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Die Entdeckung des Hexenhauses: Flammengrab - Ein Hänsel und Gretel-Thriller
Die Entdeckung des Hexenhauses: Flammengrab - Ein Hänsel und Gretel-Thriller
Die Entdeckung des Hexenhauses: Flammengrab - Ein Hänsel und Gretel-Thriller
eBook666 Seiten8 Stunden

Die Entdeckung des Hexenhauses: Flammengrab - Ein Hänsel und Gretel-Thriller

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Über dieses E-Book

Was wäre, wenn die Kinderfresserhexe den Ofen überlebt hätte? 1. Mai 1598. Im Nürn­ber­ger Reichswald. Dem Geschwisterpaar Hannes und Margaret Fromoder gelingt die Flucht vor der berüchtigten Knus­per­hexe, die elendlich in ihrem Ofen verbrennt. 1945. Im letzten Nürn­ber­ger Kriegsjahr. Die fast irreale Dominanz der Nationalsozialisten verliert an Einfluss. Und der Dieb­stahl einer 2000 Jahre alten Reliqiue mit angeblich magischen Eigen­schaf­ten führt Jahr­zehnte später zu einer unerwarteten Entdeckung: den Über­resten des ori­­gi­nalen Hän­sel und Gretel Hexen­hauses. Es zeigt sich, dass das Mär­chen auf einer wah­ren Be­ge­­­ben­heit beruht, und durch die Freilegung der ver­ges­se­nen Rui­­­­nen wird das Grau­­­en dieser und auch an­derer Grimm'­scher Er­­zäh­lungen wie­­­­­der greifbare Wirk­lich­keit. Die Ma­gie der ver­wun­schenen Le­gen­den beginnt …
SpracheDeutsch
HerausgeberIvar Leon Menger
Erscheinungsdatum10. Juni 2015
ISBN9783942261739
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    Buchvorschau

    Die Entdeckung des Hexenhauses - Demian Lenz

    gemeinfrei

    *

    „Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur eine Illusion, wenn auch eine dauerhafte."

    Albert Einstein, 1955

    Nürnberg, Sebalder Reichswald

    Freitag, 1. Mai 1598

    Am Anfang war der Wald.

    Der Wald des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erstreckte sich als wogendes Meer von Horizont zu Horizont.

    Eichenbraun und buchengrün und nadelschwarz. Von den Alpen bis zur Ostsee – ein Wald, der noch Bären, Wölfe und Naturgeister barg, mordlustige Ritter und verlorene Prinzessinnen. Und den Glauben an schwarze Magie. Und an Hexen.

    Nur die fernen Silhouetten der Nürnberger und der Erlanger Burg, die winzigen Kegel des Sinwellturms, des Luginslandes und des Bergfriedes unterbrachen den düsteren Forst.

    Und der Schrei.

    Der krächzende Schrei gellte aus einer kleinen Lichtung, von der eine dünne Rauchfahne aufstieg. Der Schrei brach ab mit einem eisernen Klappern.

    Ein dumpfes Kreischen und Kratzen stieg jetzt auf, und der Rauch färbte sich grau. Das Kratzen und Kreischen und Stöhnen dauerte an, und die anderen Geräusche des Waldes verstummten. Der Vogelsang und der Käfertanz.

    Und schließlich erstarb auch das Stöhnen, und der Rauch färbte sich zu fettigem Schwarz.

    Und eine weiße Taube stieg jetzt aus dem Rauch auf und flatterte über die Wipfel.

    Eine weiße Taube mit roten Augen.

    Hastende kleine Schritte brachen durch das Unterholz.

    Zwei ausgemergelte Gestalten stolperten über das Moos. Ein Junge und ein Mädchen - schmutzstarrende Hungerkinder mit dürren Beinchen und knochigen Ärmchen. Der Knabe war kräftiger, aber das strohige Haar verfilzt, die Haut von Flöhen zerstochen. Das bleiche Gesicht der Schwester war von Tränen verschmiert. Und von speckigem Ruß.

    Sie hatte ihren fadenscheinigen Kittel gerafft, presste zerbrochene Lebküchlein und erdverkrustete Goldgulden an sich.

    Eine Wurzel fing ihren bloßen Fuß, das Mädchen strauchelte, stürzte aufschluchzend ins faulige Laub. Die Diebesbeute kullerte über den Boden, die Küchlein, die Gulden, silberne Kreuzer, billiges Geschmeide und ein seltsam graviertes, grünspaniges Messing-Ei.

    Der Junge bückte sich zur Schwester, wollte ihr helfen, aber die wandt sich ab, heulte auf und schluchzte jetzt hemmungslos. Der Bruder barg ihren Kopf, „grein doch net, klein’s Margret. De alte Vettel is‘ hin, gebrannt im eigene Feuerloch."

    Die Kleine schüttelte wie wild den Kopf. „Glaub i net, Hannes. Wie’s mich ang’starrt hat, mit ihra rote Augen, und wie’s dann gezappelt und getreten hat! Die sterbt gar nie, de Hex’n!"

    „Horch!, er richtete sich auf. „Alles stille! Und wie’s stinkt, nach dem gerösteten Hexenfett!!

    Margretchen horchte und schniefte und wischte über ihr Gesicht.

    „Jetzat fahrt’s zur Höllen, de alte Kinderfresserin!!" Hänsel ließ sie los und rutschte auf die Knie, begann die Gulden zu sammeln, stopfte sich Küchlein und Printenbröckchen in den Mund.

    Gretelchen schaute eklig und schüttelte sich: „Wie kannst auch nur einen Bissen schmausen, derweil die Alte in ihrem Ofen kocht!?"

    Hänsel grinste sie mit klebrigem Mund an, „des is‘ ein süßer Duft für meinen Schmaus! Wenn‘st net so gescheit gewesen wärst‘, dann wär’s dein Brüderlein, des jetzt zum Himmel stinken würd‘!"

    Margretchen wedelte mit ihrer Hand, „des tust allderweil, auch ohne Feuersglut!"

    Hannes gab ihr einen spielerischen Schubs, und sie lachte endlich und öffnete ihre Schürze, und er warf die Goldgulden hinein, das Geschmeide, den Honigkuchen.

    Dann hielt er das metallene Ei in der Hand, wandt es hin und her. Gretchen ließ ihr Kittelchen sinken. „Und des?"

    Jetzt klappte das Ei mit einem Klicken auf, und der Hänsel fuhr erschrocken zurück. Ein vergilbtes Ziffernblatt war zu sehen und Zeiger und ein fein geriffeltes Rädchen.

    „Ein Nürnberger Ührlein!! Der Vater hat’s mer gezeigt, in der Burgstadt! Ührlein und allerhand Spielwerk, Männlein auf bunten Dosen, die sich dreh’n und wenden, als wenn’s lebendig wär’n!"

    Die Gretel beugte sich vor, mit großen Augen, „des hat’s alles geraubt - von denen Wandersleut‘, die’s mit ihr’m Schierling getränkt hat! Des Ührlein und des Gold und de Kreuzer ..."

    Der Hänsel schwieg still. Behutsam drehte er an dem geränderten Rädchen, horchte auf jedes Klick und jedes Klack, weiter und weiter, bis die Zeiger mühsam zu Leben erwachten und ruckend den gemalten Ziffern zustrebten.

