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Neue Identität
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eBook389 Seiten5 Stunden

Neue Identität

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Über dieses E-Book

Die Geschichte handelt von der Verwechslung zweier Frauen infolge eines Verkehrsunfalles. Die eine nimmt, mehr ungewollt als gewollte, aber auch ohne sich dafür zu entschließen, die Identität der anderen an, schlüpft in deren Rolle als Ehefrau und erfährt wie es ist, als unbeschriebenes Blatt ein neues Leben zu beginnen.

Bald stellt sich heraus, dass der Unfall kein Zufall war, dass er der gezielte Anschlag auf eine Politikerin hätte sein sollen, weil die sich für den Schutz von Elefanten stark gemacht hatte. Die Zusammenhänge findet die Überlebende des Unfalls gemeinsam mit einem jungen Computer-Hacker und einem betagten Ministerialbeamten heraus.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum25. Jan. 2017
ISBN9783740727369
Neue Identität
Autor

Lio Sandjanik

Geboren in Wien. Jura-Studium, Auslandsaufenthalte in den USA und Deutschland, Seit 15 Jahren als Anwalt tätig, daneben Veröffentlichung von Aufsätzen, einem Buch und vielen Fachbeiträgen.

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    Buchvorschau

    Neue Identität - Lio Sandjanik

    Inhalt

    Im Theater

    Die Kreuzung

    Die andere Perspektive

    Die Verwechslung

    Schaulustige

    Wer bin ich

    Zwei Wochen davor

    Zwei Wochen danach

    Bewerbung

    Zusage

    Der erste Arbeitstag

    Abgelenkt

    Computerprobleme

    Hacken

    Ein Anschlag?

    Mittagessen mit Melissa

    Innen (im) Ministerium

    Spät abends im Büro

    Leo

    Aufstieg und Fall

    Die beiden Zeugen

    Ina und Hanna

    Bettina sucht körperliche Nähe

    Nachforschungen über Lisbeth

    Titel

    Traumdeutung

    Hacker treffen Markward

    Inas Ermittlungen und Klements Durchbruch

    Indisch Essen

    Bettina weiht Markward ein

    Predlitz muss auf ein Sommerfest

    Bettina wieder Bettina?

    Feuer in der Gefängnisküche

    Sommerfest

    Wer bist du?

    Der Sektionschef

    Beim Heurigen

    Erwachen aus dem Koma

    Dr. Saibl und Lisbeth

    Arbeitsantritt

    Flug nach Afrika

    Ankunft

    Tour durch den Garamba National Park

    Angriff

    Die Wilderer

    Lisbeth zurück

    Lisbeths Nachforschungen

    Entführung

    Empfang

    Lisbeths Schwangerschaft

    Nachspiel im Ministerium

    Treffen im Januar

    Lisbeths Entbindung

    Lisbeth bei ihren Eltern

    Elias zurück in Wien

    Lisbeth und Bettinas Herkunft

    Elias nach Afrika?

    Nicht mehr ganz allein

    Bettinas Versuchung

    Ina und Lisbeth

    Das Ende

    Impressum

    Im Theater

    „Nein, Ina ist mein Name, es ist nicht die Abkürzung eines anderen, Bettina, Martina oder Valentina. Laut Taufschein heiße ich Ina."

    Viele Leute fragten sie, wofür Ina eine Abkürzung wäre, wenn sie sich vorstellte. Lästig, dachte sie, warum fragen sie überhaupt, ob es eine Abkürzung ist und von welchem Namen. Klar, die Menschen sind neugierig, Neugier ist einer der stärksten Antriebe, aber versteht denn niemand, dass diese Frage nach dem echten Namen so rüber kommt wie:

    „Was ist denn das für ein Name? Da muss doch was ‚Normales‘ dahinter stehen."

    Als Regel müsste gelten: so wie man sich vorstellt, möchte man genannt werden, pasta. Jemand, der sich als Susanne vorstellt, möchte nicht Susi genannt werden, jemand, der sich als Joe vorstellt, nicht Josef. Unser Name ist Teil unserer Identität. Einen Namen zu hinterfragen, heißt den Menschen als Ganzes in Frage zu stellen.

