Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Königsmord: ReiseführerKrimi Husum/Nordfriesland
Königsmord: ReiseführerKrimi Husum/Nordfriesland
Königsmord: ReiseführerKrimi Husum/Nordfriesland
eBook330 Seiten4 Stunden

Königsmord: ReiseführerKrimi Husum/Nordfriesland

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es ist wie immer. Nordfriesland im Dämmerschlaf seiner ländlichen Abgeschiedenheit. Das Land liegt platt und windgebeutelt. Man sieht schon heute, wer morgen zum Kaffee kommt. Alles hat seinen geregelten Gang. Ebbe und Flut kommen und gehen seit ewigen Zeiten, genauso wie Saat und Ernte, Güllewagen und Mähdrescher und, dem Herrn sei's gedankt, auch die Touristen.
Doch jäh wird dieser Dornröschenschlaf gestört. Der König wird ermordet. Kein wirklicher König, sondern der Ringreitkönig von Hattstedt. Und der Hauptverdächtige ist samt seinem Pferd wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich tut sich in der vermeintlichen Idylle ein Abgrund auf, ein Sündenpfuhl aus Unmoral und Heimtücke, Missgunst, Betrug und organisierter Kriminalität. Nicht einmal der ehrwürdige Theodor Storm, gehätschelter Dichtervater der "grauen Stadt am Meer", bleibt davon verschont und sorgt mit einem bisher unbekannten, geheimnisvollen Gedicht für den Schlüssel zur Auflösung.
Ausgerechnet einem abgehalfterten , in der Einöde der Bedeutungslosigkeit gestrandeten Großstadt-Journalisten ist es vergönnt, im Zentrum des Geschehens herumzustolpern.
Zum Schrecken von Polizei, organisierter und unorganisierter Verbrecherschaft, missgünstig sich belauernder Verdächtiger, ertappter Liebhaber und schließlich auch des Täters selbst, wird er zur Hauptfigur der Fahndung.
Marius del Mestre ist es wunderbar gelungen, augenzwinkernd sowohl wunderliche einheimische Kommunikationsrituale wie auch die gesellschaftliche Brisanz plötzlicher Aufbrüche in der Langeweile geregelten Landlebens unterhaltsam darzustellen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Juni 2016
ISBN9783933305428
Königsmord: ReiseführerKrimi Husum/Nordfriesland

Ähnlich wie Königsmord

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Königsmord

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Königsmord - Marius del Mestre

    Marius del Mestre

    Königsmord

    Print 5. Auflage 2016

    E-Book 1. Auflage 2016

    © Ahead and Amazing Verlag, Ostenfeld 2003

    erschienen in der Edition Leuchtfeuer

    Alle Rechte vorbehalten.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Titelseite:

    Zeichnung: Manfred Nestler

    Gestaltung: Sundance

    Layout: Indigo Kid

    Druck und Bindung: PRESSEL Digitaler Produktionsdruck, Remshalden

    ISBN (Print): 978-3-933305-51-8

    ISBN (E-book): 978-3-933305-42-8

    Ahead and Amazing Verlag, Jelinski GbR, Magnussenstr. 8, 25872 Ostenfeld

    www.aheadandamazing.de

    Inhaltsverzeichnis

    Königsmord

    Widmung

    Disclaimer

    Das Gedicht

    eins

    zwei

    drei

    vier

    fünf

    sechs

    sieben

    acht

    neun

    zehn

    elf

    zwölf

    dreizehn

    vierzehn

    fünfzehn

    sechzehn

    siebzehn

    achtzehn

    neunzehn

    zwanzig

    einundzwanzig

    nachwort

    Spielregeln für ‚Albanisches Poker'

    Danke

    Widmung

    Für Schneckelein, auch

    wenn sie leider nicht mehr mein

    Schneckelein ist

    Disclaimer

    Die folgende Handlung und ihre Protagonisten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit noch lebenden oder schon toten Personen ist rein zufällig.

