Mönchengladbachs historische Momente: Studien zur Stadtgeschichte
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Über dieses E-Book
Die vorliegende Arbeit hebt in zehn Studien – von den Anfängen im frühen Mittelalter bis zum Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts – die besondere historische Bedeutung Mönchengladbachs und die besondere Verknüpfung mit großer Politik und Kultur hervor. Dadurch ermöglicht sie ein besseres und tieferes Verständnis für die Mönchengladbacher Geschichte und erleichtert den Bürgern eine innigere Identifikation mit ihrer Stadt. Dazu wird die Lektüre dieser Studien dem interessierten und heimatverbundenen Leser so manches Aha-Erlebnis bescheren.
Wolfgang Brockers
Wolfgang Brockers, geboren 1950, studierte Geschichte, Philosophie und Sport in Neuß und Wuppertal. Von 1980 bis 2014 unterrichtete er an einem Mönchengladbacher Gymnasium. Seit den frühen 1960er Jahren ist er bekennender Beatles-Fan und setzt sich nun im vorgerückten Alter intensiv mit der Historie und kulturellen Bedeutung der Beatles auseinander.
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Buchvorschau
Mönchengladbachs historische Momente - Wolfgang Brockers
Vorwort
Meine Heimatstadt Mönchengladbach erscheint heutzutage vielen Auswärtigen und auch Einwohnern etwas provinziell. Seit der Gebietsreform von 1975, wodurch Mönchengladbach mit Rheydt und Wickrath zu einer großen Stadt zusammengelegt wurde, besitzt Mönchengladbach zwar eine große Fläche und gilt mit knapp 270.000 Einwohnern als respektable Großstadt, aber es gibt innerhalb des Stadtgebietes noch viele offene Flächen, insbesondere zwischen den zusammengelegten Stadtteilen. So sind im Stadtgebiet denn auch weidende Kühe noch ein ganz normaler Anblick. Wirklich großstädtisches Flair sucht man auch im Zentrum von Mönchengladbach vergebens.
Seit dem Niedergang der hiesigen Textilindustrie ist der Strukturwandel noch nicht richtig gelungen, so dass eine immer noch recht große Arbeitslosenquote die öffentlichen Finanzen stark belastet. In den Einkaufszentren etwa von Mönchengladbach oder Rheydt wird auch schnell sichtbar, dass hier die Konsumangebote für ein wohlhabendes, begütertes Bürgertum kaum mit denen in Düsseldorf oder Köln konkurrieren können. Auch hatten unsere Stadtväter bei ihren Entscheidungen, durch bauliche Maßnahmen das Erscheinungsbild unserer Stadt aufzupolieren, nicht immer eine glückliche Hand. Aktuelle Bemühungen, Mönchengladbach als Handels- und Einkaufszentrum zu positionieren, wirken angesichts der Anziehungskraft und Konkurrenz der umgebenden Metropolen Düsseldorf und Köln etwas verspätet. Immerhin wird Mönchengladbach in jüngster Zeit doch wieder attraktiver für auswärtige Firmen, was eine wachsende Zahl von Neu-Ansiedlungen belegt.
Als gebürtigem Mönchengladbacher tut es mir immer ein wenig in der Seele weh, wenn man im Ausland oder etwa in Süddeutschland genötigt ist, Mönchengladbachs Lage durch die Nähe zu Köln, Düsseldorf und Aachen erklären zu müssen. Für Fremde ist der Name Borussia Mönchengladbach von größerem Aussagewert, dagegen können sie mit der Stadt in der Regel nichts anfangen.
Das hat Mönchengladbach nicht verdient! Abgesehen davon, dass viele Bürger hier für sich u.a. durch die zahlreichen grünen Zonen in und um Mönchengladbach eine hohe Lebensqualität entdeckt haben, gibt es weitere gute Gründe, seine Heimatstadt zu schätzen, ja sogar darauf stolz zu sein. Insbesondere beim Blick auf die mehr als 1000-jährige Geschichte der Vitusstadt erweist sich Mönchengladbach wiederholt als Schauplatz und Brennpunkt großer historischer, politischer und kultureller Ereignisse. Allein aus seiner vielfach wichtigen Rolle in der Geschichte, hat sich Mönchengladbach m.E. den Ruf einer bedeutenden Stadt verdient.