    Strahlend blickte er auf: „So was zu bauen, des is‘ ... des is‘ ... des Höchste! Wer des erdenkt, der hat Macht über die Stunden!"

    Die Gretel starrte ihn staunend an, „eine Macht über die Stunden?"

    „Über jede Stund’n und jedes Minütlein! Wenn ich des amal lern‘, denn kann ich die Zeit einfangen! Für immer!"

    Und die Geschwister sahen nichts anderes mehr als das Nürnberger Ührlein. Und so bemerkten sie auch nicht die Taube, die sich über ihnen niedergelassen hatte.

    Weiß mit Feueraugen.

    Außerhalb der Zeit.

    Erlangen, Sebalder Reichswald

    Whg. Söhnker

    Mittwoch, 22. Juli 1942

    Der sonnige Wald schien noch immer endlos.

    Doch die Bären, Wölfe und Hexen hatten ihn verlassen, aber nicht die Mörder und die selbsternannten Magier. Und der Horizont waren jetzt scheckige Felder, Straßen, rotgeziegelte Häuser und graue Fabriken.

    Ein ebenso grauer Stoewer Greif bog in die Erlanger Altstadt ein, die in ihren Außenbezirken direkt an den alten Reichswald angrenzte. Und weniger als neun Kilometer von einer viele Jahrhunderte vergessenen, wild überwucherten Lichtung entfernt war. Versunken im Nebel vergangener Märchen.

    Zwei junge Männer in Anzügen saßen in dem Wagen, der Beifahrer hatte einen Ortsplan auf dem Schoß, suchte nach einer Straße. Der Fahrer beugte sich zu ihm, hielt am Bordstein an.

    Die Straße, die die Gestapobeamten nicht finden konnten, lag unweit des Schlossparks. Jedes der alten Häuser glich dem anderen, aber in einem herrschte Verzweiflung.

    Ein stämmiger Mann Ende dreißig löste hastig eine gewachste Bodendiele hinter dem eisernen Ofen. Neben ihm lagen Schriftstücke, Belege, Hefte und mehrere vergilbte Fotos. Sein dreizehnjähriger Sohn Johanns kämpfte gegen Tränen an. Er hatte die kantigen Gesichtszüge seines Vaters, die gleichen nebelgrauen Augen. „Lauf doch weg, sie müssen jeden Augenblick hier sein! Der Schwager von der Gauderin hat’s gesagt! Der kennt den Hauptkommissar bei der Nürnberger Gestapo!"

    Sein Vater schüttelte resigniert den Kopf. „Und wohin? Dann halten’s sich an euch. Wo die Mutter sowieso schon im Hospiz ist."

    Hans Wilhelm Söhnker, Schriftleiter beim ‚Erlanger Tageblatt‘, hatte über Hitlers Hang zur schwarzen Magie und seinen Aberglauben recherchiert: Seine und Himmlers enge Verbindungen zu okkulten Gruppen, über kultische Rituale und Beschwörungen, die aus dem finstersten Mittelalter zu stammen schienen, und auch über die katastrophale Auswirkung auf Hitlers Psyche im Jahr 1933, als in München bei der Grundsteinlegung des Hauses der Kunst der Silberhammer in seiner Hand zerbrochen war. Drei Monate lang war Hitler in Weltuntergangsstimmung – bis der verantwortliche Architekt, Paul Ludwig Troost, plötzlich verstarb. Und Hitler war sich nun sicher, dass das schlechte Vorzeichen nicht ihm und seinen Plänen gegolten hatte, sondern nur dem Schöpfer des Bauwerkes.

    Nach dem ungewöhnlichen Erfolg der ersten Serie, die die kleine Regionalzeitung über Bayerns Grenzen hinaus bekannt gemacht hatte, war nun eine zweite Serie angekündigt, mit neuen Zeugenaussagen. Aber inzwischen war auch Berlin auf den unerschrockenen Schriftleiter aufmerksam geworden.

    Söhnker ordnete die Unterlagen, „des wird schon nicht so schlimm. Als Berichterstatter von einer deutschen Zeitung, da verschwindest‘ nicht einfach. Und vielleicht ist der ganze Spuk schneller vorbei, als wir denken. Und dann komm ich heim."

    „Warum hast du nur drüber schreiben müssen, über den Führer und das ganze Okkulte? Wärst still gewesen, wär noch alles wie früher!"

    Sein Vater blickte auf, „nichts ist mehr wie früher! Weil alle still geblieben sind!"

    Johanns schüttelte den Kopf, „bitte ... lass dich net einfach fortholen!"

    Der Schriftleiter legte die Dokumente behutsam in den Hohlraum. „Hier ist auch die eidesstattliche Aussage von Heribert Dörr, der 1926 in München gelebt hat und vor zwei Jahren verstorben ist: Hitler war damals Mitglied in der okkulten Vril Gesellschaft, die von dem Karl Haushofer, dem alten General, angeführt worden ist. Die Aussage bestätigt Gerüchte, dass man versucht hat, in Hitler einen Dämon heraufzubeschwören."

    „Einen Dämon?! Es gibt doch keine Dämonen!"

    „Natürlich nicht! Aber wenn man, wie unser Führer, dem Empirismus abgeschworen hat, dann wird auch der Glaube eine Realität. Und es gibt Aussagen, dass Hitler in letzter Zeit öfters unter Anfällen leidet, die einem Besessenen gleichen. Die Krankenschwester Irmgard Trautmann, die inzwischen in England lebt, hat -"

    Sie hörten jetzt, wie unten ein Wagen vorfuhr, der Motor wurde ausgestellt.

    Die beiden warfen sich einen langen wortlosen Blick zu, dann passte Söhnker hastig die Diele ein, richtete sich auf.

    „Weißt‘ noch, was der Archimedes gesagt hat?"

    Sein Sohn schüttelte nur stumm den Kopf.

    „Gebt mir einen Punkt, wo ich ansetzen kann, und ich bewege die Erde. Und der Aberglaube von unserem Führer, des ist so ein Punkt!"

    Ein heftiges Pochen dröhnte durchs Treppenhaus. „Polizei! Machen Sie auf!!"

    Der Vater reichte dem Sohn zögernd die Hand.

    „Kümmer dich um deine Mutter. Des wird nicht leicht."

    Der Junge stand reglos. „Und pass auf dich auf. Dass’d den richtigen Leuten vertraust. ... Ich bin stolz auf dich. Sehr stolz."

    Jetzt streckte auch Johanns dem älteren Söhnker die Hand entgegen, fühllos, wie ein Automat.

    Ein neuerliches Klopfen tönte nach oben. Er drückte die vertraute Hand, auf der er jede Falte, jede Ader kannte, seit er ihm von früher Kindheit an beim Schreiben zugeschaut hatte. Dann riss sich sein Vater los, zerrte ihn zu einer unbeholfenen Umarmung an sich. Johanns zögerte, konnte sich nicht erinnern, dass er ihm schon jemals so nah gewesen war.

    Das Hämmern wurde immer ungeduldiger, und Söhnker machte sich endlich los und stolperte blicklos die engen Stiegen hinunter.

    Der Junge hörte ihn die Haustür entriegeln und dumpfe Stimmen, dann fiel die Tür ins Schloss.