    Das Gedicht

    In der Gruft bei alten Särgen

    Zu des Klosters kühlen Stufen

    Ein vergessenes Geheimnis

    Das niemand sollte jemals suchen

    Hüte, hüte Fuß und Hände

    Eh sie berühren das ärmste Ding

    Denn du zertrittst eine hässliche Raupe

    Und tötest den schönsten Schmetterling

    eins

    Moin!, grüßte mich Clausen, der Hattstedter Bürgermeister und streckte mir seine breite Bauernhand entgegen.

    „Moin, Moin!", erwiderte ich mechanisch das nordfriesische Begrüßungsmantra und schüttelte sie.

    „Nu is die Presse auch da, dann solln wir ja mal anfangen und sehn, wer dies Jahr König wird..." Ein breites offenes Lächeln zog sich über Clausens gesunde rote Wangen.

    Ich nickte und sah mich um: auf dem abgezäunten Feld in der Hattstedter Marsch standen sich etwa dreißig Pferde und die dazugehörigen Reiter in Reih und Glied die Beine in den Bauch. Sie warteten darauf, dass das Kommando zum Aufsitzen aus den Lautsprechern tönen und das diesjährige Amtsringreiten beginnen würde.

    Im Hintergrund sah man die B 5, auf der sich, wie jeden Sommer, eine unendliche Kette von Urlaubern in ihren Autos gen Norden kämpfte. Ein immer wiederkehrender Pilgerzug an die Gestade der Nordsee, wo man früher unter anderem von der Strandräuberei gelebt hatte und jetzt im Grunde immer noch – nur dass die Methoden, den Fremden das Geld aus der Tasche zu ziehen, verfeinert worden waren. Die Opfer gaben es freiwillig heraus, indem sie Fremdenzimmer und Kurtaxen bezahlten; ganz ohne dass man ihnen erst die Kehlen durchschneiden musste.

    Sowohl Menschen als auch Tiere auf dem Reitplatz waren festlich herausgeputzt an diesem diesigen Sommermorgen. Die Pferde hatten zu kunstvollen Zöpfen eingeflochtene Mähnen und Schweife und ihr Fell glänzte wie frisch gefettet. Die Reiter trugen weiße Reithosen unter blank gewienerten Stiefeln, dunkle Jacken und darüber gelbe und rote Schärpen, an denen man sehen konnte, wer aus Hattstedt selbst und wer aus „der Stadt" Husum kam.

    Clausen befand sich in Begleitung eines Mannes in ‚städtischer’ Kleidung, den er mir als Dr. Hans Brix, den neuen Leiter des Theodor-Storm-Hauses und des dazugehörigen Archivs vorstellte. Wir grüßten uns freundlich, wechselten ein paar Worte und waren uns auf Anhieb sympathisch. Brix war Ende vierzig, mittelgroß, hatte seine gepflegten langen, grauen Haare hinten zu einem Zopf zusammengebunden, wirkte wie ein alt-68er Bilderbuchintellektueller und hatte die auffallende Angewohnheit, seine Augen ständig seltsam zusammenzukneifen. Ich wusste, dass er seit etwa zwei Monaten die Leitung des Storm-Hauses übernommen hatte und vorher als Literaturwissenschaftler an der Uni Kiel tätig gewesen war. Als Einstand hatte er in Rekordzeit ein großes Storm-Festival in Form eines publikumswirksamen Multimedia-Projektes aus dem Boden gestampft, dessen Premiere schon dieses Jahr stattfand. Die Husumer Zeitung plante eine große Sonderausgabe zu diesem Anlass, an deren stormspezifischen Inhalten ich allerdings nicht übermäßig stark beteiligt war. Dafür waren meine Kollegen Irene Tudsen und Herman Erlmeier, mit dem mich eine herzliche Abneigung verband, zuständig. Deshalb hatten Brix und ich uns noch nie persönlich getroffen. Die Veranstaltungen sollten am folgenden Wochenende beginnen und dementsprechend nervös war Brix: „Wirklich schön, Sie kennen zu lernen, Herr Ritter. Ein paar Ihrer Kollegen hab ich ja schon getroffen – aber die hatten eine andere ... na ja, Wellenlänge."

    Ich ahnte, wovon er sprach.