Leider sind Kenntnisse über Mönchengladbachs bedeutende historische Rolle nur noch rudimentär vorhanden und nicht mehr im Selbstverständnis der Mönchengladbacher Bürger präsent. Die nachfolgende Studie versucht nun, wesentliche Vorgänge der Stadtgeschichte vor dem Hintergrund der allgemeinen historischen und politischen Entwicklung näher zu untersuchen und damit das Verständnis für die Entwicklung Mönchengladbachs und seiner besonderen geschichtlichen Bedeutung zu verbessern. Während eine isolierte Betrachtung wichtiger Ereignisse der Mönchengladbacher Geschichte oft wenig ergiebig ist oder die besondere überregionale Bedeutung nicht ausreichend erhellen kann, bietet eine Untersuchung im Kontext mit der überregionalen Geschichte oder großen Politik oft eine klareres Bild. Dazu eröffnen sich oft auch Ansätze für Erklärungen zu Fragen, die sonst, insbesondere für die Anfänge der Stadtgeschichte, in einer Sackgasse enden. Diese Arbeit erhebt nicht den Anspruch, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu liefern. Vielmehr besteht die Zielsetzung darin, auf der Grundlage vorhandenen historischen Wissens spezielle Ereignisse der Mönchengladbacher Geschichte, die von allgemeiner historischer oder überregionaler kultureller Bedeutung sind, aus der chronologischen Entwicklung herauszuheben. Für die hier vorgelegte Arbeit bot vor allem die von Wolfgang Löhr herausgegebene Stadtgeschichte „Loca Desiderata" mit ihren mehr als 2500 Seiten in vier Bänden (der dritte wurde in zwei Teilbänden herausgegeben) einen nahezu unerschöpflichen Fundus an historischen Informationen, die hier z.T. eingearbeitet wurden. Die Einbindung besonderer Ereignisse der Stadtgeschichte in einen größeren historischkulturellen Kontext soll ein besseres Bild und Verständnis der Bedeutung Mönchengladbachs bis in die jüngere Vergangenheit hinein ermöglichen.
Wenn diese Arbeit dazu beitragen kann, dass sich Leser mehr mit Mönchengladbachs Geschichte beschäftigen oder sich mit ihrer Heimatstadt stärker identifizieren, wäre dies ein schöner Lohn meiner Arbeit.
Meiner Frau Monika und meinen ehemaligen Lehrerkollegen Marcell Heinrichs und Manfred Schmitz danke ich ganz herzlich für das zeitaufwändige Korrekturlesen, was mir sehr geholfen hat, der Arbeit den richtigen formalen Schliff zu geben. In besonderer Weise bedanke ich mich bei meinem Musikkameraden Carsten Hendricks für seine enorm zeitaufwändige Hilfe beim Layout des Textes.
