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Westend Z: Krimi
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eBook399 Seiten5 Stunden

Westend Z: Krimi

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Über dieses E-Book

Fußball verrückt! Als der neue Stürmer-Star der Eintracht, Thomas Fußballgott Abega, wie ein wildes Tier über einen Sport-Journalisten herfällt, sind Sportwelt und Fans geschockt. Abegas Berater und der Verein wirken ratlos. Kurz darauf greift der gleiche Journalist im Krankenhaus zwei Schwestern an.
Was steckt dahinter? Diese Frage muss sich nicht nur Hauptkommissar Jens Kleist während seiner Ermittlungen stellen, sondern auch Eva Maler, die Kollegin des Journalisten. Sie treffen auf dubiose Spielervermittler, Manipulation im Profi-Fußball und Geldwäsche im großen Stil. Oder steckt dahinter gar ein krudes Doping-System oder eine todbringende Seuche, die Menschen den Verstand raubt und sie in aggressive Wahnsinnige verwandelt?
Während sich Jens Kleist und Eva Maler auf Spurensuche begeben, entwickelt sich der Journalist zur großen Gefahr für alle. Er irrt durch die Stadt und wird mit jeder Sekunde gefährlicher, denn er sucht sich weitere Opfer – alles gerät außer Kontrolle und eine atemberaubende Apokalypse beginnt ...
SpracheDeutsch
Herausgebermainbook Verlag
Erscheinungsdatum24. Apr. 2017
ISBN9783946413639
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    Buchvorschau

    Westend Z - Helmut Flender

    Epilog

    Tag 1

    1

    „Ich bin auch nur ein Mensch. Ich habe gute und schlechte Tage", erklärt Thomas und zupft sich den Kragen seines Hemdes zurecht. Es ist heiß, sehr heiß. Entweder das oder er bekommt Fieber.

    „In letzter Zeit sind es dann wohl eher nur gute Tage, antwortet der Journalist mit süffisantem Grinsen. „Sie haben 9 Treffer aus 4 Spielen auf Ihrem Konto und benötigen lediglich 4,2 Ballkontakte pro Tor. Das ist der beste Wert europaweit. Und das, obwohl Sie vor einem Jahr noch in der zweiten Liga gespielt haben.

    Thomas bemüht sich zu lächeln, obwohl ihm jetzt wirklich unangenehm heiß ist, als wäre ein Feuer in ihm entzündet worden und er auf kleiner Flamme gebraten würde. Außerdem brennt die Sonne vom Himmel, prügelt auf seinen Schädel, sodass er die Hitze auf seiner Kopfhaut spürt. Die zu Stoppeln rasierten Haare sind kein Schutz. Hinzu kommen die Menschen, Massen von Menschen, die sich vorbeibewegen, wobei sie ihm ihre neugierigen, weißen Grimassen entgegenstrecken. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Oder mit denen. Können sie ihn nicht wenigstens einmal in Ruhe lassen?

    „Wie kommt diese Leistungsexplosion?" Der Journalist lässt seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern hin und her schwingen wie ein Pendel.

    „Ich habe viel trainiert und unser Trainer weiß genau, wie er einen motiviert", antwortet er, mit einer Hand an seinem Hemdkragen nestelnd. Es fühlt sich an, als sei dort eine Schlinge, die sich langsam zuzieht, ihn erdrosselt.

    Der Journalist betrachtet ihn herausfordernd, als halte er diese Erklärung für eine Lüge. Eine verdammte Klugscheißerfresse hat dieser Schmierfink. Thomas bedauert, dass er sich auf ein Interview eingelassen hat. Die Schuld liegt bei seinem Manager, der ihn immer wieder dazu anhält, sich öffentlich zu präsentieren und in jeden Arsch zu kriechen, der auch nur im Entferntesten nach Medien aussieht. Würdelos und ärgerlich ist das alles.

    „Sie haben physisch zugelegt in der Sommerpause, Ihre Ernährung umgestellt und sich im neuen Leistungszentrum des DFB beraten lassen. Können Sie kurz darstellen, was man Ihnen empfohlen hat?"

    Es ist ein Kribbeln in den Fingerspitzen, das sich rasend schnell ausbreitet, die Arme empor wandert und jeden Muskel zum Zucken bringt. Dieser weiße Wichser will ihn drankriegen. Er giert nach einer Story. Ihm ist es egal, wer den Preis dafür bezahlt. Ihn kümmert es nicht, dass er seit seinem fünften Lebensjahr auf Bolzplätzen geschwitzt hat und ihm manchmal der Rücken weh tut, als ob ein Insekt mit seinen spitzen Greifern die Bandscheiben bearbeitet, Nervenstränge in kleine Stücke schneidet. Er will seine Geschichte, Schlagzeilen, Blutgeld, das ist alles, was ihn interessiert. Thomas spürt, wie er würgen muss.