    „Ich weiß wirklich nicht, wo mir der Kopf steht, fuhr er fort. „Dieses Storm-Festival frisst mich regelrecht auf. Und heute hab ich auch noch meine Brille zu Hause liegen lassen. Es ist einfach grauenhaft!

    Deshalb also das seltsame Zusammenkneifen der Augen.

    „Ja, das glaub ich Ihnen gerne, erwiderte ich. Wenn ich irgendwas für Sie tun kann – pressemäßig ...

    „Das können Sie ganz sicher – und ich wäre Ihnen sehr dankbar – wir sollten uns unbedingt mal in Ruhe zusammensetzen. Am besten noch die Tage."

    „Jederzeit – rufen Sie mich einfach an."

    Ich gab ihm meine Karte. Er suchte umständlich in seiner Tasche, wobei er sich – immer wieder die Augen zusammenkneifend – nach irgendetwas umzusehen schien, fand schließlich ein hübsches, altes, silbernes Zigaretten-Etui, dem er eine Karte und einen Zigarillo entnahm. Er bot mir auch einen an.

    „Nein, danke, sagte ich. Er zündete sich den Zigarillo mit einem Streichholz an und wollte gerade noch etwas sagen, aber da kam schon Bürgermeister Clausen, nahm Brix am Arm und zog ihn mit friesischer Vertraulichkeit von mir fort: „Komm, Herr Brix – ich muss Dir da unbedingt noch wen vorstellen.

    „Ich ruf Sie an!", verabschiedete sich Brix.

    Ich winkte: „Tun Sie das."

    Die Sonne hatte es noch nicht ganz geschafft, den Morgendunst, der über der tellerflachen Landschaft lag, verdampfen zu lassen. Aber sie schien wunderschön blassgelb hindurch, tauchte das Land in ein verwunschenes, märchenhaftes Licht, und aus den Nüstern der Pferde stiegen, wenn sie schnaubten, kleine Wölkchen nebelgewordenen Lebens. Einige der Tiere zappelten nervös herum, scharrten mit den Hufen oder fingen aus lauter Langeweile eine kleine Beißerei mit dem Nachbarpferd an; andere standen stoisch und abgeklärt. Sie wussten, was auf sie zukam: in der Reihe der Artgenossen warten, abwenden, angaloppieren, zwischen den beiden knapp vier Meter hohen Stangen, dem „Galgen hindurch, zwischen denen an einer aufgespannten Schnur mittels eines Magneten ein eiserner Ring befestigt war. Diesen musste der Reiter mit einer spitzen, etwa einen Meter langen Lanze aus Holz oder Aluminium zu „stechen versuchen. Drei Galoppsprünge vor dem Galgen, drei dahinter, durchparieren zu Trab und Schritt, einreihen, warten bis zum nächsten Durchgang. Von halbstündigen Mittags- und Kaffeepausen unterbrochen, würde das bis zum Nachmittag so gehen, bis der Reiter, der die meisten Ringe und schließlich auch die meisten (viel kleineren) Königsringe gestochen hatte, die Königsschärpe und sein Pferd einen Eichenkranz umgelegt bekommen würde und wieder einmal festgestellt war, welcher der umliegenden Orte die besten Ringreiter hatte.

    Schleswig Holstein ist wahrscheinlich das einzige deutsche Bundesland, in dem sich der Überrest eines ritterlichen Reiterspiels als Nationalsport so unverfälscht erhalten hat, und Nordfriesland ist die Hochburg. Das Ringreiten im Allgemeinen und das Amtsringreiten im Besonderen haben hier einen ähnlich hohen Stellenwert wie, sagen wir, Sumo-Ringen in Japan – es ist ein Ritual, es ist wichtig; es geht um Ruhm und Ehre, und König zu werden zählt etwas. Interessanterweise gibt es Ringreiten auch auf Mallorca, wo es eine ebenso lange Tradition hat wie im äußersten Norden Deutschlands. Ob die Bewohner der Balearen friesische Vorfahren haben und die Geschichte des Ballermanns neu geschrieben werden muss oder umgekehrt, bleibt allerdings im historischen Dunkel verborgen.