Mönchengladbach im Mai 2016
Inhaltsverzeichnis
Graf Balderich und der Bau der ersten Gladbacher Kirche
Zur überlieferten Gründungsgeschichte
Der geopolitische Hintergrund – im Machtzentrum des Frankenreichs
Historische Spuren des Grafen Balderich
Zum Baujahr und zu den Reliquien der ersten Gladbacher Kirche
Die Zerstörung der Balderich-Kirche durch die Ungarn
Die Gründung der Abtei Gladbach –im Spannungsfeld kaiserlicher Politik
Lothringen – zwischen kaiserlichem Machtanspruch und Unabhängigkeitsstreben des Adels
Die Gründung der Gladbacher Abtei im Kontext der historischen Ereignisse
Sandrad – Mann der Klosterreform und Parteigänger des Kaiserhauses
Die Verlegung des Gladbacher Konvents nach Köln
Das Gladbacher Münster – ein Bauwerk von europäischem Rang
Über die Architekturstile der Romanik und Gotik
Dombauhütten und ein berühmter Baumeister
Zum Neubau der Gladbacher Abteikirche
Das Münster im Wandel der Zeiten
Der Aufstieg zur Textilmetropole dank Napoleon
Als Gladbach und der linke Niederrhein französisch wurden
Gladbachs Aufstieg zur Industriestadt und Textilmetropole
Wirtschaftsboom unter französischer Herrschaft
Industrialisierung Gladbachs unter preußischer Herrschaft
Die Hochschule Niederrhein – ein Erbe der Textilindustrie
1848/49 -eine gescheiterte Revolution und Gladbach-Rheydter Animositäten
Enttäuschte Freiheitshoffnungen und reaktionäre Politik
Das katholische Rheinland – Preußens problematische neue Provinz
Konfliktlinien
Katholische Republikaner in Gladbach und königstreue Protestanten in Rheydt
1848/49 – eine halbherzige, gescheiterte Revolution in Deutschland
Die deutsche Revolution von 1848/49
Revolutionäre Unruhen und Gladbach-Rheydter Differenzen
Mönchengladbach – Wiege und Zentrum des sozialen Katholizismus
Die Kehrseite der Medaille - Not und Armut der Arbeiter
Moderne Sklaven in der Hölle der Fabriken
Die Lage der Arbeiter im Bereich der Gladbacher Industrie
Wie soll die soziale Frage gelöst werden?
Lösungsansätze für die sozialen Missstände
Antworten auf die ‚Soziale Frage‘ aus Mönchengladbach
Christliches und bürgerliches Engagement für notleidende Mitbürger
Vorbildlicher sozialer Wohnungsbau
Franz Brandts und der Volksverein für das katholische Deutschland
Gladbach und Rheydt vereint –der schwierige Prozess und ein zweifelhafter Ehrenbürger
Erfolglose erste Initiativen
Erfolgreiche Zusammenschlüsse in der Weimarer Republik
Die kleine Lösung
Die erneute Städtetrennung und die Rolle des Ehrenbürgers Joseph Goebbels
Dr. Joseph Goebbels – ehemaliger Ehrenbürger der Stadt Rheydt
Die erneute Städtetrennung
Die Kommunale Einheit durch die Gebietsreform von 1975
Mit Hitlers Nationalsozialismus in den Abgrund
Hitler formt aus einer liberalen Demokratie eine totalitäre Diktatur
Mönchengladbach unter nationalsozialistischer Herrschaft
Radikaler Umbruch der politischen Kultur
Die Gleichschaltung des öffentlichen Lebens in Gladbach-Rheydt
Verfolgte und Opfer des NS-Regimes
Zerstörung und Verwüstung der Stadt durch Hitlers Krieg
Kriegsorientierte Außenpolitik
Der Zweite Weltkrieg, Deutschlands Niederlage und Hitlers Verrat
Krieg und Zerstörung in Mönchengladbach
Das Hauptquartier – Kommandozentrale der NATO im K. Krieg
Von der Kooperation zur Konfrontation - aus Bündnispartnern werden Gegner
Die Deutschlandpolitik der Sieger und die Entstehung des Kalten Kriegs
Währungsreform, Berliner Blockade und Luftbrücke
Die Gründung der NATO und der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland
Mönchengladbach als Baustein der NATO-Verteidigungsstrategie
Die militärischen Planungen zum Schutz Europas
Mönchengladbach als neuer NATO-Standort
Das größte Bauprojekt in der Geschichte Mönchengladbachs
Führungsstruktur und gesellschaftliches Leben im HQ
Das Ende des Kalten Kriegs und s. Auswirkungen auf das JHQ
Eine neue weltpolitische Lage nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
Abzug der Militärstäbe, Neubesetzung und Schließung des Hauptquartiers
Mit Borussias Fohlen auf die europäische Landkarte
Das Phänomen Fußball – eine Herzensangelegenheit der Deutschen
Die Fohlenelf – ein Provinzclub stürmt nach oben
Bescheidene Anfänge und erste Achtungserfolge