    Er ging zum Fenster, sah hinunter, sah den Vater in den grauen Wagen einsteigen, davonfahren. Die Straße entlang, auf den Reichswald zu, der sich hinter der uralten Stadtmauer erhob. Düster sogar im Sonnenlicht.

    Und er erinnerte sich an die grausigen Geschichten, die ihm sein Vater früher aus dem alten Märchenbuch vorgelesen hatte, und die für ihn alle im nahen Reichswald ihren Ursprung nahmen. Geschichten von Tod, Verrat und Zauberei. Die ihn mit Angst und Entsetzen erfüllt hatten. So dass er bis heute den Wald nach der Dämmerung mied. Obwohl der Vater die Gräuel immer mit einem heiteren „und wenn sie nicht gestorben sind ..." abschloss.

    Aber jetzt verstand er, dass die Wirklichkeit unerbittlicher war als die Welt der Gebrüder Grimm. Dass es kein ‚... dann leben sie heute noch!‘ gab.

    Der Wald verschwamm vor seinen Augen, und er wusste, dass er seinen Vater nie wiedersehen würde.

    Nürnberg, Felsenkeller

    Samstag, 20. Juli 1944, 12:30 Uhr

    Dem Hitlerjungen, der den Führer stürzen wollte, lief der Schweiß in klebrigen Schlieren über die Stirn. Obwohl in den Katakomben eine aufwendige Klimatisierungsanlage für kühle 18 Grad und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit sorgte. Aber für Johanns Söhnker stand viel auf dem Spiel.

    Er war jetzt sechzehn, mittelgroß, seinem Vater immer ähnlicher. Kein Junge mehr und fast schon ein Mann, seit vor einem Jahr die Todesnachricht aus Dachau eingetroffen war.

    Johanns setzte an, was zu sagen, dann brach er wieder ab. Ein großer, massiger Mann Ende siebzig schlurfte vor ihm her, schob mühsam Fuß vor Fuß auf dem rissigen Beton. Jetzt blieb er stehen und drehte sich um, „Ja doch, ich bin dir dankbar für deine Begleitung, sagte er keuchend, „die Kontrollen werd’n immer mühsamer.

    Der dunkle Anzug des Kurators des Germanischen Nationalmuseums stammte noch aus besseren Jahren. Prof. Dr. Kurt Schubert hielt viel von angemessener Kleidung. Auch in schlechten Zeiten. Das schwere englische Tuch war sorgfältig gebügelt, was aber die glänzenden Ellbogen und die ausgefransten Ärmel des Alten nicht verbergen konnte.

    Scheiß auf deine Dankbarkeit, dachte Johanns, du wartest nur darauf, dass du mich wieder befingern kannst.

    Er folgte ihm schweigend. Ein Geruch von Moder und Schimmel durchdrang die Stollen unter der Burg, in denen Nürnbergs Kunstschätze eingelagert waren. Aus weiter Ferne hörte man das erstickte Heulen der Luftschutzsirenen.

    Der Hitlerjunge schloss zu dem Alten auf, „der Adjudant vom Kerner, hat der schon mit Ihnen geredet?"

    „Adjudant von wem!?"

    „Vom Sturmbannführer Kerner. Der kommt aus Berlin, heut’ abend, wegen der Opernaufführung, und danach möcht’ er den Felsenkeller inspizieren."

    „Mitten in der Nacht?, Schubert schüttelte den Kopf, „und was will der hier? Aus Berlin!! Die soll’n doch froh sein, dess die Sachen sicher sind.

    „Der hat Anweisung vom Führer, hat Hauptmann Brauer gesagt."

    „Als ob der nichts Wichtigeres zu tun hat. Schuberts Atem rasselte asthmatisch. „Ich werd’ mit dem Adjudanten reden.

    Der Sturmbannführer Kerner will die Reichsinsignien sehen, dachte Johanns, ausgerechnet jetzt, die Krone, das Zepter und den Reichsapfel, uralt und aus purem Gold, und wahrscheinlich auch den Krönungsmantel und die Heilige Lanze. Und vielleicht wird er sie noch heute Nacht mit nach Berlin nehmen, und dann waren seine Pläne umsonst. Wenn er jetzt auch nur den kleinsten Fehler machte.

    Angespannt tastete er an die Seitentasche seiner kurzen braunen Hose, und er hörte das beruhigende Knistern des kleinen Zellophanbeutels. Das ganze Gelingen seines Plans hing von dem Inhalt dieses Beutels ab. Motten, lebende Motten und eine Vielzahl ihrer Larven.

    „Komm, fass mal mit an."

    Schubert war stehen geblieben und hantierte an einer der mannshohen Heiligenfiguren, die gegen die Wand mit den Platten aus gepresstem Stroh gekippt war. „Net, dess uns der Heilige Sebastian noch ausbüxt." Schubert lächelte.

    Johanns trat näher, um ihm zu helfen. Aber er beeilte sich nicht sonderlich, er wusste, dass der alte Mann die Unterbrechung nutzen würde, um ihm mit zittrigen Händen über die bloßen Schenkel zu fahren.

    „Hoppala", würde er dann sagen, und Johanns würde so tun, als ob er nichts gemerkt hätte.

    Sie zerrten das Heiligenbild hin und her und kippten es endlich in eine aufrechte Position.

    „Hoppala", sagte Schubert.

    Der Hitlerjunge ging weiter.

    Statuen aus Holz und Stein starrten blicklos durch die düsteren Gänge, sie standen dichtgedrängt zwischen großen Kisten und riesigen Altartafeln. Man konnte kaum noch durchkommen.

    Mit Beginn der Bombenangriffe hatten die Nürnberger Stadtoberen alle beweglichen und demontierbaren Kunstwerke in die weitverzweigten Katakomben tief unterhalb der Burg auslagern lassen. Wie den mittelalterlichen Engelsgruß, das Veit-Stoß-Kruzifix und die uralten Glasmalereien aus der Frauenkirche. Und die Räume mit besonders unersetzlichen Objekten waren durch eine zentnerschwere Tresortüre gesichert.

    In den ersten Jahren hatten die Stadtväter die Umlagerung noch unter dem Vorwand notwendiger Restaurierungen befohlen.

    Das Eingeständnis mangelnden Vertrauens in die Sicherheit ihrer tausendjährigen Stadt wäre bei der Partei des Tausendjährigen Reiches als Wehrkraftzersetzung verstanden worden. Aber inzwischen war sogar der Schöne Brunnen auf dem Hauptmarkt mit einem halben Meter dicken Betonmantel umschlossen ...

    Johanns atmete tief durch. Die Lügen, auf denen das Reich aufbaute, wurden immer offensichtlicher. Und es blieb keine Zeit mehr, wenn der kleine Mann aus Braunau nicht die ganze Nation ins Inferno stürzen sollte. Und der kleine Mann, der seinen Vater hatte umbringen lassen, war ein abergläubischer Mann.

    Und der Hitlerjunge und Flakhelfer Johanns Söhnker hatte vor, das gegen den Reichskanzler Adolf Hitler einzusetzen.

    Der Sohn hatte die Gespräche mit seinem Vater nicht vergessen.

    Das Zitat von Archimedes.

    Und vielleicht hatte er jetzt diesen Punkt entdeckt. Bei dem er ansetzen konnte.

    Die Welt verändern konnte.

