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Der Absinthe-Trinker
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eBook362 Seiten4 Stunden

Der Absinthe-Trinker

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Über dieses E-Book

In diesem Reisetagebuch nimmt der Autor den Leser mit auf seine abenteuerlichen Reisen zu seinen Schweizer Wurzeln. Er entdeckt das alte Heilgetränk Absinthe für sich, das ihn zu unerwarteter Klarheit und Inspiration führt. Amüsant und sprachlich sehr abwechslungsreich gibt es dem Leser Einblick, wie er seine amerikanische Herkunft zunehmend hinterfragt und zum aufgeschlossenen Bohemien mutiert.

http://www.davesteelpoetry.com/
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Feb. 2012
ISBN9783037882177
Der Absinthe-Trinker

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    Buchvorschau

    Der Absinthe-Trinker - Dave Steel

    Dialoge

    TEIL I

    Dietikon, Schweiz, Bruno Weber Skulpturenpark

    10. September 2006

    Sind eines Mannes Herz und Kräfte stark, so wird sich eine Vision von alleine einstellen. Diese Vision ist selbst unsichtbar und manifestiert sich in großen Zusammenhängen.

    Im Skulpturenpark von Bruno Weber sind all die verborgenen und vergessenen Träume, die einem Kind unbewusst bekannt sind, durch einen Mann und eine Vision umgesetzt.

    Kein Märchenbuch, aber ein Platz wie kein anderer, mit Träumen von Inselgestalten. Zu meinem Glück kam ich am Sonntag, den 10. September 2006, und fand den Park leicht, zusammen mit den Menschengruppen, die sich auf der schmalen Straße zum Park hin bewegten. Es war der Tag der offenen Tür bei Bruno Weber, der jedes Jahr stattfindet. Dafür, dass es Wein, Essen und Musik gratis gab, hatte ich den Eindruck, es seien nur wenige Leute da, aber das ist es eben, was ich will: Schweizer Kultur pur. Viele Familien, Kinder und ältere Leute, und alle mischten sie sich unter diese großen, surrealen Geschöpfe, diese hybriden Wesen aus der Imagination eines verrückten Genies. Als Künstler erschufen er und seine Frau, die auch kreativ arbeitet, kontinuierlich einen Ort, den du oder ich uns niemals erträumen könnten. Sein Haus ist eine Phantasiewelt, ein Kreis, eine nach oben geöffnete Spirale, ein runder Geist; kein Haus, in dem er schläft, sondern der Traum von einer Skizze, die zu Beton, Farbe und Bogenfenstern geworden ist. Seine Skulpturen setzen Marksteine bei den Wäldern hinter seinem Haus, mit Seeschlangen, Riesen, Golems und untergegangenen Geschöpfen, die niemals wirklich geboren wurden. Stell dir vor, dass der Elefant nie existiert hätte (wenn es ihn nicht tatsächlich gäbe), er ist sowieso nur zufällig entstanden. Stell dir vor, du würdest ihn zum ersten Mal als Skulptur in Bruno Webers Park sehen und dich schief-lachen, während du dich fragst: Wie konnte sich ein Künstler nur so etwas ausdenken?

    In der geschäftigen Menschenmenge gelang es mir, Bruno zu treffen. Er spricht nur Deutsch. Seine entzückende Frau übersetzte: »Ein reisender Schriftsteller aus Philadelphia ist den ganzen Weg hierhergekommen, um dich zu treffen, dir seine Gedichtbände zu geben und deine Arbeit zu würdigen.« Er war dankbar, doch er hatte viele Leute zu treffen und musste sich mit ihnen unterhalten. Man bedenke, einmal pro Jahr ist dies der Tag der offenen Tür für Dietikon und die Welt.