Die Geburt der Fohlenelf – im Sturmlauf in die Bundesliga
Borussias goldene Jahre – Rekorde und Meistertitel
Stetiger Aufstieg zur Spitze
Mythos Günter Netzer und das legendäre Pokalfinale von 1973
Nationale Dominanz – drei Meistertitel in Folge
Borussia auf europäischer Bühne – Dramen und Triumphe
Europapokal der Landesmeister
Europapokal der Pokalsieger und UEFA-Pokal
Der Mythos der Borussia - Ansporn und Bürde
Anhang 1
Anhang 2
Anhang 3
Anhang 4
Anhang 5
Literatur:
Zum Verfasser:
I. Graf Balderich und der Bau der ersten Gladbacher Kirche
Mönchengladbach kann auf eine mehr als tausendjährige bewegte Geschichte zurückschauen. Allerdings liegt manches der Entstehungsgeschichte im Dunkeln. Die Anfänge Mönchengladbachs sind lediglich durch wenige historische Quellen belegt. Zwar hat sich bei den Historikern, die sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Ursprung Mönchengladbachs befassen, die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Quellen historisch weitgehend korrekt sind, doch gibt es zu manchen wichtigen Details immer noch kontroverse Auffassungen. Eine neuerliche Betrachtung solch strittiger Punkte im Zusammenhang und im Rahmen der großen politischen Geschichtsereignisse jener Zeit erlaubt dann zuweilen einen anderen Blickwinkel und eröffnet neue Interpretationsmöglichkeiten und Antworten, wie dies in jüngster Zeit der Historiker Christoph Nohn mit seiner bemerkenswerter Studie „Auftakt zur Gladbacher Geschichte" eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
In diesem ersten Teil geht es darum, die Rolle von Graf Balderich und den Bau der ersten Kirche zu erhellen sowie die Umstände der Gründung der Gladbacher Abtei, welche als Beginn der Gladbacher Stadtgeschichte gilt, zu untersuchen. Diese historischen Ereignisse des ersten Themenkreises fanden in der Zeit des karolingischen Kaisers Ludwig der Fromme, Sohn und Nachfolger Karls des Großen, und des nach ihm sich vollziehenden Zerfalls des großen Frankenreiches statt. Der zweite Themenkreis fällt in die Zeit der Entstehung des ersten deutschen Kaiserreichs der Ottonen. Deren politische Bemühungen, das Herzogtum Lothringen, in dem sich das Kerngebiet des karolingischen Reiches befand und in dem auch die Abtei Gladbach gegründet wurde, an das neue deutsche Reich zu binden, um damit die Kontrolle über die Kaiserstadt Aachen und die wichtigen Kirchenmetropolen am Rhein zu gewinnen, scheint im Zusammenhang mit der Abteigründung in Gladbach zu stehen. Darum sollen diese historischpolitischen Vorgänge zur besseren Klärung von Fragen bezüglich der Gladbacher Abteigründung herangezogen werden.
Betrachtet man die Anfänge der Gladbacher Geschichte nur aus der lokalen Brille, wirken die Vorgänge jener Zeit eher provinziell und wenig aufregend. Bei näherer Betrachtung der damaligen Zeitumstände und der politischen Lage, wird schnell deutlich, dass jeweils der lange Arm kaiserlicher Macht und Politik eine nicht unerhebliche Rolle am Anfang der Gladbacher Geschichte spielte.
1. Zur überlieferten Gründungsgeschichte
Die Entstehung der Stadt Mönchengladbach geht auf die Gründung der Benediktiner Abtei im Jahr 974 auf dem heutigen Abteiberg zurück. Unsere Informationen darüber basieren einerseits auf einem urkundlichen Rechtsdokument aus dem Jahr 1085 und andererseits aus der literarischen Quelle der christlichen Tradition „Sermo in inventione reliqquiarum sanctorum Viti, Cornelii, Cypriani et aliorum in Gladebach", einer Art Predigt oder Lesung, die wohl um 1090 erstmals durch einen anonymen Autor niedergeschrieben wurde und jahrhundertelang jeweils am 12. Juli, dem Tag der Wiederauffindung der Vitus-Reliquien, im Klosterkonvent vorgelesen oder vorgetragen wurde (vgl. Kasten in: Loca Desidirata Bd. 1, S. 278). Diese Quelle enthält die wesentlichen Informationen über die Gründung der Gladbacher Abtei und wird darum heutzutage auch einfach „Gründungsgeschichte" genannt. Außerdem bietet das Totengedächtnisbuch der Abtei Informationen über die Gründungspersönlichkeit des Balderich, der dort ausdrücklich als Graf und als einer der Vornehmen des Reiches bezeichnet wird, und dessen Frau, deren Name Hitta gewesen sei.