    „Alles in Ordnung mit Ihnen?" Der Journalist legt den Kopf schief. Seine Finger spielen mit dem Stift. Es ist keine Anteilnahme in seinem Blick. Vielleicht hofft dieser Journalist, dass Thomas gleich kotzen muss. Das wäre eine kleine Sensation. Noch ein Bild des Erbrochenen, eines mit Thomas Abega, der sich gerade einen Schleimfaden aus den Mundwinkeln wischt. Das ist es, was dieser Schmierer will.

    „Entschuldigen Sie, könnte ich bitte ein Autogramm haben?" Die Frau steht plötzlich am Tisch, bleckt die Zähne, weiße, spitze Zähne, die aussehen, als hätten sie gerade rohes Fleisch von einem Knochen genagt. Die Nase ist zu lang, die Augen liegen tief. Sie sieht ihn mit stumpfem Blick an. Das Lächeln auf ihrem Gesicht ist höhnisch, der gleiche kalte, verächtliche Ausdruck wie bei den Spannern, die sich daran weiden, wenn er sich auf dem Spielfeld windet. Nackter Hass, der ihre Gesichter verzerrt. Sie wollen Schmerz, Blut, Schreie, das ist es, was sie wollen. Er ist kein Mensch, nicht für sie und gewiss nicht für diese Frau.

    Das Zittern hat die Mitte seines Körpers erreicht. Er will etwas sagen, sie wegschicken, damit sie nicht seine Wut zu spüren bekommt, denn dann müsste er sich etwas von Jürgen, seinem Manager, anhören. Mann, bist du dir deiner Position nicht bewusst? Du kannst doch nicht die Kontrolle verlieren! Immer nur Kontrolle, sein ganzes Scheißleben ist Kontrolle.

    „Könnten Sie mir ein Autogramm geben?" Sie schiebt ihm ein Foto hin, auf der eine dicke, grinsende Frau abgebildet ist, in deren Zügen er erst auf den zweiten Blick die Autogrammjägerin selbst erkennt.

    „Hehwech!", kommt es ihm über die Lippen. Seine Zunge! Es ist etwas mit seiner Zunge, sie liegt schwer in seinem Mund, ein träger, schwerer Fleischlappen, der seine Elastizität eingebüßt hat.

    Der Kragen drückt weiter, zieht sich zusammen wie eine Garotte. Unmöglich noch Luft zu kriegen. Er steht auf, der Tisch fällt um, aber das ist nicht von Bedeutung.

    Er sieht nur ihre Zähne, spitz wie Messer. Sie bleckt die Zähne, ganz klar. Dann faucht sie wie ein Tier. Oder ist das die Bremse des LKWs dort drüben auf der Bockenheimer Anlage? Egal!

    Sein Arm fährt nach oben, ein Reflex, eine reine Schutzreaktion, nicht mehr, sie aber schnappt danach, bestimmt tut sie das, er spürt ja den Druck ihrer Zähne und jetzt denkt er nicht mehr, hört nur noch die Schreie und registriert die Gesichter, welche sich in Grimassen verwandelt haben. Sie wollen ihn packen, festhalten, beißen. Es sind Tiere, wilde Tiere, das waren sie schon immer.

    Er aber ist stark, stärker als seine Gegner. Den Journalisten wirft er mit einer schnellen Bewegung über den Nachbartisch. Die Frau hat den Rückzug angetreten, aber das hilft ihr gewiss nicht. Er packt sie von hinten, reißt sie herum und beißt zu, bis er Blut schmeckt. Sie schreit, kreischt, zuckt, wehrt sich, hämmert ihm ihren Ellenbogen gegen den Schädel.

    Lächerlich! Schon liegt sie vor ihm, eine klaffende Wunde knapp unterhalb des Auges. Zwei Münder zieren nun ihr Gesicht, rote, lebendige, atmende Öffnungen, aus denen das Leben strömt. Thomas drückt den Schädel zur Seite, legt die Kehle frei. Dann stößt er auf sie herab, verbeißt sich, schmeckt Eisen, spürt ihren Puls am Hals, spürt, wie es in ihn strömt, er stärker wird, stärker als jene, die ihn leiden sehen wollen. Keine Kontrolle mehr, nie wieder, denkt er. Der Schmerz ist nun verschwunden, jeder Schmerz, den er jemals in sich getragen hat, existiert nicht mehr. Alles löst sich in diesem Pulsieren auf. Was bleibt, ist rasende Wut, ein Tanz auf dem Messer, ein Toben in seiner Brust, das von seinem Herz ausgeht. Er spürt es in sich brennen, als würde er gleich explodieren.