    Als einziger hier alleine zwischen Familien zu sein, ist für mich wie gegen den Strom zu schwimmen. So bin ich am liebsten unterwegs: als privater Zeuge, dem Leben auf der Spur. Was für ein großartiger Start für meine Reise, ich verneige mich dankbar vor dem großen Bruno Weber. Seine Frau schenkte mir später sein spezielles Coffee Table Book, einen Bildband für fünfunddreißig Franken aus seinem Laden mit den Sonderangeboten, die im stickigen Zelt untergebracht waren. Dort gab es Brunos besonderes Geschirr und Wein zu kaufen. Ich wollte das Buch sowieso haben – genau so beginnt eben die Magie. Stattdessen entschied ich mich für den speziellen Weißwein von Bruno, auf dessen Etikett Pan mit seiner Flöte abgebildet war. Wie passend, natürlich musste es Pan sein. Auf meinem Weg von Dietikon nach Solothurn trank ich aus dieser Flasche, allerdings nur wenig an diesem schwülen Septembertag. Während ich die Schleier einer neuen Zeitzone durchstieß, schmeckte dieser kühle Wein, als käme er von den Göttern. Verwandt mit der Schöpfung, umhüllte er meinen Geist, als sei Webers Park nicht bloß ein weiterer Berg in der Schweiz, sondern der Olymp, eine Abschussrampe, wo meine Lippen durch die Imagination gesalbt wurden und aus dieser Flasche ein endloser Strom ununterbrochener Kreativität sprudelte, als ob Erfinden und Atmen eins seien, für Bruno ebenso notwendig wie für mich.

    Als ob die Menschen erschaffen worden wären, um geprüft zu werden und um sich selbst durch das Erschaffen zu prüfen.

    Abwägender Künstler (1919)

    Ölpause auf Papier auf Karton

    »Lass den Künstler zum Schaffen allein«

    Bruno Weber 2006

    Solothurn, Hotel Krone

    10. – 11. September 2006

    Hier bin ich nun in Solothurn. Das Regengeräusch des Brunnens, nicht fallende Tröpfchen, sondern ein stetiger Klangwasserfall. Als sei meine Seele zu einer straffen Ledertrommel geworden und die Tropfen fielen darauf und gerbten mein Fell, während sich mein Leben wie Sekunden dahinbuchstabiert. Seit Jahren komme ich hierher, von den Brunnen der St.-Ursen-Kathedrale eingelullt in den Traumzustand eines Wasserspiels, das nie aufhört, auf meine Träume, Tagebücher, Wahrnehmungen und ewigen Gedanken zu regnen. Napoleon Bonapartes Geist residierte im Zimmer Nr. 337 im Hotel Krone. Sein Ausblick lag geringfügig tiefer als meiner.

    Die Stimmen der Straße dieselben,

    Die Luft ist dieselbe,

    Die Märkte dieselben,

    Das Zimmer dasselbe,

    Die Zeit ist dieselbe,

    Schnaps wird serviert

    La lumière ist bezahlbar.

    Alles erhältlich, so wie zuvor.

    Ich bin ich, Jahrhunderte vorher.

    Jetzt in der Zeit.

    Ich sollte erwähnen, dass es eine facture gibt, eine Rechnung aus der Zeit, als Napoleon im Hotel Krone in Solothurn abstieg. Die Unterkunft hatte für ihn, seine Männer sowie 21 Pferde bereitgestanden, doch aus Furcht vor Meuchelmördern, den assassins, trank er nur ein Glas Wasser und zog gleich weiter Richtung Balsthal. Der Besitzer des Hotels hat mir die Geschichte mehrmals erzählt. Napoleon war als Botschafter zu einem Kongress im deutschen Rastatt unterwegs und sollte auf seiner Durchreise eigentlich direkt nach Balsthal gehen. Stattdessen schwenkte er in Richtung Süden nach Solothurn ab, um alle Spione oder Feinde abzuschütteln, die seinen Reiseweg hätten verfolgen können. Die Rechnung in Solothurn bescheinigt die Unterkunft für die Männer, Wasser und Essen für die Pferde sowie Wein, Schnaps und Essen plus des bougies, Kerzen und noch mehr Wasser für die Männer.