    Tatsache ist, dass das nordfriesische Ringreiten nicht nur ein sportliches, sondern auch und insbesondere ein gesellschaftliches Ereignis ist. Und ebenso wie es darum geht, möglichst viele Ringe auf die Lanze zu bekommen, wird – ähnlich wie am Ballermann – registriert, wie viele „Kleine Feiglinge" ein Reiter zu sich nehmen kann, ohne alkoholbenebelt vom Pferd zu fallen. Offiziell wurde das exzessive Trinken zu Pferd vor einigen Jahren zwar verboten, nachdem es zu unschönen Unfällen gekommen war, wenn sich die fröhliche Reiterschar nach der Krönung sturzbetrunken reitend vom Festplatz auf den Heimweg begeben hatte, aber der Nordfriese an sich ist beharrlich im Festhalten an Traditionen und so hat sich dieser Brauch – wenn auch abgeschwächt – erhalten.

    Ich unterdrückte ein Gähnen. Acht Uhr war am Sonntag nicht wirklich meine Zeit und ich hatte mich auch nicht wirklich darum gerissen, den Bericht über dieses Ereignis zu schreiben, handelte es sich doch nicht gerade um eine journalistische Herausforderung. Im Grunde musste ich nur den Textbaustein „Ringreiten" abrufen und die entsprechenden Namen einsetzen. Vielleicht nicht einmal das, denn Kai Petersen, der Besitzer eines Reitstalles in Horstedt, einem Nachbarort Hattstedts, war schon zwei Jahre hintereinander König geworden und alles sah danach aus, als würde er dieses Jahr den Pokal endgültig mit nach Hause nehmen können. Im Moment stand er etwas abseits und unterhielt sich mit ein paar südländisch aussehenden Männern.

    Berichte über das Ringreiten waren immer gleich: zahlreiches Publikum, rege Teilnahme der örtlichen Reiter, spannende Entscheidung, König wurde. .., Dank an den Veranstalter und die lokalen Geschäftsleute, die das Ganze sponserten.

    Ich unterdrückte ein weiteres Gähnen. Obwohl ich nun schon seit gut drei Jahren hier lebte und arbeitete, musste ich mir immer mal wieder ins Gedächtnis rufen, dass ich nicht mehr für ein weltweit beachtetes Hamburger Nachrichtenmagazin arbeitete und eine glänzende Karriere als investigativer Journalist ausbaute, sondern als Lokalreporter für die „Husumer Zeitung" tätig war, einem soliden seriösen Kleinstadtblatt, das allerdings in keinem Londoner Presseclub diskutiert wurde und in keinem New Yorker Village-Coffeeshop auslag. Um ehrlich zu sein, rief ich mir das auch eher ungern ins Gedächtnis. Ich war dumm gewesen, ich hatte den falschen Leuten vertraut, ich hatte mich zu weit aus dem Fenster gelehnt, und niemand hatte mich festgehalten, als ich herausgefallen war. Ziemlich zur selben Zeit war meine damalige Beziehung in die Brüche gegangen, genauer – ich war wegen eines anderen verlassen worden und zwar auf sehr unfaire Art. Tough luck.

    Nun hatte ich mich hier ins äußerste nördliche Ende des Landes zurückgezogen und wartete darauf, dass ... – tja – worauf wartete ich eigentlich? Ich wusste es nicht so genau. Ich bildete mir stattdessen lieber ein, dass es mit Ende Dreißig in Ordnung war, ein ruhiges, relativ angenehmes Leben auf dem Land zu führen und dass mir der Rest der Welt im Grunde eher egal wäre. Meistens funktionierte das ganz gut; und es stimmte ja auch: Ich lebte in einer hübschen Wohnung in einem hübschen Häuschen im Grünen am Rande Husums, Theodor Storms Grauer Stadt am Meer, und hatte es beruflich mit überschaubaren Ereignissen, wie beispielsweise dem Hattstedter Amtsringreiten, zu tun ... War das alles? Ja. Das war alles. Ich begann, schlechte Laune zu bekommen.

    Glücklicherweise rissen mich Dörte und Udo aus diesem unangenehmen Gedankengang:

    „Moin, Adrian!", flötete Dörte und drückte mir ein Küsschen auf.