    Mit dreizehn Jahren war Ina das erste Mal im Sommer zwei Wochen ohne Eltern auf Urlaub, Jugendcamp am Mondsee. Als sie auf der Busfahrt dorthin das zweite Mal gefragt wurde, ob Ina wohl ihr richtiger Name wäre, meinte sie, nein Christina sei ihr richtiger Name. Das wäre doch ein schöner Name, meinte die Organisatorin des Camps, die das Gespräch mitgehört hatte, und nannte sie zwei Wochen lang Christina. Den ganzen Urlaub fühlte sich Ina wie eine andere, auch wenn es nur diese eine Frau war, die sie Christina nannte; sie war für alle anderen auch Christina, selbst wenn die sie mit Ina ansprachen. Erst störte sie es, doch bald genoss sie, Christina zu sein; sie wollte nicht Tennis spielen, wie Ina es getan hätte, sondern meldete sich für den Segelkurs an und abends knutschte sie schon mal mit zwei oder drei Burschen hintereinander, was Ina niemals in den Sinn gekommen wäre. Als sie zuhause wieder Ina war, behielt sie dann allerdings einige Eigenschaften von Christina, Tennis spielen zum Beispiel wollte sie nicht mehr.

    Es war einfach nicht richtig, einen Namen zu hinterfragen. Die Menschen müssen sensibler werden, dachte sich Ina gerade in letzter Zeit besonders häufig, in diesen Tagen und Nächten, die sie allein zuhause oder an der Universitätsbibliothek von morgens bis abends über Bücher gebeugt saß, Kapitel für Kapitel in sich hineinpresste und einfach keine Energie hatte für alles, was an ihrem gebrechlichen Seelengerippe nagen konnte: die Fragen der Eltern oder Kollegen etwa, ob es einem eh gut ginge, ob man eh vorankäme; das Betteln des Freundes, ob sie nicht den ganzen Sonntag blau machen könne, nicht bloß den halben. Ihr Hirn war in Topform – ein Schwamm, der Information aufsaugen und behalten konnte –, der Acker ihrer Gefühle hingegen war so angreifbar als wäre ihm die sonst vorhandene Schutzschicht abgezogen worden.

    „Ok, also Ina. Ich verstehe. Sorry. Ich bin Hanna. Mein erster Tag heute."

    Ina wollte Hanna nicht den Einstieg verderben, bloß weil sie, wie viele andere, ihren Namen hinterfragte, und setzte daher ein freundliches Lächeln auf: „für mich ist es der vorletzte Tag hier. Ich war das ganze Semester Garderobenfrau, aber jetzt kommt die Prüfungssaison; da brauche ich mehr Zeit zum Stucken, gerade in den Abendstunden."

    Ina studierte Volkswirtschaft und stand vor den letzten Prüfungen ihres Masterstudiums.

    „Ich studiere auch. Soziologie und Psychologie, aber ich überleg, auf Wirtschaft umzusatteln. Bessere Jobmöglichkeiten."

    ***

    Hanna sah müde aus und Ina lag richtig mit ihrer Einschätzung, dass die Neue nicht aufmerksam zuhörte, als sie ihr den Ablauf ihrer Arbeit erklärte: wo sich die Leute anstellen, in welcher Reihenfolge die Gänge der Kleiderhacken befüllt werden und dass die Garderobenzettel erst ausgehändigt werden dürfen, wenn Geld auf dem Tisch liegt.

    Zehn Minuten später kamen die ersten Zuschauer. Es war ein kalter, verregneter Abend Mitte Januar und das Theater war ausverkauft. Deshalb gab es besonders viel zu tun: neben dicken Pelzmänteln und Daunenjacken, Schals und Hüten, wollten die Frauen auch noch Plastiksackerln mit Stiefel oder große Handtaschen abgeben. Mit Hanna im gleichen Sektor musste Ina schneller arbeiten als gewöhnlich; Hanna war nicht nur eine schlechte Hilfskraft, sie war sogar eine Belastung. Oft kam sie nicht damit zurecht, Taschen und Hüte in wenigen Handgriffen gemeinsam mit dem dazugehörigen Mantel zu verstauen; um so schneller sie greifen wollte, desto mehr kam sie durcheinander, ließ Hüte oder Schuhe zu Boden fallen und war schließlich langsamer als sie gewesen wäre, hätte sie ohne Hektik eins nach dem anderen erledigt. Ina hatte beinahe die doppelte Arbeit als sonst, obwohl Hanna nur die Nummern 001 bis 150 bediente und Ina 151 bis 400. Auch die Leute bemerkten bald die Verzögerungen am Garderobenabschnitt der beiden und wichen auf andere aus.

