunkt gefunden hatten.⁹
Ziel der klassisch-liberalen Vision ist die Wiederherstellung der Freiheiten des 19. Jahrhunderts. Im gemeinsamen europäischen Markt sollte freier Wettbewerb ohne Zugangsbeschränkungen herrschen. In dieser Vision konnte niemand einen deutschen Friseur daran hindern, in Spanien Haare zu schneiden, und keiner durfte einen Engländer für die Überweisung seines Geldes von einer deutschen auf eine französische Bank oder für eine Investition auf dem italienischen Aktienmarkt besteuern. Keiner konnte einen französischen Brauer mit Regularien daran hindern, in Deutschland Bier zu verkaufen. Niemand konnte einen Dänen daran hindern, seinem Wohlfahrtsstaat und extrem hohen Steuern den Rücken zu kehren und in ein Niedrigsteuerland wie Irland zu ziehen.
Um dieses Ideal friedlicher Kooperation und florierenden Handels zu erreichen, würde nichts weiter nötig sein als Freiheit. In dieser Vision ist die Schaffung eines europäischen Superstaates nicht notwendig. Die klassisch-liberale Vision bringt dem europäischen Zentralstaat sogar äußerste Skepsis entgegen; er wird als etwas betrachtet, das der individuellen Freiheit diametral entgegensteht. Philosophisch gesprochen sind viele Verteidiger dieser Vision vom Katholizismus beseelt, und die Ausdehnung des Christentums markiert die Grenzen der europäischen Gemeinschaft. Entsprechend der katholischen Soziallehre sollte das Prinzip der Subsidiarität herrschen: Probleme sollten auf der möglichst niedrigen und dezentralen Ebene gelöst werden. Die einzig akzeptable zentralisierte europäische Institution würde ein europäischer Gerichtshof sein, dessen Aktivitäten sich auf die Behandlung von Streitfällen zwischen Mitgliedsstaaten und den Schutz der vier Grundfreiheiten beschränken würden.
Aus klassisch-liberaler Sicht sollte es wie seit Jahrhunderten in Europa viele konkurrierende politische Systeme geben. Im Mittelalter und bis zum 19. Jahrhundert haben viele sehr unterschiedliche politische Systeme existiert, wie zum Beispiel die freien Städte Flanderns, Deutschlands und Norditaliens. Es gab Königreiche wie Bayern oder Sachsen, und es gab Republiken wie Venedig. Politische Vielfalt manifestierte sich am deutlichsten im stark dezentralisierten Deutschland. In einer Kultur der Vielfalt und des Pluralismus blühten Wissenschaft und Wirtschaft auf.¹⁰
Wettbewerb auf allen Ebenen ist ein wesentlicher Bestandteil der klassisch-liberalen Vision. Er führt zu Kohärenz, da sich Produktstandards, Faktorpreise und besonders Lohnsätze tendenziell angleichen. Kapital bewegt sich dorthin, wo Löhne