    Ihm bot sich die einmalige Möglichkeit, den ‚größten Feldherrn aller Zeiten’ an einer verwundbaren Stelle zu treffen.

    Bei seinem Aberglauben. Es war ein verrückter, aussichtsloser Plan, aber kein unmöglicher.

    Die blechernen Klänge eines Volksempfängers klangen zu ihnen herüber. Gleich würden sie am Wachraum ankommen. Heute hatten Gerstmeier und Kreitl Dienst, beide schon Ende fünfzig, aber erfahrene Klimatechniker.

    Wie auch die anderen Männer des Wachpersonals hatten sie sich in erster Linie um den großen Dieselmotor und die Stromgeneratoren für Ventilation und Klimaanlage zu kümmern.

    Und solange alles funktionierte, spielten sie Karten. Und falls sie noch einen dritten Mann gehabt hätten, hätte der Krieg für sie immer so weitergehen können.

    „Mahlzeit", Schubert winkte in ihren kleinen Raum, der nur mit dem Notwendigsten ausgestattet war: Mit zwei Stühlen und einem Tisch, auf dem auch der Volksempfänger stand, einem blechernen Kleiderspind und einem einfach gezimmerten zweistöckigen Hochbett. Und mit einem Anschluss an die Polizeirufanlage.

    „Hat sich was, Mahlzeit!, der hagere Kreitl blickte von seinem Blatt auf, „des Essen ist noch net da.

    Johanns trat in die Tür. „Im Nordosten hab’n sie englische Flieger g’sehen. Da geht keiner auf die Straß’n. Keiner außer uns."

    Jetzt hob auch Gerstmeier seinen kahlen Schädel zu dem Jungen, „und warum bist du net bei deiner Flakeinheit?"

    Schubert machte einen Honigmund. „Weil ich sonst alles selber machen muss. Die sollen den Krieg mal alleine gewinnen."

    Johanns nutzte die Gelegenheit. „Sobald wir hier fertig sind, dann geh’ ich beim Schwanenwirt vorbei und hol’ euer Essen."

    „Schon gut. Kreitl war jetzt wieder versöhnlicher gestimmt. „Gibt doch nur Kartoffeln und gekochte Rüben ...

    „Vergiss des Dunkelbier nicht, brummte Gerstmeier, „des Bier vom Schwanenwirt ist gut.

    Und Kreitl warf sein Blatt auf den Tisch. Gerstmeier entfuhr ein ärgerliches „Zehfix nochamal!! Wo kommt jetzt des Pik-Ass her!?"

    Schubert war inzwischen weitergegangen und stand bei der Tresortür, er hatte einen Kneifer aus seiner Rocktasche gezogen und starrte blinzelnd auf das Zahlenschloss mit den winzigen Gravierungen. So wuchtig die eiserne Tür war, so zierlich waren die Zahlen.

    Er blickte zum Wachraum hinüber, und von dort war jetzt außer einer melancholischen Schlagermusik und dem monotonen Klatschen der Karten nichts zu hören.

    Schubert zwinkerte Johanns zu. „Jetzt fang schon an. Sonst werd’n wir nie fertig."

    Johanns nickte. Und während eine fleischige Hand sich liebevoll in seinen Nacken legte, griff er nach dem Kombinationsschloss und begann zu drehen, „11 nach rechts, dann 17 nach links und 3 rechts ..."

    „Pssst! Schubert zischte ihm zu. „Leise! Des darf keiner wissen, dess du die Zahlen kennst!

    Johanns konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Alle Wachleute wussten, warum der sehschwache und arthritisgeplagte Schubert den Enkel seiner Base auf die Kontrollgänge mitnahm. Ganz abgesehen von Schuberts stadtbekannter Neigung für kleine Jungs.

    Aber in den vier Jahren, seit die Einlagerungen begonnen hatten, waren die Männer des Kunstbunkers zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden. Immer vorsichtig, die Parteibonzen nicht zu provozieren, setzten sie alles daran, so viele Kunstwerke wie möglich in die Sicherheit des meterdicken Felsendaches zu bringen. Und noch nie hatte einer ihr Vertrauen missbraucht.

    Bis heute, dachte Johanns. Aber wenn es ihm wirklich gelingen sollte, Hitlers unantastbare Macht auch nur ein wenig zu erschüttern, würde keiner der Männern sich gegen ihn stellen. Da war er ganz sicher.

    Gerade, als er jetzt die letzte Zahl einrasten ließ, kam Kreitl aus dem Wachraum. Er warf Schubert und dem Hitlerjungen, der an dem Kombinationsschloss hantierte, einen teilnahmslosen Blick zu und verschwand in Richtung der Latrine.

    Schubert starrte ihm überrascht nach, dann nahm er die Hand herunter und zuckte die hängenden Schultern. „Auch egal. Der Kreitl wird nix sagen."

    Johanns schwieg, er drehte jetzt das gusseiserne Rad und konnte spüren, wie die armdicken Bolzen aus ihren Führungen im stählernen Rahmen ausrasteten. Mühsam zerrte er die schwere Tresortür zurück. Nur widerwillig gab sie den Weg zu dem kleinen Höhlenkomplex frei, der die besonders wertvollen Schriften und Kunstschätze barg.

    Schubert ging voraus, bis sie zu einer roten Eisentür kamen. Hinter dieser Tür wurden zwanzig Kisten mit den uralten Reichsinsignien aufbewahrt.

    Die Tür war unverschlossen, sie hatte nur die Funktion, Brände oder eventuelle Rauchentwicklung abzuhalten. Schubert öffnete sie und trat in den kleinen Raum. Er blickte sich um, bückte sich keuchend zu einer der braunen Holzkisten und stemmte den Deckel auf. Die Kiste war, wie alle anderen auch, innen mit verzinktem Blech ausgekleidet. In Holzwolle eingebettet lagen mehrere Leinenbündel vor ihm.

    Schubert musterte sie mürrisch, dann holte er eines nach dem anderen hervor und schlug kurz den Stoff auf – sowohl der goldene Reichsapfel, das Zepter und auch die mit Rubinen, Perlen und Diamanten besetzte Krone funkelten im trüben Licht wie frisch geputzt.

    „Na bitte. Wenn dieser Kerner die wirklich mitnehmen will – so gut wie neu!" Sein massiges Gesicht hatte sich jetzt gerötet, schwer atmend schlug er alles wieder ein und legte es zurück.

    Er drehte sich zu dem Jungen um, „Johanns, mach du weiter, er reichte ihm eine abgegriffene Kladde, in der die eingelagerten Gegenstände detailliert aufgeführt waren. „Ich werd‘ mir noch mal die Blattgoldauflagen vom Tucheraltar ansehen. Denen bekommt die Höhlenluft überhaupt net.

    „Keine Sorge, Johanns nickte, „ich kümmer’ mich drum. Geh’n Sie ruhig schon vor.

    Schubert warf ihm ein schiefes Lächeln zu und schlurfte aus dem Raum.

    Endlich war es soweit. Johanns Söhnker war allein mit den unersetzlichen Schätzen.