    Er springt auf, die Arme angewinkelt, den Kopf leicht gesenkt, bereit, es mit dem nächsten aufzunehmen, der sich ihm entgegenstellt. Sie kommen, sind schon da. Sie bilden einen Kreis um ihn. Aber die Angst ist nun in ihren Gesichtern. Sie wissen, mit wem sie es zu tun haben, was er ihnen antun kann. Ohne zu zögern, stürzt er sich auf den Journalisten.

    Du willst eine Geschichte? Hier ist sie.

    2

    Männer vs. Frauen, so heißt das Spiel, das wir jeden Tag aufs Neue spielen. Im Grunde genommen ist es kein richtiges Gegeneinander, mehr ein Ausschließen und Alleinemachen. Hier regieren wir, die Herrscher des Testosterons (trommel auf Brustkorb), dort drüben dürft ihr ein bisschen Kultur machen und euch den Kopf darüber zerbrechen, was dieses Jahr ein MUST-HAVE ist. Bordeauxrote Fingernägel gehören dazu, soweit ich der Moderatorin aus dem Frühstücks-Radio trauen darf und auch wenn ich Bordeauxrot mag, werde ich mir kein Bordeauxrot zulegen, weil ich Angst hätte, im Mainstream zu ersaufen.

    Manchmal macht es mich wütend, mit welcher Unverfrorenheit selbst intellektuell nicht minderbemittelte Männer, allen voran mein Chefredakteur Rüdiger, ihren Machismo ausleben. Meistens aber muss ich einfach nur grinsen, denn mit einem Lachen lassen sich die größten Probleme der Welt vielleicht nicht vom Angesicht des Planeten tilgen, aber sie wirken irgendwie kleiner, niedlicher, rosarot und kringelig, sobald man ihnen entgegen grinst.

    „Ist das okay für dich, wenn du Rudolf Weiser interviewst und sein neues Buch vorstellst? Rüdiger sieht auf sein Pad und liest vor: „Die Erfindung des Terrors durch einen pubertären Neurotiker auf einer Toilette im Winter 68.

    „Was ist los?", frage ich entsetzt. Auch eine Journalistin wie ich, die sich den Arm für eine gute Geschichte abschneiden würde, hat ihre Grenzen.

    „Steht auf der Shortlist der Buchmesse und ist für den deutschen Buchpreis nominiert. Ich habe es gelesen. Ist ein richtig gutes Buch, da gibt es nichts dran zu rütteln. Ein Kaleidoskop der Sechziger und Siebziger Jahre, fantasievoll ausgestaltet und trotzdem ein Spiegel der damaligen Zeit, aus dem wir heute noch Erkenntnisse gewinnen können. Was ist Terror? Wie wirkt er auf Jugendliche? Was bewegt junge Menschen in einer komplexen Welt, die ihnen stetig neue Herausforderungen und auch Einschränkungen vor die Nase setzt?"

    „Aber wenn ich den Titel geschrieben habe, bleibt ja nichts mehr für einen Artikel", lamentiere ich über den Konferenztisch.

    „Stell dich nicht so an. Lies das Buch – von mir aus auch quer -, triff den Mann und du wirst sehen, das gibt einen guten Artikel."

    „Ich würde für die Samstagsausgabe lieber etwas über den VW-Skandal schreiben, über die Männerbünde, welche hinter dieser ganzen Geschichte eine Rolle spielen."

    „Das will doch keiner lesen. Der halbe Vorstand ist zurückgetreten und dass es bei VW nicht gerade frauenfreundlich zugeht, ist allgemein bekannt. Das bringt nichts, sich darüber jetzt auch noch auszulassen."

    „Aber ein Teenager im Jahre 68, der neurotisch ist und auf der Toilette sitzt, der bringt es?"

    „Gib dem Mann seine Chance und lass dich nicht vom Titel täuschen. Du bist doch sonst für alles aufgeschlossen."

    Totschlagargumente! Rüdiger will mich mit einfachsten Mitteln mundtot machen, weil er weiß, es wird schwer, jemanden für ein Interview mit diesem Weiser zu begeistern. Ich zögere einen Moment zu lange, suche nach einer geeigneten Volte und schon ist meine Zeit verstrichen.