    „Hi, Alter! Udo grinste und nickte mir zu „Was machst du denn hier?

    „Ich arbeite", antwortete ich und versuchte, motiviert zu lächeln.

    „Du weißt doch gar nicht, was arbeiten ist!" Dörte stupste mich kumpelhaft.

    Sie hatte den drallen blonden Charme des friesischen Landmädchens und man konnte ihr nicht böse sein. Bevor sie mich weiter mit pointierten Frechheiten bedenken konnte, musste sie ihrem dreijährigen Sohn Morris nachjagen, der gerade mitten zwischen die Pferde gerannt war und einen kleinen Tumult unter den wartenden Ringreitern ausgelöst hatte.

    Udo lächelte und klopfte mir auf die Schulter: „Sie meint’s nicht so."

    „Ich weiß, gab ich versöhnlich zurück. „Wie weit seid ihr mit dem Haus?

    „Hab letzte Woche bei drei Zimmern und der Küche erstmal die Fußböden reingesemmelt – Schweinearbeit. Na ja, jetzt noch Fußleisten und ein paar tausend Kleinigkeiten, dann sind wir fertig. In jeder Beziehung."

    Er sah etwas abgearbeitet, aber stolz aus.

    „Prima" sagte ich, weil mir plötzlich nichts Besseres einfiel. Ich bewunderte Dörte und Udo insgeheim. Sie waren jünger als ich, hatten es aber schon sehr viel weitergebracht: Heirat, Kind, Haus – alles verlief in beneidenswert geordneten Bahnen. Und tief drinnen wusste ich, dass ich nie so leben würde. Nicht mehr in diesem Leben jedenfalls, und ich war nicht immer sicher, ob mich das störte oder nicht.

    Dörte kam zurück, etwas außer Atem, aber unerschütterlich gut gelaunt: „Hast du Lust, kurz auf Morris aufzupassen? Dann können wir uns mal umsehen..." Morris grinste mich an, hielt sich einen Fotoapparat verkehrt herum vor die Augen und drückte den Auslöser. Es blitzte direkt in sein Gesicht. Ich wollte mich schon breitschlagen lassen, aber zum Glück rief genau in diesem Moment Bürgermeister Clausen die Reiter zu den Pferden und eröffnete das neunundsiebzigste Hattstedter Amtsringreiten.

    „Tut mir leid – würd ich gerne machen, aber ich muss arbeiten – wir sehn uns!" Ich grinste Dörte an, zwinkerte Udo zu und ging nach vorne an den Turnierplatz.

    Inzwischen hatte sich das übliche zahlreiche Publikum eingefunden und ländliche Feststimmung manifestierte sich in fröhlichen Schnackrunden, in denen man sich begrüßte und Neuigkeiten aus dem Dorfleben austauschte. Auch ein paar Touristen hatten sich auf den Platz verirrt. Man erkannte sie an ihren bunten Plastikregenjacken – gerne im Partnerlook getragen – und am interessierten, stets irgendwie suchenden Blick. In Zelten am Rand des Platzes gab es Kaffee, Bier und kleine Schnäpse; auf einem großen runden Schwenkgrill brutzelten die ersten Würstchen und Nackensteaks. Inzwischen hatte es auch die Sonne geschafft, den Morgendunst zu vertreiben. Die Reiter hatten Aufstellung genommen, ebenso wie die Helfer, die rechts und links an den Galgen dafür sorgten, dass die Ringe in der richtigen Höhe für das jeweilige Pferd-Reiterpaar hingen, die sie aufsammelten und für die folgenden Reiter wieder anbrachten. Der Bürgermeister hatte seine Eröffnungsrede beendet und alles wartete ungeduldig darauf, dass es losgehen würde, aber eins der Pferde stand noch ohne Reiter da. Es war die weiße Holsteiner Stute von Kai Petersen, dem amtierenden König aus Horstedt. Schimmel sind selten unter Holsteinern – sie gelten als Fehlfarbe und sind in der Zucht nicht erwünscht. Holsteiner Warmblüter sind fast immer braun, mit wenigen weißen Abzeichen. Aber Kai Petersen ritt ein Ausnahmepferd, das überall auf den ländlichen Turnieren Schleifen und Pokale sammelte. Ich ließ meinen Blick in die Runde schweifen und fand Petersen immer noch im Gespräch mit den südländisch aussehenden Männern, und jetzt heftig gestikulierend. Offensichtlich stritt man sich. Auch Hans Peter Petersen, sein jüngerer Bruder, ritt einen Schimmel aus derselben Zuchtlinie, von dem er jetzt abstieg, um Kai zu holen. Verwunderte Blicke aus dem Publikum folgten ihm. Jetzt merkte Kai, dass er beobachtet wurde. Er war ein großer, schlaksiger Mann, Mitte Dreißig, gut aussehend, aber sein Gesicht verriet, dass er vermutlich zu wenig schlief und zu viel trank. Mit einer heftigen Geste beendete er die Diskussion und ließ seine Gesprächspartner stehen.