Der literarischen Quelle (Sermo) zufolge hatte der Kölner Erzbischof Gero einen göttlichen Auftrag erhalten, auf einem bewaldeten Hügel in der Nähe eines Baches ein Kloster zu Ehren des Hl. St. Vitus zu gründen. Gero und der als Abt designierte Mönch Sandrad glaubten zunächst, rechtsrheinisch in Leichlingen an der Wupper den richtigen Ort gefunden zu haben. Während der Vorbereitungen zur Klostergründung erschienen dort aber zwei Boten des neuen Kaisers Otto II., die vom Erzbischof mit einem Mahl bewirtet wurden. Dabei sei dann ein Streit zwischen den beiden Gästen ausgebrochen, wobei der Geistliche leicht verwundet wurde und sofort daran verstorben sei. Gero habe darin ein göttliches Zeichen erkannt, dass dies nicht der richtige Ort sei, und habe darauf weiter nach einem passenden Ort gesucht, bis er schließlich im linksrheinischen Mülgau einen unbewirtschafteten, bewaldeten Hügel fand, auf dem noch einige Ruinen einer alten Kirche und anderer Gebäude zu finden waren. Dort lebende ältere Leute hätten Gero und Sandrad bei ihrer Ankunft erzählt, zur Zeit Karls des Großen hätte dort ein gewisser Balderich aus dem Kreis der Vornehmen des Reiches eine Kirche gegründet und sie mit kostbaren Reliquien und reichen Einkünften ausgestattet. Diese sei aber im 19. Jahr der Regierung Kaiser Ottos I. von Ungarn zerstört worden. Den Hütern der Kirche sei es allerdings noch vor dem Überfall gelungen, die Reliquien in einem ausgehöhlten Stein zu verstecken und zu vergraben. Am unterhalb des Hügels fließenden Bach habe Sandrad dann erkannt, dass es sich um den gewünschten Ort aus Geros Traumbild handelte. Beim ersten Spatenstich der folgenden Klostergründung habe man den dort vergrabenen hohlen Stein mit den Reliquien der Heiligen Vitus, Cornelius, Cyprianus, Chrysantus und Barbara (Daria) gefunden. Gero habe dann Mönche zusammengerufen, Sandrad zum Abt der neuen Klostergemeinschaft gemacht und das Kloster mit reichen Einkünften ausgestattet. Das Kloster soll zunächst einen großen Aufschwung genommen haben, aber nach Geros Tod habe dessen Nachfolger Warin den Abt Sandrad vertrieben, weil Sandrad angeblich dem Bischof von Lüttich gegenüber, in dessen Diözese die Abtei damals lag, ergebener gewesen sei als ihm. Sandrad sei demnach zur Kaiserin Adelheid geflüchtet und später durch göttlichen Willen und durch die Fürsprache der Kaiserin Adelheid wieder als Abt in der Gladbacher Abtei eingesetzt worden. Aber in der Zwischenzeit seien der Konvent gesprengt und die Reliquien sowie das Vermögen verschleudert worden, so dass der Abt und sein zurückkehrender Konvent in größter Armut hätten leben müssen.