    „Okay, dann machen wir es doch so." Rüdiger nickt erst Michael Beyer zu, der heute noch mit einem der Vorstandsvorsitzenden von BMW sprechen wird, sieht dann mich kurz an, meidet es aber Blickkontakt aufzunehmen.

    Bevor ich ein letztes Veto geltend machen kann, stürmt Lola den Konferenzraum, den Kopf hochrot, die Haare wie elektrisch geladen. Alle Blicke richten sich auf sie. „Thorsten liegt im Krankenhaus, schwer verletzt."

    Rüdiger schüttelt sich wie ein Eisbär, der gerade aus dem kalten Wasser des Polarmeers auf die letzte Eisscholle weit und breit klettert.

    „Was? Thorsten? Thorsten Unger?"

    „Liegt im Krankenhaus, wiederholt Lola und fuchtelt dabei mit den Händen herum, als sei sie auf Gebärden angewiesen, um sich verständlich zu machen. „Thomas Abega hat ihn angegriffen und mehrfach gebissen, fügt sie hinzu, auch diese Information durch ein entsprechendes Mienenspiel unterlegt.

    „Abega? Der Fußballspieler?", ruft Michael und springt auf.

    Auch wenn ich keine Ahnung von Fußball habe, Fußball für eine degenerierte Sportart halte, die erwachsene Männer in Primaten verwandelt, weiß ich, wer Thomas Abega ist. „Der Eintracht-Stürmer hat Thorsten angegriffen und gebissen?"

    Lola nickt knapp, bevor sie weiterspricht. „Thorsten und noch drei andere Passanten. Eine Frau schwebt in Lebensgefahr."

    „Das kann doch nicht sein! Abega ist doch kein Psychopath. Wieso sollte er Menschen auf offener Straße angreifen?"

    Die Frage schwebt einen Moment durch den Raum, ohne sich aufzulösen, an Substanz zu gewinnen oder beantwortet zu werden. Wieso sollte ein hochbezahlter Fußballspieler etwas Derartiges tun?

    „Muss den Verstand verloren haben. Ist wohl während Thorstens Interview völlig ausgetickt", sagt Lola leise.

    „Und wo ist Abega jetzt?", will ich wissen.

    „Liegt wohl auch im Krankenhaus", antwortet Ina schulterzuckend.

    „Ich muss los", rufe ich, während Rüdiger noch nach seiner Fassung sucht, die sich in den letzten Sekunden irgendwo unter dem Tisch oder in seinem Unterbewusstsein verloren hat. Er zuckt kurz, lässt dann aber wieder die Schultern hängen, während ich den Raum verlasse. Beyer sitzt neben ihm, ebenfalls in Stasis verfallen.

    Männer mögen sich als Macher verstehen, aber in Krisensituationen sind sie zumeist zögerlich oder schlagen reflexartig um sich, bestenfalls heben sie ihre tiefen Stimmen und geben irgendeinen adrenalinschwangeren Schwachsinn von sich, um ihre nicht vorhandenen Macherqualitäten zu betonen. Zielgerichtete Handlungen sind nicht ihre Spezialität. Solche Defizite muss eine Frau nutzen, um sich in einer Testosteron-geschwängerten Biosphäre zu behaupten. Bevor Rüdiger wieder zu sich kommt, habe ich die Glastür bereits geschlossen und bin auf dem Weg zur Klinik. Und weil es nur ein kleiner Umweg ist, werde ich bei der Alten Oper vorbeifahren, um mir ein Bild zu machen, was sich dort wirklich zugetragen hat.

    3

    Der Kaffeeautomat ist schon wieder defekt. Jens steht mit hängenden Schultern vor der Maschine und betrachtete die blinkenden Knöpfe, deren Morsecode ihm eine eindeutige Nachricht übermittelt: Heute kein Kaffee, du Idiot, trink Wasser! Das ist die unschwer zu dechiffrierende Botschaft. Selber schuld, denkt Jens, und drückt ein weiteres Mal auf die Espresso-Taste. Jana sagt ihm mindestens einmal pro Woche, eine Thermoskanne mit Grünem Tee sei gesünder als Automatenplörre, mit der er sich die Magenschleimhaut kaputtmacht.

    Er nimmt den Becher aus dem Fach und betrachtet die traurige Pfütze darin. Der Sud, welchen der Automat ausgespuckt hat, ist durchsichtig, riecht nach Spülwasser und hat mit Kaffee so viel gemeinsam wie Crème brûlée mit Fruchtquark vom Discounter. Um Espresso handelt es sich in keinem Fall. Da muss man kein Italiener sein, um diese Brühe als ungenießbaren Angriff auf die Geschmacksnerven einzustufen.