    Endlich begann die Vorstellung. Alle paar Minuten kamen noch Zuspätkommende, einige außer Atem und abgehetzt als wären sie im Ziel eines Laufwettbewerbs angekommen, andere mit auffälliger Gelassenheit, routinierte Zuspätkommer wie Ina sie nannte. Sie standen über solchen Kleinigkeiten wie Pünktlichkeit. Die Welt hatte sich gefälligst nach ihnen auszurichten, alles – vor allem Schauspieler und andere Zuschauer, aber auch Kollegen in der Arbeit und meistens der eigene Partner und die Familie –, einfach alles war zweitrangig ihnen gegenüber. Inas Vater war von diesem Schlag Menschen, hatte ihr und der ganzen Familie mit seiner Art tagein-tagaus Macht demonstriert; denn es war genau das, was das Leben solcher Menschen erfüllte: Macht, das Leben der anderen, dem eigenen gefällig zu machen.

    Ina freute es, wenn einer dieser selbstzufriedenen Zuspätkommenden in ihre Fänge geriet, Fänge der zeitlichen Dimension, die sie genüsslich ausfuhr. Erst würde es doppelt so lang wie gewöhnlich dauern, bis sie endlich einen Platz für den Mantel fand. Schließlich war schon alles voll und sie musste erst einmal einen freien Hacken finden oder Platz schaffen. Das würde der Zuspätkommende wohl verstehen – er war schließlich zu spät, auch wenn ihm selbst das gar nicht so vorkam. Sobald umständlich ein Platz für den Mantel gefunden war, dauerte es besonders lang bis sie den Garderobenzettel aushändigen oder Retourgeld geben konnte. Meistens erreichte sie ihr Ziel, mindestens eine scharfe Ermahnung zu ernten, „doch endlich weiter zu tun, vielleicht sogar: „gefälligst weiter zu tun oder: „bevor die Vorstellung um ist. Dem entgegnete sie entweder ein freundliches Lächeln oder ein entschuldigendes „Es tut mir so leid, dass sich das Universum heute nicht schnell genug um sie dreht. Ja, geradezu enttäuscht war Ina, wenn der selbstgefällige Mittelpunkt des Universums vor lauter Selbstgefälligkeit gar nicht bemerkte, wie langsam er oder sie bedient wurde und nichts von sich gab.

    An diesem Abend war einer der Zuspätkommenden in Begleitung einer Frau, die einen dicken Pelzmantel und einen auffälligen Haarschmuck trug. Sie hatte dunkles, beinahe schwarzes Haar, das kompliziert hochgesteckt und von einem weißen Dreizack mit feinen Schnitzmustern zusammengehalten war. Ina bediente dieses Paar schneller als sie Zuspätkommende normalerweise bediente; sie war abgelenkt von dem Haarschmuck. Er sah aus wie Plastik, hätte aber auch aus Elfenbein sein können. Unmöglich, dachte sie sich, war es nicht verboten, Elfenbein zu tragen?

    ***

    Während der Aufführung versuchte Hanna, sich bei Ina mit aufrichtigem Interesse für deren Studium und Leben zu entschuldigen. Doch viel ließ Ina sich nicht entlocken, Spieltheorie und Ökonometrie wären die nächsten Prüfungen – ihre beiden letzten – und, ja, sie hätte einen Freund und lebe gemeinsam mit ihm etwas außerhalb der Stadt. Danach versank Ina in einem Lehrbuch einige Meter hinter dem Garderobenpult, zwischen Wintergewand, aus dem sich der Geruch von Regen und Parfum im Raum ausbereitete.

    In der Pause zeigte Ina Hanna einen Hocker im Zuschauerraum rechts von der Tür nahe zu ihrem Garderobenabschnitt; von dort aus könne sie bis kurz vor Ende der Vorstellung zuschauen, falls es sie interessiere. Bevor die heiße Phase der Prüfungsvorbereitung begonnen hatte, saß Ina oft selbst darauf; die ersten paar Male verfolgte sie das Stück, bemerkte wie die Schauspieler von einem Mal zum anderen die Szenen unterschiedlich spielten – mal waren es nur andere Nuancen, dann waren es komplett andere Akzente –, sie bekam ein Gefühl dafür, in welcher Tagesverfassung, welcher Schauspieler war, und sie wäre bald schon geeignet gewesen als Regieassistentin. Nach einiger Zeit konzentrierte sie sich mehr auf die Zuschauer. Wie hypnotisiert saßen sie da und folgten der Geschichte, die sich live vor ihnen aufbaute. Aufs Erste gab es kaum Unterschiede. Die einen hatten Anzug mit Krawatte an, die anderen Anzug ohne Krawatte und einige wenige kamen auffällig leger im Pullover oder einer Strickjacke. Bei den Damen gab es mehr Abwechslung, die vor allem die Grenzen zwischen den Generationen aufzeigten: Kleid, zweiteiliges Kostüm, Jeans mit Bluse. Sobald es still wurde und alles gebannt zur Bühne blickte, legte sich eine Uniformität über die Menschen, die erst wieder durch die Art wie wer auf welche Szene reagierte aufgebrochen wurde. Die Wirkung der Geschehnisse auf das Individuum, wie wer damit umging, hob den Einzelnen aus der Masse heraus. Es ging nicht darum, sich durchs Aussehen abzuheben oder weil man eine bestimmte Meinung vertrat, es ging nicht darum, durch ein Talent aufzufallen oder weil man von einer steilen Karriere oder einem außergewöhnlichen Urlaub erzählen konnte. Nein, nur die Reaktion auf das, was sich vorne abspielte, machte den Unterschied; einen Unterschied, der tiefer war, als Vieles, was uns sonst voneinander unterscheidet.