    Ungewöhnliches Publikum für ein Ringreit-Turnier, dachte ich, denn eigentlich sieht man diese Sorte Jungs eher auf der Husumer Neustadt als auf dörflichen Festen, verfolgte den Gedanken aber nicht weiter. Die Brüder Petersen saßen jetzt auf und das Turnier begann.

    Reiter um Reiter galoppierte unter dem Galgen durch, erwischte den Ring oder verfehlte ihn und löste damit bewundernde „Ah- oder bedauernde „Oh-Rufe aus. Pauschal kann man sagen, dass derjenige die besten Chancen hat, dessen Pferd in der Lage ist, langsam zu galoppieren. Je schneller das Pferd ist, desto weniger Zeit hat der Reiter zum Zielen – ein gutes Ringreitpferd weiß das und so kommt es, dass man nicht unbedingt gut reiten können muss, um am Ringreiten teilzunehmen – gesetzt den Fall, man hat ein Pferd, das weiß, worum es geht. Deshalb werden gute Ringreitpferde auch oft verliehen und „machen" während einer Saison perse Könige in verschiedenen Gemeinden. Die Holsteiner Stute von Kai Petersen war ein hervorragendes Ringreitpferd und konnte geradezu in Zeitlupe galoppieren, wenn es sein musste. Deshalb war es auch kein Wunder, dass er vor dem entscheidenden Königsreiten, dem Höhepunkt der Veranstaltung, mit der mit Abstand höchsten Anzahl von möglichen Ringen weit vorne lag.

    Vor das Königsreiten hat die nordfriesische Tradition allerdings die Mittagsstunde gestellt: Während die Pferde getrenst und gesattelt von meist jugendlichen Helfern betreut wurden, stärkten sich die Reiter und Reiterinnen und tranken sich noch ein letztes Mal Mut an, bevor sich entscheiden würde, wer von ihnen heute als König heimreiten durfte.

    Ich saß mit Udo und Dörte auf einer Campingbank an einem der langen Tische und hatte gerade einen Sekundenbruchteil zu spät reagiert, um Morris daran zu hindern, meine helle Hose mit Ketchup zu besudeln, das sich jetzt wie ein zähflüssiger Blutfleck auf meinem Oberschenkel ausbreitete. „Scheiße." Ich verzog das Gesicht.

    „Ach Mensch, Morris!" sagte Dörte und klang dabei nicht besonders autoritär. Morris fand die Intervention seiner Mutter offenbar eher spaßig und ließ ein routiniertes, herzzerreißend süßes Kleinkinderlächeln sehen, das ihm, wie er ganz sicher wusste, vollkommene Absolution garantierte.

    „Tut mir leid", wandte sich Dörte an mich und wischte mit einer Serviette erst Morris’ Mund und dann meine Hose ab, was den Fleck unauslöschbar machte.

    „Schon gut, danke", wehrte ich ab, stand auf und versuchte außer Reichweite zu kommen und irgendwo Wasser zu finden, um die Katastrophe einzudämmen.