    Und nicht zum ersten Mal. Prof. Dr. Schubert würde sich da draußen auf der Kiste mit den Dürer-Kupferstichen niederlassen. Und einen tiefen Schluck aus dem zinnernen Flachmann in seiner Brusttasche nehmen. Mirabellenschnaps, und nachher würde er noch zudringlicher sein. Johanns grinste boshaft, als er jetzt die Kiste mit dem Krönungsmantel aufklappte. Er nahm ein großes, sorgfältig in dichtgewebtes Leinen gewickeltes Bündel heraus und öffnete es. Schwerer tiefroter Samt, goldgebördelt, lag in sorgfältige Falten geschlagen vor ihm.

    Ein Mantel, der die Schultern von Kaisern und Königen bedeckt hatte, und um dessen Macht viel Blut geflossen war.

    Und wenn schon. Jetzt hatte er eine genauso wichtige Aufgabe.

    Johanns griff in die Hosentasche seiner HJ-Uniform und holte die Tüte mit den Motten heraus. Er öffnete sie, zögerte einen Moment, dann schüttelte er kurzentschlossen den Inhalt über den Mantel. Flatternd und krabbelnd breiteten sich die Insekten über den schimmernden Stoff aus, und die Larven kullerten in die Falten. Johanns beobachtete sie einige lange Sekunden und schloss das Leinentuch darüber.

    Dann ging er zu der Kiste Nummer 13 und klappte den Deckel hoch. Obenauf lag ein schmales, fast vierzig Zentimeter langes Stoffbündel. Schon bei der letzten Überprüfung hatte er es griffbereit dort liegen gelassen. Er zögerte zuerst, aber dann nahm er es heraus und schlug das Leinen zurück. Auf verblasstem roten Samt lag das gesuchte Objekt jetzt vor ihm: Eine uralte, kupferfarbene Lanzenspitze, mehrfach sorgfältig mit kreuz- und längsgeflochtenem Golddraht und gehämmertem Silberblech restauriert – ein magisches Artefakt, an dessen Magie der Hitlerjunge Johanns nicht glaubte.

    Aber der Führer. Es war bekannt, dass Hitler schon in seinen Wiener Hungerjahren ein Bewunderer der Heiligen Lanze gewesen war. Die Lanze des Longinus. Des römischen Legionärs, der sie dem gekreuzigten Jesus in die Seite gestoßen hatte, um seinen Tod festzustellen. Und die der Sage nach dem jeweiligen Träger mythische Macht und Unbesiegbarkeit sichern sollte. Barbarossa und Karl der Große sollen ihre Erfolge dem Besitz der Lanze verdankt haben – und beide starben unmittelbar danach, als sie die Reliquie verloren.

    Die Lanze war zusammen mit den Reichsinsignien in der Wiener Hofburg ausgestellt worden, und Hitler hatte das legendäre Reliquiar nach Österreichs Eingliederung umgehend nach Nürnberg bringen lassen. Unter größten Sicherheitsvorkehrungen.

    (Anm. Die angesprochenen Fakten über Geschichte, Verwahrung und auch die spätere Auffindung der Habsburger Lanze durch den Lieutenant der U.S. Army William Horn entsprechen den historischen Tatsachen. Ebenso wie Hitlers Mitgliedschaft bei den genannten okkulten Orden sowie der Vorfall bei der Einweihung des Münchener Hauses der Kunst 1933.)

    Misstrauisch nahm Johanns die Lanze aus dem blutfarbenen Stoff, neugierig zwar, aber auch mit einer uneingestandenen Scheu vor der Berührung. Er war angewiesen, Hautkontakt mit den Objekten zu meiden, da schon kleinste Schweißspuren den Glanz und die Unversehrtheit beeinträchtigen konnten.

    Aber plötzlich - als ob die Lanze ein Eigenleben entwickeln würde - glitt sie in seine offene Hand. Sie kam in seiner Handfläche zu liegen, genau ausbalanciert, herausfordernd, abwartend. Johanns blickte sie erstaunt an.

    Und langsam sengte sich eine schneidende Kälte in seine Haut, furchteinflößend, seltsame Sehnsüchte weckend.

    Er starrte verwirrt auf die uralte Waffe, ihm fröstelte, und als er sie gerade wieder in ihr Futteral legen wollte, wurde er unvermittelt von einer Woge wilden Triumphes überflutet, einem Triumph allem Menschlichen enthoben, und dann wurden die grauen Felswände fahler und traten zurück, verloren ihre Festigkeit und lösten sich schließlich zu einem perlmuttfarbenen Nebel.

    Ein schimmernder Nebel, der sich bewegte, strukturierte, sich zu Umrissen formte, und verzerrte Bilder gestalteten sich im schillernden Dunst.

    Ein kriegerisch geschirrtes Pferd, das scheute und einen goldbetressten Reiter abwarf, einen abgerissenen, aber hoheitsvollen alten Mann, der ungläubig in einen Wirbel dunklen Wassers gezogen wurde - und dann tauchten aus den Wirbeln andere Gestalten auf, mit Kronen und Rüstungen, sie tauchten auf und versanken wieder, in blutgetränkter Erde.

    Johanns schwankte, alles drehte sich um ihn und er stürzte. Er schlug schwer auf den rauen Beton und blieb regungslos liegen, die Lanze umklammert. Und ein anderer Schemen nahm Form an, ein Schemen, der realer war, gegenwärtig:

    Eine Hand mit nur drei Fingern, die eine dicke, schweinslederne Aktentasche öffnete. Eine kleine Zange, von den drei Fingern geführt, die einen winzigen Mechanismus niederdrückte.

    Stöhnend richtete sich der Junge jetzt auf, versuchte, den Visionen zu entkommen – aber in diesem Augenblick rastete der Mechanismus ein und die leblosen Umrisse der Tasche verschwammen. Sie fingen Feuer, sie verwandelten sich in eine grelllodernde Dämonenfratze, eine Fratze mit herrischen Augen, die ihm seltsam vertraut vorkamen, Augen, die ihn hasserfüllt anstarrten.

    Mit letzter Kraft schleuderte er die Lanze von sich und sie klirrte zu Boden und er kroch von ihr weg. Voller Angst. Todesangst.

    Dann flackerte das Licht, es erlosch - und Dunkelheit und eine unwirkliche Stille legte sich über ihn.

    Nur das dumpfe Knistern eines Volksempfängers klang noch zu ihm hinüber: „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt -", dann brach auch dieses Geräusch ab, und das Surren der Lüftungsanlage erstarb.

    „Johanns!?" Er hörte, wie draußen eine Kiste knarrte, und der Kurator sich schwerfällig erhob.

    Dann drangen tastende Schritte zu Johanns durch, die immer näher kamen.

    Und er hörte das ferne Hantieren, als die Wachmänner jetzt versuchten, den Dieselgenerator anzuwerfen. Die Glühlampe begann zu flackern und verbreitete ein fahles, unruhiges Licht.

    Johanns brauchte seine ganze Willenskraft, um die Lanze wieder aufzuheben, angewidert, starr vor Furcht.

    Schließlich fasste er sie mit spitzen Fingern, schlug das Tuch darum und steckte sie unter sein Hemd, in den Hosenbund. Er ordnete den ockergelben Hemdenstoff darüber, wandte sich zur Kiste und schloss den Deckel.

    Die Eisentür quietschte, als Schubert sie mühsam aufdrückte, schnaufend trat er in den Raum.

    „Schon wieder ein Stromausfall," sagte er gepresst.

