Tiergeschichten und Märchen
Von Manfred Kyber
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Über dieses E-Book
"Alles andere war oftmals traurig und schwer, und selten war es schön und sonnig, aber wesentlich war es eigentlich nicht. Wesentlich waren und bleiben allein die unsichtbaren Fäden des Geschehens, die das Jenseitige ins Diesseitige wirkt, das Ewige ins Zeitliche, und die uns einmal wieder hinausführen werden in das ferne Land, aus dem wir kamen." Manfred Kyber
Ergänzt wird der Originaltext mit Worterklärungen und biografischen Notizen über den Autor.
Die Print ISBN bezieht sich auf unser Hörbuch.
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Buchvorschau
Tiergeschichten und Märchen - Manfred Kyber
Die leichtsinnige Maus
Es war eine Maus, die war leichtsinnig! Sie tanzte Walzer auf dem Schinken, und wenn sie eine Falle sah, so pfiff sie ein Couplet¹ durch die Zähne. Speck hielt sie für gewöhnlich, mit Kartoffeln spielte sie Kegel, ihre Pfoten wusch sie in Suppe, und ihre Krällchen polierte sie mit Butter. Es war traurig, es war traurig!
Oft hatte ihre Tante, eine geborene Feldmaus, die ihr Leben lang von einfacher Rohkost gelebt, sie ermahnt, indem sie kummervoll die Pfoten faltete. „Kind, sagte sie, „du bist leichtsinnig! Du tanzest auf Nahrhaftem, pfeifst auf Gefährliches, hältst Gutes für gewöhnlich, spielst Kegel mit Bekömmlichem, wäschst deine Pfoten in der flüssigen Grundlage des Familienlebens und polierst deine Krallen in Delikatessen! Wo bleibt da die Moral? Schlüpfrig sind die Brote, die mit Butter bestrichen sind, glatt die Wege, auf denen der Speck rutscht. Glaube es mir, der geborenen Feldmaus, es ist besser, mit wenigen Körnern in der Pfote zu leben, als in Bratensoße zu sterben.
Und dann wischte sie sich eine Träne mit der Pfote ab. Es war eine Tantenträne. Auch Mäuse weinen sie.
Die Maus aber, die leichtsinnig war, nahm kokett ihren Schwanz mit der Vorderpfote auf, lächelte und sagte:
„Liebe Tante, geborene Feldmaus, ich piepse auf alles, und ich will noch ganz was anderes tun. Ich will heute noch auf Samt schlafen!"
Die Mausetante setzte sich bei diesen Worten auf einen scharfen Rettich und barg die Schnauze in den Pfoten. Wie furchtbar ist es, frivole² Nichten zu haben, wenn man selbst eine geborene Feldmaus ist!
Die kleine Maus pfiff bedeutsam.
„Tante Feldmaus, sagte sie, „hast du schon das Neueste in der Speisekammer gesehen?
Die Tante bekam eine scharfe Entrüstungsfalte an der Nase.
„Wie sollte ich? Ich lebe bescheiden im Garten und Keller und nähre mich von Mohrrüben und Kartoffeln, wie es meine seligen Eltern schon getan haben. Die Speisekammer ist sündhaft. Alles, was gefährlich ist, ist sündhaft. Das ist Moral! Aber die junge Generation fragt nach Butte und nicht nach Moral! Oh!"
„Butter ist auch besser," sagte die leichtsinnige Maus frech, „aber in der Speisekammer ist ganz was Besonderes. Ich hab‘ es gestern zum Souper gespeist – Aspik. Das ist das letzte der Saison, le dernier cri³, wie meine Kusine sagt. Meine Kusine ist in einer Schachtel geboren, wo Paris draufstand. Du weißt doch."
„Ich weiß, sagte die Tante Feldmaus, „ein sträflicher Leichtsinn – schon in der Wiege.
„Aspik ist schön, sagte die Nichte flötend, „das solltest du essen, Tante Feldmaus.
„Aspik ist gewiss etwas Unmoralisches!"
„Aspik ist das, was quabbelt."
„Siehst du!" sagte die Tante Feldmaus.
Wenn die Leute was nicht kapieren, sagen sie „siehst du" und halten es für unmoralisch. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.
Die kleine Maus sang ein Couplet, das ich nicht wiedergeben kann, da es von Aspik und lockerer Gesinnung handelte.
„Pfui, die Welt ist verderbt!" sagte die Tante Feldmaus und hustete entrüstet.
Die leichtsinnige Maus aber rief:
„Jetzt schlafe ich auf Samt!" und tanzte die Kellertrepppe hinauf.
Sie tanzte in einer so unerhörten Weise, dass es sicherlich verboten worden wäre, wenn es sich um eine öffentliche Aufführung gehandelt hätte, denn die leichtsinnige Maus lebte im zwanzigsten Jahrhundert. Das ist bekanntlich ein sehr sittliches Jahrhundert, und man muss sich sehr wundern, dass es überhaupt noch leichtsinnige Mäuse gibt und sie nicht alle schon aus dem letzten Loch pfeifen. Aber wir wollen dem zwanzigsten Jahrhundert vertrauen und das Beste hoffen!
Die leichtsinnige Maus tanzte ins Zimmer und sprang gerade in ein Samtkleid hinein, so dass sie mit den Pfötchen drin versank. Es war ein so unsagbar weicher Samt! Samt kann nämlich sehr verschieden weich sein, wie jeder weiß, der sich etwas damit beschäftigt hat.
„Jetzt werde ich also auf Samt schlafen. Huh, ist das wollig!" sagte die Maus. Legte sich auf die rosa Ohren und seufzte behaglich. So seufzt man nur auf Samt. Dabei lächelte die kleine Maus süffisant und dachte an die Tante Feldmaus, die nun im Keller auf einen scharfen Rettich saß und Kartoffeln mit Moral zu sich nahm. Die Maus war eben leichtsinnig! Leider – leider!
Plötzlich aber packten sie scharfe Krallen und hielten sie fest.
Die Maus erschrak. Nanu, was ist denn das? Samt hat doch keine Krallen, dachte sie.
Sie war eben noch jung und unerfahren. Sonst hätte sie gewusst, das Samt oft Krallen hat.
Die Krallen ließen auch nach, gleich darauf aber fasste sie wieder fester zu, so dass es schmerzhaft wurde. Zugleich erschienen im Dunkeln zwei feurige Augen, kreisrund und greulich anzusehen.
Es sind Automobillaternen⁴, dachte die Maus, denn sie hatte häufig Sportblätter angeknabbert. Zudem war sie materialistisch und suchte jede Erklärung in Technik und Wissenschaft zu finden. Das tun heute sehr viele, auch dann noch, wenn sie die Katze am Kragen hat. Die Katze bleibt aber trotz aller Wissenschaft eine Katze, und die Krallen bleiben Krallen, auch im zwanzigsten Jahrhundert.
„Sie, Herr Samt, sagte die Maus dreist,
Sie haben nicht die geringste technische Berechtigung, sich zu bewegen und Krallen zu haben. Das ist wissenschaftlich unhaltbar. Verstehen Sie! Die letzten Forschungen haben das zur Evidenz⁵ bewiesen. Richten Sie sich doch nach der Naturwissenschaft!"
Das Leuchten der Augen wechselte zwischen Grün und Gelb. Es waren keine sympathischen und keine beruhigenden Farbtöne, und der leichtsinnigen Maus wurde bänglich⁶ zumute.
Der Samt bekam jetzt eine Stimme. Er sprach laut und deutlich, in mauenden Tönen.