    Jens erinnert sich noch genau, wer die glorreiche Idee hatte, eine Maschine zu pachten und von einer externen Firma betreiben zu lassen, damit es keine Streitereien unter Kollegen über vergessene Einkäufe mehr gibt: Römer, Vorgesetzter und Silberrücken des Kommissariats.

    Jens schlägt mit der Faust gegen den Automaten und sieht sich dann vorsichtig um, ob er beobachtet wurde.

    „Ade Kaffee", sagt er zu sich selbst und lässt den Pappbecher – eine Umweltsauerei ist das – in den Mülleimer fallen, um frustriert ins Büro zurückzukehren.

    Tina sitzt in gebückter Haltung vor ihrem Computer und arbeitet an einem Bericht über einen 76-jährigen Mann, der vor zwei Tagen seine Nachbarin mit einer rostigen Schrotflinte ins Nirwana befördert hat, weil sich ihre 8- und 6-jährigen Söhne nicht an die Nachmittagsruhe halten wollten. Der Rentner hat laut Ermittlungen mit dem Gewehrkolben gegen die Tür der Nachbarin gehämmert und der Frau den Kopf weggeblasen, kaum dass diese geöffnet hatte. Die Erinnerung an den Tatort sitzt Jens wie ein scharfkantiges Metallstück, das bei einer Operation vergessen wurde, im Schädel. Sobald er die Augen schließt, sieht er sich die Wohnung betreten, in der die Kriminaltechniker damit zugange sind, gräulich-rote Menschenmasse von den Wänden zu kratzen. Die Kinder des Opfers waren zum Glück nicht mehr zugegen, als Tina und er die Wohnung erreichten. Jens weiß, ihre Gegenwart wäre zu viel für ihn gewesen, er hätte es nicht ertragen, ihnen gegenüberzustehen.

    Seltsam, dass ihn das Alter sensibler macht. Bisweilen spürt er eine emotionale Inkontinenz, die sich kaum mit den Erfordernissen seines Jobs in Einklang bringen lässt.

    Neulich erst hat er sich ertappt, wie ihm beim Anblick der Nachrichten die Tränen kamen. Die Kamera zeigte apathische, im Schlamm sitzende Kinder an der mazedonisch-griechischen Grenze. Zerzauste Gestalten, die in ihrer Bewegungslosigkeit etwas Tierhaftes an sich hatten. Obwohl er die Fernbedienung in der Hand hielt und den Wunsch verspürte, sich abzuwenden und die Augen zu verschließen, war er unfähig umzuschalten. Der Anblick löste eine Art von Starre aus, ein schleichendes Unwohlsein, das die Bilder auf dem Bildschirm mit seiner Wirklichkeit überlagerte.

    Wenn er weiter so emotional reagierte, würde er nicht alt werden in seinem Job. Wie aber soll man es bitteschön ertragen, wenn ein verrückter Drecksack von Rentner einer jungen Mutter den Kopf wegschießt, Kinder zu Waisen werden und die Welt insgesamt den Eindruck vermittelt, so kaputt zu sein, dass nur noch eine Generalüberholung Besserung verspräche?

    Er weiß keine Antwort darauf, spürt nur, wie ihm die Müdigkeit zusetzt. Das Problem ist, dass er die Menschen nicht mehr versteht, dass sich ihm ihre Motive rational nicht erschließen und sie ihm wie ferngesteuerte Ungeheuer erscheinen, die nach anderen Gesetzen handeln, als die Menschlichkeit es gebietet.

    Das Unverständnis ist es, das ihn schwächt und den Wunsch nach Erholung von Tag zu Tag wachsen lässt. Jana ist bereits intensiv am Planen. Die Vorbereitung der Sommerferien fällt in ihr eheliches Ressort, und irgendwie hat es den Anschein, als bereiteten ihr das Aussuchen des Ziels, die Buchung des Hotels, das Vergleichen der Flugpreise mittels Suchmaschinen, die Bestpreise und Schnäppchen verheißen, ein noch größeres Vergnügen als der Urlaub selbst.

    Eine Eigenart, die sich seinem Verständnis entzieht. Wenn es nach ihm ginge – was es gewiss nicht tut –, würde er am letzten Schultag mit verbundenen Augen auf eine Europa-Karte tippen und zu jenem Ort aufbrechen, den sein Finger zufällig berührt.

    Jana aber hat für dieses Jahr Spanien als Reiseziel auserkoren.