Dies ist in verkürzter Form der wesentliche Inhalt der Gründungsgeschichte. Sie enthält konkrete historische Fakten, aber auch christlichreligiöse Elemente. Dort, wo von göttlichem Willen oder göttlicher Eingebung die Rede ist, tut man wohl gut daran, eine gesunde Skepsis walten zu lassen und eine rationalere Erklärung zu suchen. Gemäß den Sachinformationen gab es offenkundig schon vor der Abteigründung auf dem Abteiberg eine Ansiedlung und eine angeblich von Graf Balderich gestiftete Kirche. Doch dieser Balderich und seine Kirchengründung, seine Frau Hitta aber auch der genannte Ungarnüberfall werden von vielen Historikern noch oft in Frage gestellt, obwohl der Gründungsgeschichte eine weitgehend historische Korrektheit zugebilligt wird. So schreibt B. Kasten „Die Person des Kirchenerbauers Balderich ist historisch nicht nachweisbar (Kasten in: Loca Desidirata, Bd. 1, S. 280) und bei W. Löhr, dem anerkannten Experten für die Gladbacher Geschichte, heißt es: „Wer nach Balderich sucht, findet niemanden dieses Namens in der Umgebung des Frankenkaisers
(Löhr, 2009, S. 18). Dagegen deutete N.A. Holtschoppen 2008 immerhin die Möglichkeit einer Verwandtschaft des Gladbacher Balderichs mit den Lütticher Bischöfen gleichen Namens aus dem 11. Jahrhundert an und verwies auf eine wiederholte Nennung des Namens Balderich und einer Hitta im Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau im Bodensee (vgl. Nohn, 2011, S. 122). C. Nohn zeigt in seiner Studie sogar eine erstaunliche Indizienkette auf, die einen Grafen Balderich als prominente und herausragende historische Persönlichkeit aus dem engeren Machtzirkel von Karl dem Großen und seines Nachfolgers Ludwig dem Frommen aus dem Dunkel der Geschichte hervortreten lässt.
Nachfolgend soll nun versucht werden, die historische Person des Balderich aus dem Dunkel der Geschichte mehr ans Licht zu heben und Fragen bzgl. der Reliquien und des ersten Kirchenbaus sowie seiner Zerstörung im historischen Kontext zu untersuchen. Um mehr Klarheit über den Beginn der Gladbacher Stadtgeschichte und der dabei beteiligten Personen zu erhalten, erscheint es lohnenswert, die erwähnten historischen Fakten im Zusammenhang mit der Gladbacher Geschichte näher zu betrachten.
2. Der geopolitische Hintergrund – im Machtzentrum des Frankenreichs
Die Mönchengladbacher Gegend war in jener Zeit unter dem Namen „Mülgau bekannt und war schon Teil des Frankenreichs vor dessen Expansion zu der europäischen Großmacht. Der Mülgau gehörte zum merowingischen Großgau „Hattuaria
und war im Westen durch das Maas- und Rurtal, im Osten durch die Niers und im Süden begrenzt. Mülfort markiert etwa die südlich Grenze, während die nördliche unklar ist (vgl. Löhr, 2009, S. 22). Die Bedeutung der Bezeichnung „Mülgau ist bis heute nicht geklärt; der Begriff „comitatus Moilla
(Grafschaftsbezirk Moilla) tritt erstmals in der Reichsteilungsurkunde des Kaisers Ludwigs des Frommen aus dem Jahr 837 auf. Erklärungsversuche des Namens beziehen sich etwa auf das Vorhandensein vieler Mühlen an den hiesigen Flüssen und Bächen oder auf den seit römischer Zeit wichtigen Niersübergang von Mülfort. Es ist auch möglich, dass „Moilla die alte römische Bezeichnung für die Niers oder die Niersgegend war, dann wäre die Bezeichnung Mülfort wohl auch als „Niersfurt
zu verstehen.
Seit dem 6. Jahrhundert war das Frankenreich unter der Herrschaft der Merowingerkönige trotz ständiger interner Intrigen und Machtkämpfe zum Großreich und zur führenden Macht Europas aufgestiegen. Die Führung der Staatsgeschäfte überließen die Merowingerkönige schon früh einem höchsten Beamten, dem Hausmeier (majordomus), so dass die Hausmeier die faktische Herrschaft ausübten. Das Amt des Hausmeiers war seit Mitte des 7. Jahrhunderts erblicher Besitz der Pippinidensippe geworden. Durch die Heirat Pippins des Mittleren mit der später als Heiligen verehrten Irmina gelang dieser Sippe ein enormer Landgewinn von der Mosel durch die Eifel bis an die untere Maas und an den Niederrhein. Damit verbesserte sie ihre Macht- und Besitzbasis ganz entscheidend.