    Solothurn, Sonnen-Turm, ist dort, wo die Sonne auf Kopfsteinpflasterstraßen scheint und sie in Gold verwandelt, wenn sie im richtigen Winkel steht. Der Name Salodurum wurde zum ersten Mal im Jahre 219 v. Chr. erwähnt, als dieser Ort von den Kelten errichtet wurde. Der Legende nach hat es Solothurn, Soleure, schon immer gegeben: »Que les saints Ours et Victor furent décapités pour leur foi sur le pont de l’Aare ...« Durch die spätere Mischung aus französischer, deutscher und italienischer Architektur hat es in der Stadt nie eine Schweizer Architektur gegeben. Solothurn war erst keltisch, dann römisch, dann französische Ambassadorenstadt und zuletzt endlich schweizerisch. Heute gehört sie niemandem und allen. Man muss Solothurn oft besuchen, um zu verstehen, dass Solothurn keiner Autorität gehorcht außer sich selbst. Sollte Solothurn schon immer als prima terra existiert haben, dann kann man dies spüren: am Glitzerschein der antiken Völker am Fluss, an den weißen Steinen aus Strassbourg und an der St. Ursen-Kathedrale, die sich wie ein ununterbrochen fließender Strom aus Pflastersteinen nach Süden über die Stadt ergießt. Ihre Bewohner sind die am härtesten zu knackenden Nüsse unter allen Schweizern, als ob sich keltische Kreaturen in ihnen verbergen würden; sie blenden die heutige Welt aus, indem sie beim Landhaus oder an der Aare herumlungern. Um halb sechs Uhr morgens machen sie ohrenbetäubenden Lärm auf der Kopfsteinpflasterstraße, während sie einen neuen Tag für die Ankunft der Sonne vorbereiten. Die Magie von Solothurn, all sein verborgener Charme, enthüllt sich allmählich, als ich wie ein Magnet zurückgezogen werde, als ob ich jeden Morgen um halb vier die Glocke der St.-Ursen-Kathedrale läuten müsste. Ihr Zauber hat sich wie eine Blume der Zeit entfaltet, die sechzehn Jahre lang Geheimnisse und Inspiration hervorgebracht hat.

    Es war im letzten September, 2005, als der Geist von Napoleon im Vorraum des Hotels an der Eingangstür widerhallte. Als ich hinausgehen wollte, schnappte die Tür zu, und 300 Kilo altes Holz knarrten, als Napoleons Geist die Tür öffnen wollte. Stattdessen trat ich hindurch, um anschließend im Barock zu landen. Das Fenster im Zimmer Nr. 337 flog auf, geöffnet von unbekannten Kräften, durch Napoleons Geist. Dies ist ein Dorf der Bohemiens, denn Solothurn hat die anderen Kantone schon immer verschlafen. War es der Luftzug beim Öffnen der Fenster oder war es Napoleons Stimme?

    Napoleons Geist dringt erneut durch das östliche Fenster ein, wo er die Rechnung prellte, lebendig und wohlauf. Oder war es ein Windhauch, genauso lebendig? Oder war es meine Einbildung, ebenfalls lebendig? Das Getrappel von Pferdehufen ertönt auf der Straße, Pflastersteine, Schnauben; Pferdehändler kommen und führen sie weg. Die Adligen wollen Heu und den Atem des Minnegesangs, die Pferde fressen edles Fleisch, trinken Suppe und Wein.

    Schlafende Gewölbekeller im Gedächtnis einer Stadt, Statuen mit Schwertern, bemalt mit Gold, während die Figuren in stoischer Ruhe verharren, verwittert durch die Jahrhunderte, nahezu undurchsichtig geworden, so wie die Erinnerungen unseres Lebens, wenn alle, die sich an uns erinnern, gegangen sind. Goldene Stäbe ragen heraus, wie die Zeigefinger der Ewigkeit, unser Leben im Entschwinden so fest haltend, wie nur eine Statue es vermag. Man braucht keinen Absinthe, um von den Statuen, welche die Tauben auf der Treppe der St.-Ursen-Kathedrale beherbergen, in Bann gezogen zu werden. Und man spürt den alten Raubzug des Menschen, mit dem er sich selbst für die Zukunft belohnt, als ob die Zeiten verschwimmen würden und es niemals so etwas wie Zeit in Solothurn gegeben hätte, nur einen Wechsel des Wächters.