    Leider war auch mit Wasser nichts mehr zu machen. Ich würde für den Rest des Tages aussehen, als hätte ich mich bekleckert und ich konnte schlecht jedem, mit dem ich sprach, erklären, wie es zu dem Fleck auf meiner Hose gekommen war. Dieser Tag war ganz offensichtlich nicht mein Tag. Ich würde das Ergebnis des Ringreitens abwarten, in die Redaktion am Marktplatz in Husum fahren, meinen Artikel in den Computer hämmern und mich dann in die ländliche Beschaulichkeit meiner vier Wände zurückziehen. Das dachte ich jedenfalls, während das Publikum sich zurück zum Turnierplatz bewegte, wo die Reiter schon wieder auf ihren Pferden saßen. Bis auf einen:

    Kai Petersens Pferd stand wieder ohne Reiter da, und diesmal war der letztjährige – und vermutlich auch zukünftige König nirgendwo zu sehen. Es wurde gemurmelt, man sah sich nach dem Vermissten um und wahrscheinlich hätte man Petersen noch eine ganze Weile vergeblich gesucht, wenn Kinder nicht neugieriger wären als Erwachsene.

    „Dü, Müddie, dor hinden liescht äinor! sagte ein etwa zwölfjähriger Junge außer Atem zu seinen Eltern, die in schreiend gelb-lila Regenkombis ein paar Meter neben mir standen und so nicht einmal ihren sächsischen Dialekt hören lassen mussten, um sich als Touristen zu outen. „Sö? – Lossn lieschen erwiderte der Vater gleichgültig und wandte sich wieder dem Turnierplatz zu.

    „Obber isch glöb, der is död!", insistierte der Junge.

    „Blödsinn – schlöfen wirdder", kanzelte ihn seine Mutter ab.

    Abgesehen davon, dass Kinder allgemein neugieriger sind als Erwachsene, sagen sie auch eher die Wahrheit. So auch in diesem Fall: Im Graben hinter einem Gebüsch, etwa fünfzig Meter vom Festgeschehen entfernt, lag Kai Petersen, den Körper unnatürlich verdreht und er schlief nicht. Sein Gesicht war starr, die Augen weit geöffnet und er war so tot, dass die sofort herbeigeeilten Rettungskräfte nicht mal mehr den Versuch machten, ihn wieder zu beleben.

    Aus seiner Brust ragte, wie ein dünner, blau-weiß geringelter Leuchtturm, seine eigene Ringreitlanze. Sein Mörder musste ihn beim Pinkeln erwischt haben, denn Petersen hatte offensichtlich nicht mal mehr Zeit gehabt, sein bestes Stück zu verstauen und sich den Hosenstall wieder zuzumachen, bevor sein Schicksal ihn ereilte. Es war kein schöner Anblick.

    zwei

    Das sieht nicht gut aus..., bemerkte einer der Uniformierten mit der den Einheimischen eigenen präzisen Nüchternheit.

    „Is wohl was für die Mordkommission in Flensburg, sekundierte der zweite und ging zurück zum Funkwagen, um zu telefonieren. Kai Petersens Leiche war vorübergehend mit einer Abschwitzdecke für Pferde bedeckt worden. Ich hatte mit meiner Digitalkamera ein paar Fotos vom Tatort gemacht und beobachtete nun, was weiter geschehen würde. Gerade schickten sich die Rettungsassistenten an, die sterblichen Überreste des toten Königs zu bergen, aber der verbliebene Polizist stoppte sie: „Nee, nee – lasst den man liegen. Da muss sich die Spurensicherung erst noch ’n Bild moken!