    Auch wieder so ein Krisenland.

    Also wird man sich in den Bettenburgen an der Costa del Sol einquartieren und im algenverseuchten Wasser planschen, bis die Haut an den Fingern schrumpelig ist wie die eines Schimpansen.

    „Bist du fertig?", fragt Jens seine Kollegin Tina, deren Schreibfluss ins Stocken geraten ist. Er hat keine Lust mehr, im Büro zu sitzen und sich seiner schlechten Laune hinzugeben. Es gibt noch einen Nachbarn des Psycho-Rentners, den er gerne befragen würde, um den Fall zu den Akten legen und vergessen zu können. Außerdem eröffnet diese dienstliche Tätigkeit außerhalb des Kommissariats die verlockende Möglichkeit, sich einen Kaffee zu besorgen und seiner fortgeschrittenen Entkoffeinierung entgegenzuwirken. Wenn er nicht bald einen Espresso oder eine ordinäre Tasse Filterkaffee bekäme, würde er in Trübsinn und Müdigkeit ertrinken.

    Was ist nur mit ihm los? Es ist untypisch für ihn, so lange deprimiert zu sein. Sind das die ersten Zeichen einer Midlifecrisis? Kommt das in diesem Alter?

    Jens schüttelt energisch den Kopf. Gewiss nicht!

    Zum einen ist es der Rentner-Fall, der ihm aufs Gemüt schlägt, zum anderen sitzt ihm das Wochenende in den Knochen. Tim hatte Geburtstag – Piratengeburtstag – und Jana hat den ganzen Tag herumgewirbelt, als sei sie auf Speed. Das ganze Tohuwabohu hat ihm ebenso zugesetzt wie ihr. Die Regeneration dauert seitdem an. Er fühlt sich müde, abgespannt, grippekrank beinahe. Bei genauer Betrachtung ist seine Stirn auch ein wenig heiß, es brodelt dahinter, entweder weil Viren sein Immunsystem in Aufruhr versetzen oder aufgrund finsterer Gedanken. Im Resultat das Gleiche. Angeblich grassiert ein neuer, überaus ansteckender Grippeerreger. Er ist nicht geimpft und kann gut darauf verzichten, ein paar Tage mit Fieber im Bett zu liegen. Das wäre nicht die Art von Erholung, welche ihm vorschwebt.

    „Es geht nicht schneller, wenn du mir auf die Nerven gehst. Ich bin noch nicht durch mit dem Bericht", antwortet Tina.

    Jens zuckt mit den Schultern.

    „Kannst du später auch noch machen. Es fehlt doch ohnehin die Befragung des Nachbarn, der auf der gleichen Etage wie dieser alte Giftzwerg gelebt hat. Lass uns hinfahren und sehen, ob er da ist."

    Tina stößt sich vom Schreibtisch, rollt bis zur Wand und schlägt die Beine übereinander. „Du willst doch nur an die frische Luft. Was ist los? Du siehst aus wie eine Wasserleiche. Gestern zu viel getrunken?"

    Jens fühlt sich ertappt. Sie arbeiten zu lange zusammen, um sich etwas vormachen zu können.

    „Wir hatten Kindergeburtstag. Tim ist zehn geworden. Das war anstrengender als eine durchzechte Nacht. Zehn Jahre, das heißt zehn Freunde, die er einladen durfte. Die haben uns die Bude auseinandergenommen, die Kinderzimmertür vollgekritzelt und die Sofaritzen mit Popcorn aufgepolstert. Wir haben stundenlang gebraucht, um wieder klar Schiff zu machen."

    „Das meiste wird Jana gemacht haben, so wie ich sie kenne."

    Wenn es etwas gibt, das Jens hasst, ist es die unvermeidliche Solidarisierung unter Frauen, sobald es um das Thema Haushalt geht. Egal, was man sagt, immer ist man der Blödmann, der nicht genug hilft oder das Toilettenpapier aufgebraucht hat, ohne es zu ersetzen. „Ich habe die Kinder bespaßt, hält er Tina entgegen, „und eine Schatzsuche gemacht und dann das Abendessen organisiert.

    „Bei McDonalds?" Ein breites Grinsen erhellt ihr Gesicht.

    Jens verschränkt die Arme vor dem Brustkorb. „Bei Burger King, wenn du es genau wissen willst, und es war so anstrengend, wie einen Sack Flöhe zu hüten. Die sind fast alle zehn Jahre alt und beschmeißen sich mit Pommes, sobald du ihnen auch nur einen Moment den Rücken zudrehst. Da wünscht man sich in die Zeit zurück, als beim Geburtstag nur zwei Mütter aus der Krabbelgruppe gekommen sind, um Stilltee zu trinken und dann wieder abzudampfen."