    Zaubertheater (1923)

    Feder, Pinsel und Aquarell auf Papier auf Karton

    »Das Leben ist ein Traum«

    Montag, , 11. September 2006

    Gestern abend hatte ich mir vorgenommen, zwischen meinen Geschäftsterminen in der prächtigen Kirche in der Hauptgasse Halt zu machen. In der Jesuitenkirche von 1680 sprach ich meine Gebete, entzündete zwei Kerzen und bat Gott um Vergebung für die Sünden Amerikas, die Sünden der Welt und meine eigenen Sünden. Und ich bat um Segen für die Seelen, die an jenem Tag dahingingen, der mehr an numerischer Wichtigkeit zu gewinnen scheint als an Bedeutung im menschlichen Sinne. Diese zwei Ziffern, wie in 7-11, werden ganz selbstverständlich zu 9-11, so als ob die 6 die 9 wäre – If Six Was Nine. Jimi Hendrix kannte bereits lange den Todesschmerz, als er vor einer Kanone stand, wie damals die Solothurner.

    Der kräftige Mann, der sich das zutraute und der auf einigen Gemälden unsterblich wurde, war Niklaus Wengi. 1533, als Solothurn während der Reformationskriege eine Schlüsselrolle für Frankreich, Habsburg, Preussen und Österreich spielte, stand Wengi vor zwei bewaffneten Armeen, die sich kurz vor der Schlacht befanden, und stellte sich vor das Kanonenrohr. Er rief, der erste Schuss müsse durch seinen dicken Wanst hindurchgehen. Damit war die Schlacht zu Ende, denn ein solches Schauspiel war sogar für die Europäer jener Zeit zu ekelerregend. So ging es auch auf dem Tian’anmen-Platz.

    In weiter Ferne liegt ein Land, wo der Westen schläft und doch auf zwiespältige Weise erwacht, als würde Amerika anderswo vollkommen werden. All das ist heilsam, all das ist außerhalb unserer Reichweite. Abhängig vom Geist und den Wünschen eines jeden hat die Schweiz bestimmt sich selbst gefunden.

    Zur gleichen Zeit hat sich die Menschheit selbst verloren.

    Jene, die Krieg und Tod anhängen,

    können mit Gott sich kaum verbinden.

    Jene, die glauben, Zusammenkunft gäb’s im Tode,

    sind des Teufels Narren.

    Der Marktmontag am 11. September in Solothurn bringt wieder Bewegung in die Gegend, um 5 Uhr 45 hallt das Kopfsteinpflaster vom Lärm wider. Die Lastkarren bringen die Tische, die Marktfahrer treffen um sieben Uhr ein. Um 8 Uhr 30 kann man dann alles finden: Socken, Schuhe, winziges Puppenstubenspielzeug, Messer, Kleidung, Socken, Wanderkleidung, Kunsthandwerk, Antiquitäten, Musik-CDs, Socken, geröstete Nüsse, Schweizer Armeemesser, alte Bücher, Socken, Schals und Halstücher (habe ich »Socken« geschrieben?), Werkzeug und natürlich ein weiterer Tisch mit Socken. Das ist der Traum eines Fotografen: inmitten der alten Kelten-, Römer- und Germanengesichter unter den Marktfahrern herumfischen.

    Weiter nach Oberdorf zu meinem Geschäftstermin. Ich fahre durch Balsthal, suche den Geist von Napoleons vergessenem Wirt. Er wartet, hält eine Laterne im Nebel für Bonapartes Gesandtschaft, die niemals ankam. An der Burg Falkenstein vorbei bis in das ruhige Dorf, fünfunddreißig Kilometer von Basel entfernt.

    Zurück in Solothurn, steht die aufmüpfige Jugend, Gangs mit türkischen Wurzeln, in Massen entlang des Aareufers. Das ist wieder spannend. Erneut lüftet die Stadt eines ihrer lange gewachsenen, eigentümlichen Geheimnisse, wenn es einem gelingt, genau und achtsam um sich zu schauen. Die ungezügelte Jugend lehnte schon immer jegliche Achtung vor Autorität ab, angefangen bei ihren keltischen Wurzeln und ihren römischen Vorvätern über das diplomatische Parkett bis hin zu den heutigen Bürgern. Es war einmal vor langer Zeit in Solothurn, als der Widerstand lebendig war; umso mehr weicht heute dieser aufsässige Kanton vom Pfad der übrigen Kantone ab.