    Während Ina wieder in ihrem Lehrbuch versank, überlegte sie, wie das Stück und wie die Zuschauer wohl auf Hanna wirken würden.

    ***

    Das Ende der Aufführung kündigte sich an, als die ersten Zuschauer etwa zwei Minuten vor Schluss ihre Mäntel abholten; besonders viele dieser Frühgeher stellte die Gruppe der gelassenen Zuspätkommenden. Es folgte Klatschen und zwei oder drei Vorhänge, bis die große Masse aus dem Theatersaal zur Garderobe drängte, kurz nachdem Hanna wieder ihre Position bezogen hatte.

    Anders als vor dem Stück, wenn die Leute schön verteilt über eine halbe Stunde oder mehr hereintrudelten, mussten nun alle zugleich bedient werden, was Hanna völlig überforderte. Einer der letzten Mäntel hing auf dem Haken mit der Nummer 162, doch die Dame am Pult hatte ihr einen Garderobenzettel mit der Nummer 126 gegeben – dort hing kein Mantel mehr.

    „Egal," dachte sich Hanna und gab den Mantel von 162 samt Tasche, die dort hing, der Dame Nummer 126. Sie war sich gar nicht mehr so sicher – oder besser, sie wollte sich nicht sicher sein –, ob ihr nicht vielleicht schon beim Entgegennehmen des Mantels ein Verwechslungsfehler unterlaufen war. Außerdem, falls nicht, hoffte sie, dass sich das Ganze von selbst klären würde; schließlich müssten die beide Damen sich doch melden oder einander sehen, am jeweils eigenen Mantel die andere erkennen und ihre Garderobe austauschen.

    Hanna sah dem falschen Mantel nach, das Gesicht der Frau würde sie sich gut merken – große dunkle Augen, ein zartes Gesicht mit einer feinen Nase und braunes schulterlanges Haar.

    Die Kreuzung

    Bettina Sandtner zog sich den Mantel an und klemmte die Tasche unter ihren Arm. „Was hatte dieses Ende bloß zu bedeuten, dachte sie über den unerwarteten Ausgang des Theaterstücks nach. „Die Nashörner von Eugène Ionesco. Warum kein Happy End, warum musste der Protagonist, wenn er schon die anderen nicht davor bewahren konnte Nashörner zu werden, zum Schluss auch noch seine Daisy verlieren?

    Bettina versuchte – wie sie es als kleines Kind oft versucht hatte, wenn ihr der Ausgang eines Films oder eines Buches nicht gefiel –, das Ende umzudichten. ‚Das Mädchen mit den Streichhölzern’ etwa; in Bettinas geänderter Version ist das Mädchen nicht erfroren und in den Himmel aufgefahren, sondern wurde von einem Mann gefunden, einem Arzt, der sie mit nach hause nimmt. Sie wird gepflegt und erholt sich wieder und der Mann und seine Frau adoptieren das Mädchen, erfüllen sich so ihren bisher unerfüllten Kinderwunsch.

    Was wäre für die Nashörner das bessere Ende gewesen? Dass sich alle wieder zu Menschen zurückverwandeln, wäre etwas zu plump. Vielleicht bekommen sie Kinder, die sich wieder in Menschen zurückverwandeln? Ja, das wäre ihr präferiertes Ende.

    ***

    Im Programm, das Bettina in der Pause gelesen hatte, waren einige Interpretationen des Stückes abgedruckt; eine aus der Zeit als es uraufgeführt worden war, 1959, eine von heute, geschrieben von einem Österreicher, und eine deutsche aus den Jahren des Deutschen Wirtschaftswunders. Die älteste Interpretation zog Parallelen zu totalitären Regimen, den Nazis und den Stalinisten, die Interpretation aus Deutschland legte die Kritik des Stückes um in Kritik an einem blinden Kapitalismus, der sich über jede soziale und ökologische Instanz hinwegsetzte und deshalb unmenschlich wäre. Die aktuelle Interpretation verglich die Nashörner mit den abgestumpften Internet-Usern, die mehr in einer virtuellen Welt lebten als in der Realität und so den Bezug zu Menschen und zur Menschlichkeit an sich verloren hätten.

