Heiligabend überall: Kurzgeschichten zum Weihnachtsfest
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Buchvorschau
Heiligabend überall - Ronald Henss
Torsten Houben
Der Kaufhausengel
Es war der Tag vor dem Heiligen Abend. Maria hatte ihr Sparschwein zerschlagen um von den wenigen Münzen, die sie gespart hatte, ein Geschenk für die Großmutter zu kaufen. Seit dem schrecklichen Autounfall vor vier Jahren lebte das Mädchen bei der Mutter ihres Vaters.
Nun stand sie mit der kleinen Geldbörse in der Hand auf dem Marktplatz und sah sich suchend um. Es gab so viele Geschäfte. In welchem Laden würde sie wohl das passende Weihnachtsgeschenk für die Oma finden?
Sie entschied sich für das große Kaufhaus, in dem sie so gerne die Rolltreppen rauf und runter fuhr. Das machte ihr genauso viel Spaß wie eine Karussellfahrt auf der Kirmes. Oft schon hatte die Großmutter mit ihr geschimpft, wenn sie zusammen dort waren. „Das ist doch kein Spielplatz!", sagte sie immer.
Unentschlossen ging Maria hinein und sah sich um. Aus den Lautsprechern klang „White Christmas". So gern hätte sie Schnee gehabt, aber in diesem Dezember lag die Temperatur weit über dem Gefrierpunkt. Es schien sogar die Sonne und weit und breit waren keine Wolken in Sicht – Schneewolken schon gar nicht.
Ein riesiger elektronischer Weihnachtsmann bewegte die Arme im Takt der Musik und drehte den Kopf hin und her. Maria blieb einen Moment lang vor ihm stehen, aber das wurde ihr bald zu langweilig. Der machte ja immerzu dasselbe!
Sie ging weiter und kam an einen Ständer mit dicken wollenen Socken. Großmutter hatte oft kalte Füße. Maria holte ihr dann immer eine Decke, die sie ihr um die Beine wickelte. „Sonderangebot" stand auf dem Schild. Zum Glück konnte Maria schon ein bisschen lesen. Immerhin ging sie schon zur Schule. Sie öffnete die Börse. 7,30 Euro zählte sie. Würde das für die Strümpfe reichen? Oder sollte sie doch noch weiter suchen, um etwas Schöneres zu finden?
Sie betrat die Rolltreppe und genoss die Fahrt. Keine Oma war da, die sie ermahnen konnte, also nutzte Maria die Gelegenheit und fuhr ein paar Mal rauf und runter.
Wie schön es hier war! In der ersten Etage befand sich das „Spielzeug-Paradies" und gleich daneben die Abteilung für Haushaltswaren und Geschenkartikel.
Als Erstes schaute sich Maria die Puppen an. Es gab Puppen in allen Größen und mit den unterschiedlichsten Haarfarben. Einige konnte sprechen, andere laufen und manche sogar weinen wie ein echtes Baby. Maria hatte gar keine Puppe. Ein alter Teddy und ein paar abgenutzte Bilderbücher waren alles, was sie zum Spielen besaß.
„Kann ich dir helfen? Suchst du etwas Bestimmtes?", fragte eine freundliche Stimme.
Maria schüttelte den Kopf und sah traurig auf die Babypuppe, die weinen und ins Höschen machen konnte.
„Hast du dir die vom Weihnachtsmann gewünscht?", fragte die Verkäuferin.
„Nein, der würde mir so etwas Teures nicht schenken. Ich weiß, dass meine Omi dem Weihnachtsmann die Geschenke bezahlen muss, und die hat nicht so viel Geld."
„Deine Eltern haben dem Weihnachtsmann vielleicht Bescheid gesagt, dass er dir so eine Puppe bringen soll."
„Papa und Mama sind im Himmel."
Die nette Verkäuferin strich dem Mädchen über das blonde Haar. „Arme Kleine."
„Ich bin nicht arm. Ich habe sieben Euro dreißig und davon kaufe ich Oma ein Geschenk."
„Das ist lieb von dir. Da wird sie sich sicher freuen."
„Me-la-nie", buchstabierte Maria das Namensschild.
„Du kannst ja schon lesen. Bist du schon ein großes Mädchen!"
„Ich werde bald sieben!, sagte Maria stolz, „Jetzt muss ich aber weiter, sonst macht Omi sich Sorgen, wenn ich nicht nach Hause komme.
„Ist gut, tschüss."
Melanie winkte zum Abschied und ging zu einem anderen Kunden.
Das Mädchen wandte sich den Haushaltswaren zu. Großmutter trank für ihr Leben gern heißen Kakao. Bevor Maria ins Bett musste, saßen sie oft noch zusammen in der Küche und Großmutter kochte Kakao. Manchmal bekam Maria einen großen Löffel Sahne darauf. Das war immer etwas ganz Besonderes. Maria fand einen großen Porzellanbecher, der mit roten Herzchen und gelben Sternchen bemalt war. „Der lieben Oma", stand in goldenen Buchstaben darauf. Das war das richtige Geschenk. Vorsichtig nahm sie die Tasse in die Hand und suchte das Preisschild, konnte es aber nirgends entdecken.
„Bitte, lass das Geld reichen!", bat Maria den Weihnachtsmann in Gedanken.