    Darauf weiß Tina offensichtlich wenig zu sagen. Krabbelgruppen sind nicht ihr Ding und wie Jens die Situation einschätzt, wird das auch noch einige Jahre so bleiben. Sollte Tina sich doch irgendwann fortpflanzen – Wunder gibt es immer wieder –, dürfte es bald eine alleinerziehende Mutter mehr in Deutschland geben. Der Grund ist, wenn man ihn fragt, sie kann einfach nicht angemessen mit Menschen innerhalb einer Beziehung kommunizieren. In diesem Punkt ist sie fast schon männlich veranlagt.

    Gestern erst hat er einen Bericht über einen Mann gelesen, der seit Jahren mit einer Latex-Puppe zusammenlebt und es als entscheidenden Vorteil dieses pseudoamourösen Verhältnisses ansieht, keine Diskussionen mehr führen zu müssen wie in seiner letzten Beziehung zu einer lebenden, atmenden Frau.

    So sind Menschen eben. Unfähig sich auf andere einzustellen, weil jeder unterschiedliche Bedürfnisse hat, die sich kaum miteinander vereinen lassen.

    Gehört er auch diesem Typus an? Der bloße Gedanke ist ihm unangenehm, sodass er beschließt, ihn mit einem Blinzeln in die Abgründe des Bewusstseins zu verbannen, wo er keinen Schaden mehr anzurichten vermag.

    „Burger King, aha", sagt Tina leise und betrachtet gedankenverloren ihren Monitor. Jens weiß, sie wird in den nächsten Augenblicken wieder in ihren Bericht eintauchen, insofern er sie nicht überreden kann, sich auf den Weg zu machen.

    „Los, wir sollten jetzt wirklich …", sagt er. Im selben Moment klingelt das Telefon. Er nimmt den Hörer ab, meldet sich und hört aufmerksam zu, was Polizeihauptwachtmeister Weishaupt-Müller, dessen Stimme selbst durch die Leitung hinweg eine gewisse Aufregung erkennen lässt, ihm mitzuteilen hat.

    „Direkt an der Alten Oper?", fragt er und lässt einen Kugelschreiber zwischen seinen Fingern rotieren. Weishaupt-Müller bestätigt.

    „Wir sind in ein paar Minuten da", sagt Jens und beendet das Gespräch.

    Kaum hat er den Hörer aufgelegt, will Tina wissen, um was es geht.

    „So wie es aussieht, haben wir einen neuen Fall. Vor der Alten Oper hat es vor einer knappen halben Stunde einen Zwischenfall gegeben. Kennst du einen gewissen Thomas Abega?"

    „Den Fußballspieler? Klar kenne ich den. Der ist super. Toller Typ."

    „Dein toller Typ hat gerade vor der Alten Oper einen Journalisten und eine Frau massakriert", antwortet Jens.

    Tina schüttelt den Kopf, als gelinge es ihr nicht, diese Information in ihren Verstand zu lassen. Dann öffnet sie den Mund, schließt ihn im nächsten Moment jedoch wieder, ohne ein Wort zu sagen. Sie sieht dabei aus wie ein Fisch auf dem Trockenen, der nicht begreift, wo das Meer ist, in welchem er Zeit seines Lebens geborgen war.

    4

    Jürgen Makovic geht in den Vorraum seines Büros, nimmt sich eine weitere Flasche Bier und greift nach dem Öffner, welcher auf dem Porzellanteller mit dem Adler-Emblem liegt. Er braucht noch eins, um sein Nervenkostüm zu massieren, dem Stress, der in schnell aufeinanderfolgenden Wellen durch seinen Körper pulsiert, eine weiche Schicht aus einsetzender Betäubung entgegenzusetzen. Seit fast 20 Jahren ist er in diesem Business und natürlich gibt es immer wieder Hoch- und Tiefpunkte, das aber, was sich heute zugetragen hat, besitzt das Potenzial, ihn nachhaltig zu schädigen. Da baut man sich über viele Jahre ein Netzwerk auf, ist bemüht, seinen Ruf auf Vordermann zu bringen, die nötigen Kontakte zu knüpfen und dann kommt ein durchgeknallter Afrozacken-Kicker und bringt all das in Gefahr. Was ist mit diesem Idioten nur los? Bereits bei ihrem letzten Treffen hat ihn Abega aus Augen angesehen, die wie trübes Glas glänzten. Die Pupillen waren winzige schwarze Punkte im Braun der Iris gewesen, die unruhig hin und her blickten, als suchten sie nach dem Notausgang in einem brennenden Gebäude.