    Zentral für alle Interpretationen war die Aufgabe des Individuums, das Plattmachen von Einzelinteressen, ja mehr noch: das Ende einzelner Subjekte zum Wohle des großen Ganzen, einer Masse funktionierender Objekte vergleichbar einem Bienenschwarm; es gibt zwar noch die einzelnen Bienen, doch sie dienen allein dem Schwarm.

    Am meisten dachte Bettina über die moderne Interpretation nach. Dort hieß es, die Menschen heute würden ebenso ihre Eigenständigkeit aufgeben und Teil einer großen Herde werden, wie in totalitären Herrschaften des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie dabei glauben, sich selbst zu verwirklichen. Sie arbeiten sich in einer Karriere hoch, von der sie meinen, sie eigenständig und bewusst gewählt zu haben; in Wahrheit wären sie aber nur kleine Rädchen einer unmenschlichen Informationsindustrie, die den Menschen für sich als Sinn definiert, aber den Menschen keinen tieferen Sinn bringt. Angetrieben wird der Motor dieser Industrie von Eitelkeit, Konsum und Machtstreben. Selbstentfaltung und das Ausleben eines scheinbar bewusst gewählten Lebensweges sind die zwei Kardinalslügen dahinter. Denn die Selbstentfaltung gilt als umgesetzt, wenn man auf virtuellen Plattformen im Netz möglichst markant auftritt, der ideale Lebensweg gefunden, wenn besonders viele die hochgeladenen Urlaubs- und Kinderfotos kommentieren und man sich durch ein elektronisch nach außen gestülptes Innenleben das richtige Image zurecht gepostet hat.

    Was Bettina vermisste an dieser Interpretation, waren Beispiele dafür, was nun das wahre Menschliche wäre, nach dem zu streben es sich lohnte. Was sollten wir für ein erfülltes Leben anders machen als die anderen? Alles hinschmeißen kann ja wohl auch nicht das Ziel sein? Der Autor schloss seine Ausführungen schlicht damit, dass wir zu sehr von äußeren Kräften angetrieben sind, erst von den Eltern, dann von Lehrern und sobald wir eigenständig entscheiden sollten vom Internet. Der bessere Antrieb wäre das tiefste Innere, was auch immer das heißen sollte? Und überhaupt, hatte sich Bettina in der Pause gedacht, allein in ihrer Reihe sitzend, gerade die drei verschiedenen Interpretationen über die Nashörner gelesen, die Menschen müssen sich in vielen Situationen wie eine Herde verhalten, sonst klappt das Zusammenleben nicht. Die eigene Persönlichkeit muss man sich eben im Inneren bewahren.

    Abgetrennt von der Masse der Zuschauer, die gerade beim Buffet dicht gedrängt zu Essen und Trinken geströmt war, saß sie so da und musste erkennen, dass sich ihre Gedanken möglicherweise mit jenen des Autors getroffen hatten.

    Sie blätterte weiter im Programm, jede vierte Seite war eine Werbung abgedruckt: für Schweizer Uhren, die edelsteinbesetzt funkelten, für das neueste Smartphone, das über einen kleinen Ball nicht größer als 3 Zentimeter im Durchmesser und den Bildschirm in Form einer Kontaktlinse zu bedienen war, für das Restaurant zwei Straßen weiter.