Sie lief zurück zu den Spielwaren. Unterwegs wurde sie von einem Jungen mit einer schwarzen Lederjacke angerempelt und die Tasse wäre ihr beinahe aus der Hand gefallen.
„Pass doch auf, wo du hinrennst!", blaffte der Junge Maria an.
„Selber!", sagte sie und streckte ihm die Zunge heraus.
Maria zupfte die Verkäuferin von vorhin vorsichtig am Ärmel.
„Melanie? Was kostet das?"
Sie hielt der Verkäuferin einen Becher entgegen.
„Der lieben Oma", las Melanie.
„Ja, die schenke ich ihr für den Kakao."
Marias Augen glitzerten voller Vorfreude auf das Gesicht der Großmutter, wenn diese morgen Abend die Tasse unter dem Weihnachtsbaum finden würde.
„Warte einen Moment. Ich frage eine Kollegin, was die Tasse kostet."
Die Verkäuferin drückte auf einen Knopf neben der Kasse und sprach in ein Mikrofon: „Frau Weber, bitte an Kasse 4."
Kurze Zeit später kam eine kleine dicke Frau. Melanie fragte sie nach dem Preis.
„Die ist ein Sonderangebot. Einzelstück. Sieben Euro."
„Dann habe ich ja noch Geld übrig. 30 Cent!"
„Wie schön, sagte Melanie, „du kannst die Tasse gleich bei mir bezahlen.
Erst jetzt bemerkte Maria, dass sie ihre Geldbörse, die sie doch die ganze Zeit festgehalten hatte, nicht mehr in der Hand hielt. Vielleicht hatte sie sie in die Jackentasche gesteckt, als sie die Tasse aus dem Regal nahm? Maria durchsuchte alle Taschen, konnte ihre Geldbörse aber nirgends finden. Nun wurde sie wirklich aufgeregt und Tränen traten ihr in die Augen. Sie begann zu zittern und dann rutschte ihr auch noch die Tasse für die Großmutter aus der Hand und zerbrach.
„Den Schaden musst du bezahlen, schimpfte die dicke Frau, „das ist dir doch wohl klar!
„Aber, Frau Weber, das kann doch mal passieren", sagte Melanie.
Maria hörte nicht, worüber die beiden Frauen sprachen. Sie weinte herzzerreißend.
„Mein ganzes Geld ist weg. Ich hatte so schön gespart. Schon seit dem Sommer. Es ist doch Weihnachten und ..." Maria schluchzte so sehr, dass sie kein Wort mehr herausbrachte.
Frau Weber ging kopfschüttelnd in ihre Abteilung zurück. Melanie hielt Maria ein Papiertaschentuch hin.
„Putz dir erst mal die Nase und dann suchen wir zusammen deine Geldbörse, OK? Weine nicht mehr. Wie heißt du eigentlich?"
„Ma - Ma - ria." Sie weinte immer noch.
„Dann heißt du ja wie die Mama vom Christkind. Weißt du das?"
„Wirklich?"
Maria wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab.
„Du kennst doch die Weihnachtsgeschichte?"
„Ich weiß nicht. Kann sein."
„Hat deine Oma dir nie die Weihnachtsgeschichte vorgelesen? Die von Maria, Josef und dem kleinen Jesus, der in einem Stall geboren wurde?"
„Jesus? DER Jesus? In einem Stall?"
Maria lächelte nun. Der Kummer war erst mal vergessen.
„Komm mit."
Melanie nahm das Mädchen an die Hand. Nachdem sie eine Kollegin gebeten hatte für sie einzuspringen, ging sie mit Maria in die Caféteria. Melanie bestellte eine heiße Schokolade und für sich ein Kännchen Kaffee.
„Wie war das jetzt mit dem Stall?", fragte Maria.
Melanie begann zu erzählen. Von der schwangeren Maria und ihrem Ehemann Josef, die eine weite Reise machen mussten und als einzige Unterkunft einen Stall mit Ochs und Esel fanden. Von den Hirten, denen ein Engel die Ankunft des Heilands verkündete und von den drei Weisen aus dem Morgenland, die kamen um das Baby Jesus anzubeten und ihm Geschenke zu bringen.
„Geschenke! Maria verzog wieder das Gesicht. „Ich kann meiner Omi kein Geschenk machen.
„Nicht wieder weinen, Maria."
Melanie stand auf und nahm sie in den Arm.
„Was hältst du davon, wenn wir uns zusammen ein neues Geschenk für deine Oma ausdenken?"
„Oh, ja! Du bist so lieb!"
Hand in Hand gingen sie zurück ins Kaufhaus und in der ersten Etage kam ihnen schon die dicke Frau Weber entgegen. „Schau mal, Kind, was ich im Lager gefunden habe."
„Das ist ja so eine Tasse wie die, die ich fallen gelassen habe! Maria strahlte. „Aber mein Geld ist immer noch weg.
„Mach dir keine Sorgen. Ich werde das für dich bezahlen."
„Wirklich?" Maria sah Melanie erstaunt an.
„Wenn ich es doch sage."
„Du bist ja sooooo lieb!, wiederholte Maria und ihr kam ein Gedanke. „Bist du ein Engel?
, fragte sie.
Melanie