    September 2005:

    Lass sehen,

    Absinthe, legales Gebräu,

    Freiheit, Milch und Honig

    in meiner Hand, zum Glück

    bin ich zu unbeholfen, um irgendwas zu tun.

    Vier Jahre liegt’s zurück, als ich mit dir zusammen saß, Absinthe,

    zuerst war’s Absinthe, heimlich in der Badewanne hergestellt,

    verboten fünfundneunzig Jahre lang.

    Sicher war er gut genug, um mit einem Strohhalm drin zu baden.

    Sitzen, schlürfen.

    Sitzen, schlürfen.

    Sagte ich, Reisen sei einfach,

    Vom Unsichern mal abgesehen?

    Jetzt diese Abfüllung von legalem Absinthe von Kübler aus dem Val-de-Travers. Er war der erste Destillateur, der eine Charge hergestellt hatte. Es ist leicht zu verstehen, warum die liberalen Schweizer den Absinthe verboten hatten.

    Es war, weil er des Menschen Geist bezwang

    Vielfach.

    Habe ich überhaupt schon New Orleans erwähnt, die Alte Absinthe-Bar (jetzt gibt es sie nicht mehr)? Nein, ich glaube, sie wurde Jahre vor der Überschwemmung von 2005 verkauft. Ich meine die Alte Absinthe-Bar, nicht zu verwechseln mit der Alten Absinthe-Bar Nr. 2, die ein Haufen Dreck war. Ein Haufen Scheisse. Nein, wie auch immer, es ist nicht mehr New Orleans, Mann; dieser Absinthe ist gut ... Ich sitze und schreibe Poesie, lausche einem Potpourri aus klassischer Musik. Alles macht Sinn. New Orleans ist untergegangen, wie Alexandria, Solothurn ...

    Hier sitze ich nun wieder

    Statuen sitzen, starren

    in Zeit gefrorener Barock

    Hinweg, hinweg, so fliege ich

    in eine Zeit der einfachen

    Entschlossenheit

    Klassische Hierarchie

    kein Wunder, sind die Schweizer

    die Schweizer

    Ist die biologische Uhr ganz aufgezogen,

    so weckt sie mich um vier Uhr früh am Morgen,

    und statt zu versuchen

    zurück in meine Kissen hin zu sinken,

    will ich zum Fenster gehen

    und dann die Schatten flackern sehen

    zum Purpurmorgen.

    Obwohl ich nur eine Nacht in Solothurn bleibe und morgen nach Bern gehe, ist das Beste das gute Gefühl, zu wissen, dass ich eine Woche später zur HESO-Messe zurückkehren werde, die als »große Party« bezeichnet werden kann.

    Bern, Hotel Belle Epoque

    11. – 12. September 2006

    Heute nimmt mich der großartige Pierre Sandoz in seinem Helikopter mit. Er macht einen Privatflug. Werden drei Filme mit je sechsunddreißig Aufnahmen wohl ausreichen? Mein erster Helikopterflug – und dann noch über die Alpen. Es heißt, er würde mit den Leuten gerne zum Matterhorn fliegen. Wir werden sehen.

    Der Flug über die Alpen in einem Helikopter war wie in einer Spielzeugblase. Die Berge wuchsen schließlich zu großen Höhen heran; Gletscherspalten, die mächtigen Alpen und das Wallis lagen neben mir auf meiner Seite. Wir flogen über Gletscher und verlassene Alphütten. Ich sah die Pfade über schwierige Gipfel, die von echten Bergsteigern passiert wurden. Während ich sicher in einer Helikopterblase saß, bemerkte ich, dass ich immun war gegen die übliche Höhenangst, die man so weit oben bekommen kann.