    Jetzt also ist dieser muskelbepackte Straßenfußballer völlig durch den Mixer gedreht und hat Menschen angegriffen, eine Passantin sogar mit seinen bloßen Händen getötet, als ob es in Frankfurt zugehen würde wie in seiner westafrikanischen Bananenrepublik. Da muss man sich über Vertragsverlängerung, zukünftige Provisionen und Imageschaden keine Gedanken mehr machen. Minderjährige Prostituierte, schwule Tendenzen, Depressionen, vielleicht noch ein paar krumme Immobiliengeschäfte, das sind alles Dinge, die sich irgendwie in den Griff kriegen lassen, aber doch kein Mord mitten in der Frankfurter Innenstadt! Abega ist tot – karrieretechnisch auf jeden Fall. Bleibt die Frage, wen dieser Schwachmat mit in den Abgrund zieht?

    Makovic hat jetzt nicht den Nerv, mit der Presse zu sprechen, früher oder später aber muss das geschehen. Er wird auf Distanz gehen, zurückrudern, seine Ahnungslosigkeit wiederholen, als sei das sein neues Mantra, und dafür beten, dass Gras über die Sache wächst, Vergessen sich herabsenkt wie rieselnder Staub nach einer verheerenden Explosion. Vielleicht ist es sogar an der Zeit, sich für ein paar Monate zurückzuziehen, nach Malle zu fahren und auf seiner Finca nahe Cala D‘or die Füße hochzulegen.

    So oder so, Malle oder Malediven, wird er sich mit den Gründen für Abegas Wahnsinn beschäftigen müssen. Wieso ist dieser Typ durchgedreht?

    Im Grunde genommen gibt es nur eine plausible Erklärung. Wahrscheinlich geht es um Drogen. Allerdings gibt es Dopingkontrollen und wenn Abega von Zeit zu Zeit ein Näschen nimmt, wofür sein Ausraster – genaugenommen die Mutter aller Ausraster – spricht, müsste das bei den Kontrollen doch aufgefallen sein. Kann Kokain jemanden in einen Zustand versetzen, in dem es ihm danach gelüstet, über seine Mitmenschen herzufallen?

    Jürgen trinkt einen Schluck, denkt nach und erinnert sich an seine letzten drogeninduzierten Erfahrungen. Vor ein paar Wochen hat er sich im Moon13 mit Niels Kelle, seinem Kompagnon, und zwei Spielern, die er neu unter Vertrag hat – beide Brasis, denn Brasilien war immer noch der Aldi für Neueinkäufe –, die Nacht um die Ohren geschlagen.

    Es war feuchtfröhlich hergegangen, schließlich gab es einiges an dicken Verträgen und ebenso dicken Provisionen zu feiern, und die Jungs, der eine hieß Ronaldinho, der andere Diego (gab es eigentlich keine anderen Namen in dieser Samba-Republik?), hatten eine Runde Schampus nach der anderen bestellt. Kelle hatte dann irgendwann gegen Mitternacht ein kleines Plastiksäckchen aus der Tasche gezogen, in dem weißes Puder schimmerte, und halb sichtbar in seiner Handfläche gehalten, als wolle er im Streichelzoo Ziegen mit Maiskörnern ködern. „Wie schaut‘s aus?, hatte er gefragt und Makovic erinnert sich auch jetzt noch sehr genau an seine Antwort: „Aber logo!

    In jedem Fall war ihm auch nach dem Besuch auf der Toilette, samt Nasenbestäubung und Zahnfleischmassage nicht danach gewesen, sich kannibalistisch zu betätigen oder die Anwesenden ins Koma zu prügeln. Er war spitz gewesen, spitzer als spitz, und wenn er sich recht entsinnt, hatte es einen kleinen Zwischenfall mit einer Blondine gegeben, weil er sich veranlasst gesehen hatte, die zarten MelonenRundungen ihres Hinterns zu liebkosen. Diese Emanze war allen Ernstes zur Security marschiert, um ihn auf kindische Weise anzuschwärzen, was zum Rauswurf aus dem Club geführt hatte.

    Makovic nimmt einen weiteren Schluck Bier. Das Kramen in drogendurchsetzten Erinnerungen hilft ihm jetzt nicht weiter. Fakt ist, er kennt keinen Fall, in dem ein bisschen Koks dazu geführt hätte, dass

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