    Weiter hinten war ein Beitrag über Meditation abgedruckt; er stammte vom Autor, der die modere Interpretation über die Nashörner verfasst hatte, und in diesem Beitrag fand Bettina die Antwort auf ihre Frage, was nun das wahre Menschliche wäre. Sie wunderte sich, warum so weit abgesetzt vom Hauptbeitrag – nicht jeder würde so weit blättern wie sie, nicht jeder hätte die Zeit dafür. Doch zu ihrer Verwunderung wurde gerade au auch das im Beitrag angesprochen, dass die Menschen für nichts mehr Zeit hätten. Meditation, so hieß es eingangs, helfe dabei, zum wahren Inneren vorzudringen, sich selbst kennen zu lernen. Yoga, Qi-Tschong-Gai, vielleicht auch einfach nur entspannt auf einem Sofa sitzen und an nichts denken, all das könne der Einstieg in Meditation sein. Wichtig wäre es dabei, sich vom Alltag zu lösen, nicht nur von den Sorgen und Ängsten, die einen beschäftigten, sondern auch – gerade auch – von den Freuden und Glücksmomenten, die einen bewegen. Sich zuerst auszuklinken aus allem, was einen scheinbar definiert, was die täglichen Routine in vorgezeigten Bahnen abspulen lässt, wäre der erste Schritt. Der zweite wäre dann, eins zu werden mit dem Rundherum, die Grenzen zwischen eigenem Subjekt und den Objekten der Umgebung verschwimmen zu lassen. Dafür sollte man sich hineindenken in die einzelnen Gegenstände, fühlen wie ein Tisch, gedanklich hineinschlüpfen in die Stehlampe, mental die Aufgabe der Türe übernehmen, Räume verbinden, aber zugleich voneinander trennen. In einem dritten und letzten Schritt, wäre das Ziel, zu einem neuen Ich zu finden, wieder in sich selbst einzufahren, nachdem man in die Welt und in einzelne Gegenstände hineingeschlüpf war, nunmehr bewusst der eigenen Bedeutung, zurückzukehren ins wahre Ich.

    Bettina rümpfte die Nase und kratzte sich an der Schläfe. Das war ihr zu abgehoben, zu abstrakt. Und überhaupt, es war lächerlich. Wenn die anzustrebende Menschlichkeit in der Funktion einer Türe zu finden war, würde sie lieber Nashorn werden und unmenschlich sein.

    Dennoch beugte sie sich wieder über das Programmheft und las weiter. Dieses wahre Ich würde jedenfalls einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, zum Beispiel „nicht nur hineinblättern in ein Programmheft, sondern es von vorne bis hinten durchlesen, wie Sie es gerade zu tun scheinen, falls Sie nicht rein zufällig auf diese Seite gekommen sind."

    Bettina schüttelte den Kopf stieß mit einem leichten Schnauben Luft aus der Nase. Alleine Zeit vertreiben stellte wohl anscheinend einen hochwertigen ganzheitlichen Ansatz dar. Immerhin kam der Beitrag zu einem Ergebnis: mit diesem wahren Ich, einem Ich, das achtsamer gegenüber der Umwelt geworden wäre, das einen schärferen Blick auf alles rundherum haben würde, fiele es leichter, die persönlichen Ziele zu erreichen und damit seine Bestimmung als Mensch zu erfüllen.

    Gerade noch sollte man wie ein Tisch fühlen und sich in eine Stehlampe hineinversetzen und plötzlich müsse man Ziele erreichen? Bettina nahm sich fest vor, sich niemals mit einem Tisch, einer Stehlampe oder sonst irgendeinem Möbelstück zu identifizieren und lieber keine menschliche Bestimmung zu haben.

    Enttäuscht schob sie Programmheft zwischen Armlehne und Sitzfläche. Nach dem Beitrag über das Finden des wahren Ichs durch Meditation mit Möbeln war noch eine Sammlung von Aussagen Erich Fromms abgedruckt. Für heute genug Ganzheitlichkeit, dachte sie und beobachtete die Menschen. Den Beitrag von Fromm würde sie später lesen, vielleicht auf dem Weg nachhause, falls sie kein Taxi nehmen würde, sondern öffentlich fahren sollte.

    Etwa die Hälfte der Leute war mit ihren Mobile Devices beschäftigt. Es standen Gruppen von drei bis fünf Leuten zusammen und ein oder zwei davon nahmen zwar irgendwie am jeweiligen Gespräch teil, mussten aber gerade in ihr Device starren oder etwas hineintippen. Wie wird das bloß werden, wenn sich diese Technologie mit Bällchen und Kontaktlinse durchsetzt? Man würde scheinbar ins Nichts starren, per Morsesprache und Bildschirm im Auge aber dennoch mit der weltweiten Smartphone-Community in Kontakt sein. Vielleicht war die Grundaussage dieses absurden Beitrages gar nicht so daneben? Einmal am Tag vollkommen auszusteigen, aus einer Vogelperspektive heraus sich selbst und die Welt zu beobachten könnte schon Sinn machen. Bettina hatte schon mehrmals darüber gelesen, wie Meditation das Leben von Menschen verändert hätte, und gerade als sie diesen Gedanken fasste, fiel ihr auf, wie ihr eigenes Gedankenversunkensein sie selbst beeinflusste: sie wollte ihr Telefon heute nicht mehr entsperren, denn all diese Leute, die in leicht gebückter Haltung von einem kleinen Bildschirm in eine virtuelle Welt gezogen waren, sie kamen ihr noch abgestumpfter vor als Nashörner.