„Ihre (der Heirat) für das Rheinland wichtigste Folge war, dass die frühen Karolinger bis hin zu Ludwig dem Frommen sich hier zuhause fühlten und das Gebiet zwischen Mosel, Maas und Rhein zur Achse ihres fast das ganze Abendland umspannenden Reiches machten. Niemals zuvor und niemals mehr nachher hat dieser Raum solchermaßen im Zentrum des politischen Kräftespiels und Gestaltungswillens gelegen" (Janssen, 1997, S.46).
Nachdem Karl Martell 719 Friesland für das Frankenreich erobert hatte, haben die dort ansässigen Eliten, sofern sie Parteigänger der Franken waren, höchstwahrscheinlich davon in der Form profitiert, dass sie als Getreue Gebietszuwachs erhielten. Für die künftige Sicherung der fränkischen Macht spielten fortan das neue kirchliche Zentrum Utrecht und auch die Handelsniederlassung Dorestad eine wichtige Rolle. Durch diese Vorgänge wurde das mittlere Rhein-Maas-Gebiet an das niederländische Flussgebiet angekoppelt. Im Jahr 751 setzte der Hausmeier Pippin der Jüngere, der Vater Karls des Großen, mit Zustimmung des Papstes den schwachen Merowingerkönig ab, machte sich selbst zum Frankenkönig und begründete damit das Karolinger-Reich. Das Gebiet zwischen Mosel, Maas und Rhein, wozu auch der Gladbacher Mülgau gehörte, wurde somit zum Machtzentrum des fast ganz Europa umfassenden Reichs Karls des Großen.
In der Folge wandelten sich die hier ansässigen Adelsfamilien, auf die sich das neue Königsgeschlecht bisher schon gestützt hatte, zu einer neuen Reichsaristokratie. Sie besetzten darauf – auch weit über ihre Stammgebiete hinaus – die wichtigsten Machtpositionen im Reich, um die Interessen der Könige und ihre eigenen zu vertreten. Diese Familien hoben sich nun durch weit ausgedehnten und gestreuten Besitz vom alten landschaftsgebundenen Adel ab und bildeten nun neben dem Königtum die zweite aristokratische Komponente des fränkischen Reiches, woraus dann später die großen europäischen Dynastenfamilien des Mittelalters hervorgehen sollten (vgl. Janssen, 1997, S.47).
In Anlehnung der Verwaltung der Merowingerzeit wurde das Reich in Grafschaften eingeteilt, innerhalb derer die Grafen (comites) die Rechte des Königs auf militärischem, jurisdiktionellem und polizeilichem Gebiet wahrnahmen. Ein Graf verfügte so über große Machtbefugnisse; er hielt die öffentliche Ordnung aufrecht, zog Abgaben und Bußgelder ein und leitete die Gerichtsversammlung. Zur Zeit Karls des Großen gab es ca. 300 Grafschaften, doch ist es unwahrscheinlich, dass das gesamte Reich lückenlos in Grafschaften gegliedert war, und es ist fraglich, ob alle Grafen die gleichen Machtbefugnisse hatten. So sind für das Gebiet des Niederrheins der Gill- und Mülgau bezeugt; für das fast menschenleere Bergische Land ist dagegen kein Gau bekannt. Eine Sonderstellung nahmen die Markgrafen ein, die mit besonderen Befugnissen ausgestattet in umkämpften Grenzgebieten des Reiches eingesetzt wurden. Bei der Ernennung der Grafen, konnten die Könige anfangs frei entscheiden. Später mussten sie Grafen aus dem ortsansässigen Adel wählen. Die daraus resultierende Regionalisierung hatte schon König Chlothar II. im Jahr 614 in einem Edikt anerkennen müssen (vgl. Janssen, 1997, S.40 f.). Das Amt des Grafen war sehr begehrt und so war der Adel bemüht, möglichst viele Grafschaften in die Hand der Familie zu bekommen. Seit dem 9. Jahrhundert sind auch Bemühungen um eine Vererbbarkeit zu beobachten. Diese Tendenz versuchte Karl der Große aber nach Kräften einzudämmen. Grundsätzlich konnte der König einen Grafen bei schlechter Amtsführung auch abberufen, was aber recht selten geschah.