    Johanns wartete einige Sekunden, um sein jagendes Herz zu beruhigen, dann deutete er nach oben, wo die einsame Glühbirne jetzt wieder gleichmäßig brannte.

    „Sie – sie hab’n den Generator angeworfen."

    „Ja, ja ... Schubert blickte sich fahrig um – er hasste alles, was von seinem gewohnten Tagesablauf abwich. Sein Blick fiel auf das große Bündel mit dem Kaisermantel. „Und? Sind die Sachen unversehrt?

    „Nein! Johanns fasste sich und kniete neben der Kiste nieder, schlug das Leinenbündel auf. „Motten! Wir hab’n Mottenbefall und ausg’rechnet im Kaisermantel!!

    Geschickt haschte er ein heftig flatterndes Insekt aus der Luft, und dann noch ein zweites, ein drittes, und er zertrat eines, das auf dem Boden entlang kroch.

    „Was!? Das Blut wich aus Schuberts Gesicht „Motten!? Im Krönungsmantel?!! Des ist doch unmöglich!

    Johanns faltete den schweren Mantel sorgfältig auf und hob ihn hoch. Einzelne Larven kullerten zu Boden, und flatternde Motten warfen hektische Schatten an die Wand.

    „Nein! Wenn des nachher der Kerner sieht! Und in der ganzen Stadt ist kein Naphthalin zu bekommen!" Schubert lockerte seine Krawatte, öffnete den Kragenknopf und starrte ungläubig auf die flügelschlagenden Insekten.

    Johanns zertrat einige der Larven, dann blickte er auf. „Ich kenne eine kleine Drogerie, in Fürth, sie gehört dem Vater von einem Schulfreund. Die hab’n noch einen Vorrat an Mottenkugeln."

    Schubert ließ sich auf eine der Kisten sinken. „Was!? In Fürth? Da bist du frühestens am Abend zurück. Und auch nur, wenn der Fliegeralarm falsch ist."

    „Aber Sturmbannführer Kerner kommt doch erst nachts hierher, nach der Opernaufführung, und bis dahin bin ich wieder da und kann mich um den Mantel kümmern."

    Schubert schüttelte langsam den Kopf. „Das macht keinen Sinn. Ich hab’ nachher ein Treffen mit dem Stadtrat, ich kann net noch amal herkommen. Ich muss um jeden Pfennig kämpfen."

    Johanns schwieg.

    „Es wird schon schwer genug, dess ich den Kerner rechtzeitig am Theater abhol’."

    „Aber wenn er dann ausgerechnet den Mantel seh’n will?, Johanns warf ihm einen fragenden Blick zu, „wenn Sie mit dem Kreitl reden, vielleicht kann er mich kurz reinlassen – ist ja nur für ein paar Minuten.

    Schubert richtete sich langsam auf, „der Kreitl ..."

    Eine Motte umschwirrte jetzt seinen silbernen Haarkranz. Er wedelte sie mit einer müden Handbewegung weg. Die Motte taumelte wieder zu ihm zurück.

    Johanns Hand schnellte vor und zerdrückte sie zwischen den Fingern.

    Schubert blickte schwerfällig auf.

    „Ja. Seine Hand hob sich nur langsam, als wolle sie sich von dem gebrechlichen Körper freimachen, sie schwebte durch das Halbdunkel und umschloss plötzlich mit erstaunlicher Kraft den sehnigen Oberschenkel des Jungen. „Ja ...

    Die kalte, schweißige Hand ließ ihn frösteln.

    Johanns stand regungslos, er zwang ein Lächeln auf seine Lippen.

    Schubert schaute ihn lange an, dann seufzte er. „Jetzt geh schon."

    „Was?"

    „Mach’ dich auf den Weg!"

    „Heißt das – ich kann nachher – alleine ..?"

    Schubert grinste. „Nein. Aber du wirst den Kerner und mich heut’ Nacht begleiten. Und ich werd’ dir dann die Zeit verschaff’n, die du brauchst."

    „Heute Nacht ..." Johanns starrte ihn verblüfft an.

    „Hoppala", die Hand zuckte, und der Griff löste sich.

    Aus weiter Ferne war das klagende Heulen der Sirenen zu hören, und Johanns zögerte noch einen Moment, „keine Sorge, Herr Professor, er eilte zur Tür, hinaus in den düsteren Gang, „des kommt alles in Ordnung!

    Der alte Mann blickte ihm nach, „und, Bua, mach kei’ Dummheiten. Wir hab’n Krieg ..."

    Aber er hörte nur noch die harten Schritte der genagelten Schuhe, die sich hastig entfernten.

    Nürnberg, Obere Schmiedgasse

    Samstag, 20. Juli 1944

    Johanns zog die schwere Eisentür hinter sich zu und trat in die schmale Gasse hinaus - in gleißendes Sonnenlicht. Die Türme der Burg zeichneten sich als schwarze Silhouetten gegen den Himmel.

    Einzelne Gestalten hetzten an ihm vorbei, die stolpernd Schutz in den Bunkern suchten. Die Sirenen waren nun peinigend laut.

    Johanns tastete sich mit geblendeten Augen an den Hauswänden entlang, entlang an lauernden, uralten Fachwerkhäusern, deren Giebel sich weit über die Straße beugten - gleich urtümlichen Raubtieren, denen man Klauen und Zähne gezogen hatte und die nun wütend auf ihren Untergang warteten.

    An einer schmalen Stiege blieb er stehen. Ein Schatten löste sich aus der Wand und trat auf ihn zu. Ein kleiner kräftiger Junge, auch in der Uniform der Hitlerjungen, kaum älter als 15 Jahre.

    „Hier, ich bin hier."

    „Lutz?" Johanns starrte ihn blinzelnd an. Der andere konnte seine Unruhe kaum verbergen.

    „Hast du die - die -?"

    Bevor Lutz zu Ende sprechen konnte, hörten sie ferne Flakgeschütze, dann das grelle Heulen fallender Bomben und wenig später die Einschläge.

    „Komm!"

    Johanns griff nach seinem Ärmel und zog ihn vorwärts. Sie begannen zu rennen, tief unter den schattigen Giebeln. Dann kreuzten sie die Straße, und Sekunden darauf waren sie im flirrenden Sonnenlicht verschwunden.

    Nürnberg, Uhrenwerkstatt Gauder

    Samstag, 20. Juli 1944

    Das Äffchengesicht hatte an einigen Stellen seine Behaarung verloren, nur die Augen funkelten noch bösartig und die verblassten Lippen waren zu einem Grinsen verzerrt. Meister Gauder bog behutsam den letzten Blechfalz um, dann stellte er das kleine Podest mit dem Spielwerk auf seiner Arbeitsplatte ab. Mit einem winzigen Hebel setzte er das Uhrwerk in Betrieb und das Äffchen im Rokokokostüm begann, ruckartig auf einer Geige zu schrappen.

    In der Juwelierswerkstatt in der Schildgasse erfüllte ein vielfältiges Ticken den niedrigen Raum. In Kriegszeiten ging das Geschäft mit Schmuck schlecht, und der Goldschmied Urs Gauder, ein gedrungener Mann Anfang sechzig mit wirrem silbergrauen Haarkranz, hatte sich auf die Reparatur von Uhren und komplizierten alten Spielzeugautomaten verlegt.