    Pierre ging an mehreren Stellen mit dem Helikopter hinunter; die gefährlichsten waren oben auf den Gletscherspalten, wo es viele Verwerfungslinien gibt. Würden die Landekufen des Helikopters in einer Gletscherspalte steckenbleiben, dann würde der Helikopter umkippen, die Rotorblätter würden in Einzelteile zersplittern und wir würden bestimmt zu Tode erfrieren, falls wir nicht in die Luft gesprengt würden.

    Das war das Gefährliche daran: im frischen Schnee zu landen. Ein Pilot kann nicht wissen, ob der frische Schnee eine schmale Gletscherspalte bedeckt. Also wagten wir uns nur aufs Gestein hinunter. Außer zuletzt, als Peter auf dem Schnee nahe an der Kante einer Bergspitze landete. Ein paar Meter nach Westen, und wir würden den Berg hinunterrollen. In den Fernsehnachrichten würde es heißen: »Amerikanischer Tourist stürzt beim Helikopterflug den Berg hinunter. Anscheinend erlag ein einheimischer Pilot der verhängnisvollen Versuchung, seine verwegenen Flugkünste zu zeigen, als der Helikopter durch eine Fehleinschätzung einen Berghang hinunterstürzte. Die schweizerische Flugsicherung untersucht, wie dieser Unfall geschehen konnte. Die Prüfer vermuten momentan, dass es sich um Selbstüberschätzung handelt.« Natürlich ist das nicht passiert, doch eine kribbelnde Angst überkam mich dennoch. Er ist ein wirklich guter Pilot. Vorher jedoch, nach seinem ersten Absetzen auf dem höchsten Punkt eines 5000 Meter hohen Gletschers, fing mein Innenohr an zu pfeifen und der Speichel stieg meinen Hals hinauf. Bis wir aufsetzten, schien es mir gut zu gehen, dann fand mein Körper, dass er kein Interesse daran hatte, in dieser Höhe auf einem Berg zu sein.

    Also bat ich Peter, nicht noch einmal hinunterzugehen, da mir davon schlecht geworden war. Ich hätte mich beinahe übergeben müssen. Ich musste meinen gesamten inneren Antrieb und alle Willenskraft aufbringen, um meinen Magen zu beruhigen und um meine Denkmuster vom Gefühl zu befreien, auf den Kopf gestellt zu sein, damit ich diese wunderschöne Erde unter mir genießen konnte.

    Er verstand meine Bitte völlig, ging aber dennoch zweimal hinunter. Beim dritten Mal, an der Kante, den Tod ein paar Meter daneben, bekam ich Hitzewallungen und Schweißausbrüche, als ich dagegen ankämpfte. Vermutlich war meine Angst abzustürzen stärker als das Frühstück, das mir wieder hochkam.

    All diese Farben von grünen, weißen und grauen Bergspitzen verschmolzen in meiner Wahrnehmung. Das Flüstern erfriert in der alpinen Luft so hoch oben, abgeschnitten von allem. Tod und Leben für einen Bergbewohner war ein merkwürdiges gehörntes Geschöpf, das ihn am Leben hielt. Der Auszug des Todes, um das Leben zu suchen, hat niemals diese Berge bezwungen. Vor und nach dem Tod liegen die grünen Muster des Wallis, dieses mystischen Tals, und die grünen Sträucher und alten Erdspalten, die rund um Bern liegen – all das lag zu meinen Füssen, wie Murmeln vor einem Kind.

    Allmählich war die Luke, die große Wasserscheide zwischen Nord und Süd, durchstoßen, dann ging es zurück nach Bern, zum Essen im Restaurant Harmonie, wo man sich professionell um die Bewirtung und Unterbringung von Gästen bemüht. Eine wirklich warme und berührende Erfahrung findet man da am Herd der Menschheit, bei einem guten Essen, bei Wein, Grappa und Frauen – all jenen, die sich erheben zum Gipfel dessen, was möglich ist.