    Husum ist nicht Chicago, obwohl es auch mal einen großen Viehmarkt hatte. Die einzige wirkliche Verbindung zwischen den beiden Städten findet man im Tabakmuseum (1), wo Helmut Schwermer, ein Husumer Original, mit einem riesigen Bernstein um den Hals auf Besucher wartet und ihnen gerne von der amerikanischen Metropole erzählt, in der er einen Teil seines Lebens verbracht hat. Jedenfalls erregt ein Mord hier bei weitem mehr Aufsehen als dort und man ist weniger routiniert im Umgang damit. Der Festplatz war in heller Aufregung. Niemand kümmerte sich mehr um die Pferde, die nervös an ihren Anbindern standen. Der Tatort war notdürftig mit rot-weißem Flatterband abgesperrt und von einer Menschenmenge umringt, in der aufgeregt durcheinander geredet wurde. Die wildesten Spekulationen machten die Runde und nicht alles, was gesagt und geflüstert wurde, war abwegig oder uninteressant. Kai Petersens Lebenswandel war anscheinend nicht ganz so untadelig gewesen, wie man vermutet hätte. Ich hörte heraus, dass der Reiterhof so gut wie pleite und dass Petersen in dunkle Geschäfte verwickelt gewesen sei. Im Übrigen habe er wohl auch perse Damenbekanntschaften gepflegt ... Nun sind solche Gerüchte – wie in jeder ländlichen Gegend – auch hier mit Vorsicht zu genießen. Das „Schnacken ist eine der Lieblingsbeschäftigungen der Friesen, es funktioniert so ziemlich wie das Kinderspiel „Stille Post. Jemand erzählt eine harmlose Begebenheit und auf dem Weg über die Gartenzäune wird daraus ein skandalöser Vorgang.

    Kai Petersen war wohl öfter in der Nähe einschlägiger Etablissements auf der Neustadt gesehen worden und das reichte, um ihn zu einem Spieler und gewohnheitsmäßigen Puffgänger zu machen, der am Rande des Ruins stand. Alles hinter vorgehaltener Hand natürlich. Aber selbst wenn – war das ein Grund, ihn umzubringen? Und noch dazu auf eine so plakative Art?

    Die Neustadt ist eine Straße in Husum, die etwa einen Kilometer lang ist, ziemlich schnurgerade vom alten Wasserturm am nördlichen Ende der Stadt ins Zentrum führt und als die Husumer Vergnügungsmeile gilt. Zum Hafen hin ist ihre Verlängerung die Hohle Gasse, die zur Altstadt gehört und nicht dieselbe ist, in der Wilhelm Tell den tyrannischen Landvogt Geßler erschoss. Dafür spielte dort einst der kleine Theodor Storm und bekam deshalb vermutlich öfter mal Ärger mit seinem Vater, dessen Anwaltskanzlei sich in der Hohlen Gasse Nr. 3 befand.

    Im letzten und vorletzten Jahrhundert, als die Stadt noch ein pulsierendes Zentrum des Viehhandels war, befanden sich auf dem nördlichen Teil der Neustadt die Kaschemmen, in denen sich Aufkäufer und Rinderzüchter, die Cowboys des Nordens gewissermaßen, einfanden, um ihre Geschäfte zu feiern, die das Land bis weit nach Süden und Norden mit Fleisch versorgten. Wheelin’ and dealin’. Am Fuß des Wasserturms, wo heute ein ziemlich unansehnlicher Parkplatz ist (2), waren damals die großen Viehgatter, in die die Herden aus der Umgebung zum Verkauf getrieben wurden. Aber diese Zeiten sind vorbei und die Ställe und Pferche hinter den Häusern der Neustadt sind verfallen oder abgerissen, genauso wie die große Viehhalle und die Verladeanlagen am alten Güterbahnhof, die im Vergleich zu früher kaum noch in Betrieb sind.

    Heute ist die Neustadt gesäumt von einigen Läden und einer Reihe von Lokalen mit mehr oder weniger zweifelhaftem Ruf. Immerhin befindet sich dort, in einem für Husumer Verhältnisse imposanten klassizistischen Gebäude aber auch das Theodor-Storm-Hotel, mit dem Husumer Brauhaus, wo es sich, vor allem abends, bei hausgebrautem Bier sehr gemütlich sitzen lässt; außerdem einer der vier Husumer Döner-Imbisse, das ‚Husum Hus’, das einzige Reitsport-Fachgeschäft Husums und am oberen Ende der Straße, ungefähr gegenüber vom Wasserturm, das sehr empfehlenswerte Kinocenter, eines der letzten Lichtspielhäuser, in dem man während des Films per Klingel Getränke bestellen kann.

    Wenn man den Einheimischen Glauben schenkt, ist die in den Kneipen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1