    Auf dem Wandbord hinter ihm standen die Spielwerke aus buntem Blech – wie die kleine Meerjungfrau, die in scheinbar richtigem Wasser schwamm, das sich erst bei genauem Hinsehen als rotierende Spindeln aus gedrehtem Glas entpuppte. Und andere Märchenmotive - die chinesische Nachtigall in ihrem goldenen Käfig, das tanzende Aschenputtel und ein uraltes Hexenhaus der Knusperhexe mit zinnernen Hänsel und Gretel in vergilbten Farben.

    Zu den Füßen des alten Mannes lärmten seine Enkelkinder, unbeeindruckt von dem aufwändigen Spielzeug.

    Valentina war zwölf, ein blasses, energisches Mädchen mit aschblonden Zöpfen. Elsa war sechs Jahre alt, und Laurin, dessen gelockte Haare in alle Himmelsrichtungen standen, gerade erst vier.

    Elsa schob ihren Bruder rüde zur Seite, „ich bin die Hexe!!"

    „Schluss jetzt!! Ihr seid Hänsel und Gretel!"

    Valentina duldete keinen Widerspruch, sie zerrte die beiden zu sich hinüber. Dann blickte sie kurz in ein abgegriffenes Opernlibretto und begann mit klarer Stimme zu intonieren:

    „Ihr kommt mich besuchen? Das ist nett! Ihr lieben Kinder, so rund und fett!"

    Laurin strampelte wütend, „Wer bist du, dumme Kuh! Lass mich los!!"

    Elsa lachte. „Das heißt: du garstige Frau, nicht dumme Kuh!"

    Auch Valentina musste lachen, dann sang sie ausgelassen weiter.

    „Na, Herzchen, zier‘ dich nicht erst groß! Wisst‘ denn, dass euch vor mir nicht graul‘, ich bin Rosine Leckermaul ..."

    Der alte Mann lächelte, „... und eine Hexe zum Liebhaben."

    „Im Theater bin ich ein Lebkuchenmädchen, und da muss ich freundlich sein!"

    Großvater Gauder wurde unvermittelt ernst. „Ja. Was für ein Schmarrn! Eine Opernaufführung mitten im Krieg!"

    Jetzt war ein fernes Klopfen zu hören, zweimal kurz, zweimal lang. Gauder seufzte, dann nickte er Valentina zu.

    „Geh‘ hoch und mach‘ die Tür auf."

    „Ich auch! „Nein ich!! Jetzt waren auch die Kleinen aufgesprungen, sie versuchten, sich an Valentina vorbeizudrängen.

    Die schob sie energisch zur Seite und lief zum Treppenaufgang, der mit einer alten Wolldecke abgehängt war. Sie ging hoch und schloss auf, Johanns trat ein, gefolgt von Lutz Godesberg, seinem Begleiter.

    Sie stiegen nach unten, schlugen die Decke zur Seite.

    Gauder blickte auf. „Und?"

    „Ich hab‘ sie."

    Johanns zog das schmale Leinenbündel aus seiner Jacke hervor, und legte es vor dem Goldschmied ab. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, dass seine Hand bei der neuerlichen Berührung nicht haltlos zu zittern begann.

    Gauder zögerte einige Sekunden, dann wickelte er das Bündel auf. In der eintretenden Stille starrte er auf die glanzlose Speerspitze.

    „Hast du auch alles vorbereitet?" Johanns blickte ihn ungeduldig an.

    „Soweit des nach den Photographien möglich war."

    Die Kinder musterten die Lanze neugierig, und Valentina betastete sie mit ihrem Finger. Ein Uhrwerk schlug an und Johanns fuhr zusammen.

    Er schob das Mädchen unerwartet barsch zur Seite. „Nimm die Hände weg!"

    Gauder zog die Schublade unter seiner Arbeitsplatte auf und holte eine sehr ähnliche, wenn auch grober geschmiedete Lanzenspitze hervor und patiniertes Silberblech und Golddraht.

    „Du hast Zeit bis heut‘ Nacht."

    „Des is‘ unmöglich."

    „Heut‘ Morgen war der Adjutant vom Sturmbannführer Kerner in den Katakomben!"

    „Kerner? Der ist doch in Berlin?"

    „Er kommt heut´ Abend zur Premier´."

    „Und?"

    „Er hat nach den Reichsinsignien gefragt. Vielleicht wird er die Lanze mitnehmen, in die Reichshauptstadt."

    „Sie mitnehmen ...?"

    „Das Zeichen von Hitlers Unbesiegbarkeit. Jetzt oder nie."

    „Du bist ein Träumer."

    „Mein Vater ist in Dachau gestorben. Ich träum‘ net mehr."

    Der alte Mann blickte ihn lange an.

    „... was du vorhast, ist närrisch. Wir setzen alles aufs Spiel."

    „Mach’s für meinen Vater. Bitte. Du warst sein bester Freund."

    „... für Friedrich. Ja ... Ich werd‘ durcharbeiten. So gut ich kann."

    „Nicht zu gut. Wenn wir dann des Gerücht streuen, dass der Glücksbringer vom Hitler nur eine billige Fälschung ist und die Lanze überprüft wird - das wirft ihn aus der Bahn. Wo er sowieso schon psychisch angeschlagen ist."

    „Und wenn du die Kopie nicht rechtzeitig zurückschaffst?"

    „Dann macht die Gestapo kurzen Prozess mit uns, mit allen, die Zugang zu den Katakomben haben ..."

    Die Kinder waren von dem Gespräch der Erwachsenen gelangweilt, sie versanken wieder in ihr Spiel. Valentina warf einen Blick in das Libretto und nahm den Text auf -

    „Drum hab‘ ich die kleinen Kinder so lieb! So lieb, so lieb, ach! Zum Auffressen lieb!"

    Aber ihre Stimme war jetzt nicht mehr wiederzuerkennen, kratzig und böse auf einmal, das flackernde Licht zeichnete harte Kanten in ihr weiches Gesicht und sie streckte die Hand nach ihrem Bruder aus, keine Hand mehr, sondern eine eklige Klaue.

    „Wartet!" Meister Gauder blickte sich fassungslos um.

    „Was is‘ denn!?"

    „Meine Uhren!!"

    Die Männer starrten hinter sich - die Pendel schwangen nicht mehr, die Sekundenzeiger blieben unverrückt - die Uhren waren verstummt.

    Laurin wich vor der verwandelten Schwester furchtsam zurück. Die spinnenbeinigen Finger fuhren durch seine Locken.

    „Geh‘ weg, du garstige Hexe!"

    Er wandte sich zur Flucht, aber der Tisch verstellte ihm den Weg. Die Hexe lachte grell. Die Lanze lag auf dem Tisch.

    „Ha ha ha ha! Was bist du doch für ein leckeres Teufelsbrätchen ..."

    Laurin griff verzweifelt nach der Lanze, er hielt sie wie einen Dolch und wehrte die Hexe ab.

    Ärgerlich wandte Gauder sich den Kindern zu, „was macht ihr da?"

    Valentina drehte sich um, aus dem Spiel gerissen, und die eiserne Schneide durchdrang mühelos den Stoff über ihrem Arm und glitt in ihr Fleisch.

    Die Umstehenden sahen zu, regungslos, Blut quoll aus der Wunde, Gauder riss die Waffe hastig an sich und legte sie weg.