    Sie waren Teil einer Welt, die eine Plattform dafür bot, Teil dieser Welt zu sein.

    ***

    Jetzt – nach der Vorstellung – war Bettina in der Schlage für die Taxis langsam vorgerückt. Sie überlegte immer noch, welches Ende ihr für die Geschichte der Nashörner besser gefallen hätte. Sie wollte ihr Telefon herausnehmen, um ihre Idee für ein anderes Ende des Stücks (die Nashörner bekommen Kinder, die sich wieder in Menschen zurückverwandeln) abzutippen. Den Vorsatz, das Telefon heute nicht mehr anzufassen, über Board werfen? Sicher doch, sie wollte ja nicht ins Netz einsteigen oder spielen, sondern einen Gedanken festhalten.

    Nun aber war sie an der Reihe, ihr Taxi fuhr vor, doch gerade als sie einsteigen wollte, hörte sie eine Stimme hinter sich.

    „Entschuldigen Sie, ich war schon vorher in der Schlage, musste nur kurz zurück aufs WC. Ich, ich habe es eilig. Könnten Sie..."

    Noch bevor die Frau den Satz zu Ende gesprochen hatte, deutete Bettina mit ihrer linken Hand, dass sie einsteigen solle.

    „Danke, vielen Dank, das ist total nett von Ihnen. Mein Mann wartet schon zuhause und ... Danke!"

    Die Tür knallte zu und das Taxi beschleunigte schnell zur ein paar Meter entfernten Kreuzung, wo die Ampel gerade grün geworden war. Der Taxifahrer musste angewiesen worden sein, sich zu beeilen und wäre das zweite Auto über der Kreuzung gewesen dicht hinter einer schwarzen Limousine, die ebenfalls schnell wegbeschleunigte, als es grün geworden war.

    Bettina würde sich später genau daran erinnern, woran sie dachte, als das Taxi losfuhr, dass sie nämlich auch gerne nach hause fahren würde zu einem Mann, der auf sie wartete.

    Noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte und auskosten konnte, hörte sie den lauten Donner, ein Geräusch als würde eine Bombe Metall und Glas zerbersten, gefolgt vom Quietschen der Reifen und lauten Aufschreien der umstehenden Passanten. Ein riesiger LKW hatte Tempo aufgenommen, um gerade noch das Grün der Querstraße zu erwischen. Doch der Fahrer musste sich verschätzt haben, für ihn war es wohl bereits Rot, als das Taxi in die Kreuzung einfuhr.

    Bettina hielt sich mit beiden Händen das Gesicht, hatte die Augen und den Mund weit aufgerissen, doch es kam kein Ton aus ihr heraus. Ihr Kreislauf sackte ab, bis Adrenalin in ihre Adern schoss, um sie auf den Beinen zu halten. Reglos stand sie da in etwa 20 Metern Entfernung. Polizei und Rettung waren innerhalb weniger Minuten am Unfallsort. Ein paar Augenzeugen wurden sofort vernommen, die Rettungskräfte forderten die Feuerwehr an, ein Polizist barg die Tasche der Frau aus dem Wrack. Der Taxifahrer war unverletzt. Fassungslos stand er neben seinem Auto und schaute der Szene zu als wäre es ein Film. Der LKW hatte nur den hinteren Teil des Taxis gerammt und die rechte Hälfte davon unter sich begraben, gerade die Hälfte, in der die Frau gesessen hatte. Trotz Schaulust und Neugier für Brutalität, wagte sich niemand genau hinzusehen. Soviel aber war allen klar: das Unfallopfer musste bis zur Unkenntlichkeit eingeklemmt worden sein.

    Die andere Perspektive

    Die Dame mit dem Haarschmuck aus Elfenbein (oder Plastik) holte allein die Garderobe ab. Das fiel Ina aus zwei Gründen auf: sie holte ihren Mantel und den ihres Mannes als eine der letzten ab und ging von der Garderobe zielstrebig Richtung Ausgang. Es war nicht außergewöhnlich, dass auch Frauen immer wieder mal die Garderobe abholten. Der Mann musste vielleicht noch schnell aufs WC oder war am Telefonat; aber er schien vorausgegangen zu sein, nach draußen. Bei der Kälte? Gerade bei diesen Gedanken hörte Ina diesen metallischen Krach und Reifenquietschen. Nur ein paar Sekunden später liefen zwei Menschen in den Vorsaal, „Rettung, rufen Sie eine Rettung!"