Mit der Herrschaft und den Eroberungen Karls des Großen (768-814) erreichte das Frankenreich seine größte Ausdehnung und Macht. Unter seinem Nachfolger Ludwig dem Frommen konnte zwar die Einheit des Reiches noch bewahrt werden, doch begannen trotz bester Absichten unter seiner Herrschaft schon Niedergang und Zerfall, was maßgeblich mit seiner Wankelmütigkeit in seiner Erbfolgeregelung zu tun hatte. Dies führte zu einer Palastrevolte und einer Rebellion der unzufriedenen Söhne, wobei Ludwig 833 sogar zwischenzeitlich abgesetzt wurde. Außerdem wurde das Frankenreich während seiner Herrschaft von slawischen Stämmen im Osten bedroht, im Süden wurde die Grenzmark Kärntens von Slawen und Bulgaren angegriffen. Im Norden gab es Kämpfe gegen die Dänen und außerdem verwüsteten die seeräuberischen Wikinger Gebiete in Friesland und an der Atlantikküste. Zeitweilig griffen sie gezielt die christlichen Zentren wie Klöster und Kirchen an, womit sie die karolingische Herrschaft regional vorübergehend zu Fall brachten. Sie profitierten von der Krise des Reiches. Dem setzte Kaiser Ludwig hauptsächlich Missionstätigkeit entgegen, was u.a. immerhin dazu führte, dass im Rahmen der Dänenmission das Bistum Hamburg gegründet wurde, der dänische König Harald sich taufen ließ und Ludwigs Gefolgsmann wurde (vgl. Riché, 1997, S. 193). Überhaupt ging es Ludwig vorrangig um eine stärkere Christianisierung der Reichsvölker, was er als wichtigstes Mittel zur politischen Integration ansah. Nach dem Tod Ludwigs des Frommen versank das Reich in äußerst brutalen und blutigen Machtkämpfen zwischen Ludwigs Söhnen Lothar, Ludwig und Karl. Die gewaltige und überaus verlustreiche Schlacht von Fontenoy-en-Puisage, in der Kaiser Lothar den anderen Söhnen Ludwigs des Frommen unterlag und in der die Blüte des fränkischen Adels dahinsank, markiert schließlich den Niedergang des Karolingerreiches.
„ In dieser Schlacht wurden die Streitkräfte der Franken so aufgerieben und ihre glorreiche Heldenkraft so sehr geschwächt, dass sie in Zukunft nicht mehr imstande waren, die eigenen Grenzen zu schützen, geschweige denn zu erweitern" (Chronist Regino von Prüm in: Schreiber 1984, S. 279).
Schließlich kam es 843 in Verdun zu einer vertraglichen Einigung, wodurch das Reich in drei Teile geteilt wurde. Der älteste Sohn Lothar erhielt das Mittelreich (Lotharingien), ein lang gestrecktes Gebiet, das von der Nordsee bis zur Küste der Provence reichte sowie Nord- und Mittelitalien umfasste, wodurch die alten karolingischen Kerngebiete mit der Kaiserstadt Aachen und auch Rom zu seinem Reich gehörten. Ludwig (der Deutsche) erhielt das Ostfrankenreich östlich des Rheins, woraus das erste deutsche Kaiserreich entstehen sollte, während Karl (der Kahle) das Westfrankenreich bekam, was den Beginn Frankreichs markierte. Als schließlich Lothar 855 starb, teilten seine drei Söhne das Mittelreich unter sich auf, woraus die