    Und dann hörten sie es.

    Das Uhrwerk der Hänsel-und-Gretel-Spieldose begann als Erstes zu rattern, Hänsel und Gretel tanzten in obszönen Zuckungen um den Backofen, wobei Gretel immer wieder die Ofentür zuschlug, und die Hexe mit ihren Rubinaugen ruckte im Feuerschlund hektisch vor und zurück, in der grausigen Parodie eines einsamen Geschlechtsaktes mit den Flammen, und auch die Meerjungfrau und die anderen Märchenfiguren erwachten zu überdrehtem Leben, das Rokokoäffchen bearbeitete in abstoßenden Verrenkungen die Geige, die Spieldosen rasselten verzerrte Melodien.

    „Jesus Christus!" Das Gesicht des alten Mannes glich einer wächsernen Maske.

    Der Lärm war ohrenbetäubend.

    Johanns drehte sich rasch um, er nahm ein sauberes Leinentuch, das über dem Ofen zum Trocknen hing, und drückte es auf Valentinas Wunde. Der Goldschmied fand allmählich wieder zu sich und stellte die Spieldosen mit bebenden Fingern ab.

    Elsa schluchzte eingeschüchtert vor sich hin, Laurin blickte entsetzt auf seine Schwester. Valentina war kalkweiß geworden und starrte die Lanze an. Dann hob sie ihre zitternde Hand und legte sie ungläubig auf das bronzefarbene Blatt, eine kleine glitzernde Blutperle an der schartigen Spitze.

    „Lass des!"

    Gauder zerrte die Klinge unter ihrer Hand weg.

    Unwillkürlich erschauerte er.

    Was Johanns nicht entgangen war. Er blickte ihn scharf an, „hast du – hast du was gespürt?"

    „Gespürt? Was?"

    „Als du – ich meine, als du die Lanze angefasst hast."

    „Nein. Nur ... nur was wie Ekel. Wieso? Was ist da passiert?"

    Johanns bemerkte nicht, dass Valentina ihn jetzt unverwandt anstarrte, aus forschenden Augen, mit einem Ausdruck, der so gar nicht zu ihrem Alter passte - als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und ihre Mutter hereinstürzte, auf die Kinder zu.

    „Was war das für ein Lärm?"

    „Die Kinder hab’n sich erschrocken. Wegen der Spieldosen, Johanns nahm das Tuch von Valentinas Verletzung und zeigte sie ihr, „... aber es ist nur ein Schnitt. Es hört schon auf zu bluten.

    „Du hast dich geschnitten!?"

    Die stämmige Frau musterte ihre Tochter besorgt.

    „Laurin hat mit - mit einem Messer gespielt. Valentina wollte es ihm abnehmen. Das war keine Absicht."

    Meister Gauder bedeckte die Lanze mit dem Tuch, „bring‘ die Kinder zu Bett. Es ist nichts Ernstes."

    „Habt ihr’s nicht gehört? Die Gerüchte über des Attentat auf Hitler!"

    Johanns blickte auf, „Ein Attentat!?"

    „Mein Schwager ist im Führerhauptquartier. Er hat mit Erhardt telefoniert."

    Der alte Mann war zutiefst aufgewühlt. „Hat der Führer – hat er überlebt?"

    „Anscheinend ja ..."

    Johanns starrte sie ungläubig an, „wann war das?"

    „Kurz vor eins. Eine Bombe bei einer Lagebesprechung in der Wolfsschanze!"

    Johanns schwieg, aber seine Gedanken überstürzten sich: Kurz vor eins, da hatte er die Lanze berührt, er hatte diese verrückte Vision gehabt - und er hatte die Lanze weggeschleudert.

    Die Vision ... der Mechanismus in der Tasche – war das die Bombe? Die Hand mit den drei Fingern hatte sie aktiviert! Natürlich, der verkrüppelte Oberst, das war Stauffenberg! Sein Wagen war in Tunesien auf eine Mine gefahren, und er hatte ein Auge, die rechte Hand und zwei Finger von der linken Hand verloren. Und Stauffenberg war kein Freund des Führers ...

    Was wäre passiert, wenn er die Lanze festgehalten hätte, wenn er sie für sich beansprucht hätte – wäre der Führer dann umgekommen? Wäre dann alles vorbei?

    Aber ihn, Johanns Söhnker, den Jungen, der die Welt aus den Angeln heben wollte, ihn hatte die nackte Angst gepackt und er hatte die Lanze einfach weggeworfen ...

    Dummes Zeug, er durfte sich auf solche Gedankenspiele gar nicht erst einlassen. Nichts als dummer Aberglaube ...

    Die aufgeregte Stimme der Mutter brach in seinen Denkfluss: „Der Führer hat es überlebt. Warum nur!?" Der Führer ... die Augen der Dämonenfratze ... diese herrischen, verächtlichen Augen – jetzt wusste er, wessen Augen das gewesen waren, diese Augen, die aus den Bildnissen in allen Amtsstuben auf ihr Volk herabblickten.

    „Zu keinem ein Wort!" Die Mutter schob ihre Kinder hastig zur Tür.

    „Was!?"

    „Ihr wisst von nix! Sonst denken die noch, wir g’hören zu den Verschwörern!!"

    Die Tür schloss sich hinter ihr, und Johanns spürte Gauders durchdringenden Blick auf sich.

    Das ist alles nur ein dummer Aberglaube, versuchte er sich einzureden, ich darf mich davon nicht anstecken lassen.

    Gauder wandte sich wieder der Lanze zu und deckte sie auf. „Ich werd‘ so schnell arbeiten, wie ich kann. Und sie kommt heut‘ noch aus’m Haus! Das Ding ist des Teufels."

    Johanns starrte sie lange an. „... das weiß ich nicht. Aber sie ist – sie ist verzaubert! Sie hat die Macht, die Wirklichkeit zu ändern. Uralte Ängste aus unserm Unterbewusstsein zu beschwören, sie wahr werden zu lassen. Es ist gut, dass wir sie Hitler wegnehmen. Der is‘ der wahre Teufel."

    Dann blickte er in seine Hand, in seine linke Handfläche, in der die heilige Waffe gelegen hatte, und auf den purpurnen Abdruck, der zurückgeblieben war, den Abdruck einer verwitterten, rissigen Lanzenspitze.

    Eines uralten Stücks Eisenblech. Eines alten Stücks Blech, mit der Macht, den Lauf der Gestirne zu ändern.

    Nürnberg, Opernhaus

    Samstag, 20. Juli 1944

    Der Hitlerjunge tastete sich langsam durch das Halbdunkel der Kulissen. Unterdrücktes Poltern und ferner Gesang drangen zu ihm hinüber.

    „... nicht mehr vorwärts, nicht zurück! Bann‘ dich mit dem bösen Blick! Kopf steh‘ starr dir im Genick!!"

    Johanns blieb stehen und blickte auf seine Wehrmachtsuhr. Die Uhr seines Vaters. Aber die Phosphorziffern hatten zu wenig Helligkeit aufnehmen können, er konnte die Zeit nicht ablesen. Links von ihm fiel ein Streifen Licht durch die leinwandbespannten Rahmen, und er trat vor.

    - Schon sieben Minuten vor zehn, in weniger als einer

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