    Es waren ältere Menschen, die in solchen Momenten zu vergessen schienen, dass Mobiltelefone auch Rettungen herbeirufen konnten, und nicht wie früher eine offizielle Stelle wie die Kartenverkäufer, Billiteure oder Garderobenpersonal. Geistesgegenwärtig nahm Ina ihr Telefon und rief sofort 112.

    Als die Garderobe etwa fünf Minuten später leer war, gingen Ina und Hanna hinaus. Es bot sich ihnen eine Szene, wie sie aus Kinofilmen bekannt ist: Blaulicht, Polizei- und Rettungswägen auf dem Gehsteig und quer über die Straße. Ein Feuerwehrbus, aus dem Spezialwerkzeug geladen wurde, und Schaulustige, die mit Plastikbändern zurück gehalten werden mussten.

    Hanna sah die Frau, der sie den Mantel vom Haken 162 gegeben hatte. Sie stand etwas abseits der Massen und schaute zu einem Polizisten rüber als wollte sie auf ihn zugehen. Dann sagte der Polizist etwas zu seinem Kollegen. Hanna konnte erkennen, wie die Frau dem Polizisten zuhörte. Ihre Gestik vermittelte es unmissverständlich: der eine hatte dem anderen etwas zu sagen, was diese Frau mit dem Mantel von 162 betraf. Niemals könnte diese Frau im Geheimdienst arbeiten, dachte sich Hanna, so auffällig war ihr Verhalten. Hanna hatte sogar den Eindruck, die Frau wollte etwas von den Polizisten; sie machte einen Schritt auf sie zu, entschied sich dann allerdings anders und ging schnellen Schrittes an ihnen vorbei. Den Polizisten schien das alles überhaupt nicht aufzufallen.

    Die Verwechslung

    Bettina wollte zu dem Polizisten gehen, der die geborgene Tasche durchsuchte. Sie fühlte sich schuldig – sie hätte in diesem Taxi sitzen sollen. Das wollte sie melden. Ein paar Schritte vor dem Polizisten jedoch kam sie zu Vernunft. Gebeten wurde sie darum, nicht einzusteigen, das nächste Taxi zu nehmen, und außerdem hätte sie den Taxifahrer nicht kommandiert dazu, schnell wegzufahren. Auf sie wartete ja auch kein Mann zuhause. Mitten in dieses Zurvernunftkommen hörte Bettina wie der Polizist einem Kollegen die Identität des Unfallopfers diktierte: „Bettina Sandtner, 27. August 1985. Instinktiv wollte Bettina aufschreien, „nein, das bin ich," doch irgendeinen Grund hielt ihre Instinkthandlung zurück. Tatsächlich sollte sie das sein, es wäre ihr Taxi gewesen, aber was fällt diesem Polizisten ein, ihren Namen aus dem Ausweis dieser Frau vorzulesen! Sie musste sich das eingebildet haben.

    Anstatt den Polizisten wütend zu fragen, was das soll, ging sie im Stechschritt an ihm vorbei und griff unbewusst – diesmal war ihr Unterbewusstsein schneller als ihre Vernunft – in die Tasche, die sie bis jetzt fest unter ihrem Arm eingeklemmt hatte. Die Geldbörse, das Handy, die Schminkschatulle, es waren nicht ihre Sachen. Sie nahm die Geldbörse heraus, ging schnell weiter und las auf deinem Ausweis „Lisbeth Sandinitsch, geb. 30. August 1985."

    Sie nimmt das Mobiltelefon aus der Tasche, PIN 3008 für das Geburtsdatum. Es klappt. An den SMS, die auf dem Gerät gespeichert sind, erkennt sie sofort, Leo ist Lisbeths Mann. Sie wählt seine Nummer: „Leo, hi. Entschuldige, ich habe. Wie soll ich sagen? Ich habe unsere Adresse vergessen."

    „Schaut dir ähnlich, aber noch eine Woche in Wien und du merkst sie dir, Liebling," sagte Leo mit freundlicher Stimme.

    Bettinas Herz setzte einmal aus und schlug danach einmal schneller. „Liebling." Noch nie hatte ein Mann das zu ihr gesagt. Es war nicht für sie bestimmt dieses Liebling, aber doch sagte er es zu ihr. Ihre Stimme schien sie nicht verraten zu haben. Übers Telefon war sie Lisbeth, war sie der Liebling eines fremden Mannes.

    „Ja, Leo, ich werde sie mir jetzt merken. Ihn einfach nur mit „Leo anzusprechen war vielleicht zu distanziert, dachte Bettina. Deshalb schoss sie schnell „danke, Liebling, ich bin gleich bei dir" nach. Sie sagte dem Taxifahrer die Adresse und betonte, dass sie es nicht eilig habe; er

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