    Fritz Gyger, der Wirt des Restaurants Harmonie, der sich um Freunde wie um Fremde kümmert, wird ein Licht im Fenster für mich brennen lassen. Sein Chef de Service ist Ernst Lippitsch. Nachdem ich seit Jahren zum Abendessen hierher komme, schenkt er mir sein vertrautes Lächeln und erkennt mich als den einsamen Amerikaner, der manchmal zweimal am Tag kommt. Dieses Lammkotelett jedes Jahr ist vielleicht das beste Essen in der ganzen Schweiz; obwohl er das Essen unbewusst so serviert, als sei dies alles ein Traum, und er jedes Gericht von seinem stummen Kellner verlangen kann. Vitello tonnato, Bœuf Bourguignon, Crème brûlée, durch eine kurze Bewegung seiner Stirn fährt der schmale Lift auf und ab – Teller mit Rösti, endlose Abendessen für den Rest unseres Lebens, außer am Sonntag. Und Ernst lebt zwei Leben, eines, in dem er niemals aufhört zu arbeiten, wie Franca in der Osteria Novena im Val Bedretto, und das von Ernst Lippitsch, der lange Spaziergänge im Schoßhaldenwald unternimmt, wo er beinahe den Lift anhält, der das Leben nach Bern bringt.

    Heute Nacht stampfen alle Kolben auf und nieder. Alle Geister kehren zurück, um zu feiern, als würde die Welt alle Seelen, die leben oder je gelebt haben, erwecken. Wir wollen unsere Arme in die Höhe werfen, trinken und ein letztes Mal miteinander anstoßen.

    Was für eine großartige erste Nacht in Bern, nachdem ich den Tag mit Pierre Sandoz versoffen habe. Ich muss mich ausnüchtern und meinen alten Freund Mario Capitanio treffen, den berühmten Schweizer Gitarristen. In der Schweiz ist er bekannt als großartiger Livemusiker und Rocker, und im belebten Bern ist er sogar noch bekannter. Er kann nirgendwo hingehen, ohne von irgendwem erkannt zu werden, der ihn umarmt. Verlegen meint er, es sei nur Zufall, dass er überall, wo wir hingehen, so viele Freunde trifft, die ihn bewundern, aber es passiert jedes Mal, wenn ich mit ihm zusammen bin. Das erste Mal traf ich ihn 1991 in Biel-Bienne, wo ich die Ankündigung der Texas Guns Blues Band las. Es ist immer Timing und Glück, wenn zwei Freunde zusammengeführt werden, aber in jener Nacht in Biel drängte es mich zurück, um zu schauen, was dort abging. Als ich an diesem Abend, es war in der Zeit während meiner Ausbildung, Mario begegnete, hätte ich nie gedacht, dass sich der Beginn einer Musikerfreundschaft entwickeln würde. Ich sollte ihn in jenem Sommer mehrere Male in Bern treffen, wo seine Freundin Pia unterhalb der Stadt, nahe der Oben-ohne-Badeanstalt lebte. Ja, ich sagte Oben-ohne-Badeanstalt, wo barbusige Schweizer Mädchen und Frauen meinen Geschmack für europäische Sinnlichkeit weckten.

    Mario sollte mich einige Jahre später während seiner großen USA-Tour 1993 mit Pia in Philadelphia treffen. Heute ist er immer noch in Bern, zwei Freundinnen und ungefähr fünfzehn Jahre später. Seit er seine berühmte Jimi-Hendrix-CD herausgegeben hatte, tourte er mit den Schweizer Rockern Florian Ast & Florenstein, jetzt spielt er mit Polo Hofer, dem berühmtesten Schweizer Rockkünstler, den es je gegeben hat. In der Spaghetti Factory treffe ich Mario um elf Uhr nach dem Abendessen. Dort begegne ich dem Keith Richards von Bern, Marios Freundin und anderen. Marios Freunde erscheinen mir sympathisch, intelligent und höflich. Nachdem wir uns ungefähr fünf Jahre lang aus den Augen verloren haben, tut diese Wiedervereinigung echt gut. Wir zogen durch die Straßen von Bern und verbrachten den Abend gemeinsam, bis wir in dieser trendigen Bar ganz im Westen der Stadt landeten. Unser nächstes Treffen sollte erst zehn Tage später in Bern stattfinden. Was für ein Tag, quel jour – Bern, Neuchâtel, Boudry, Bôle, Gampelen, Cudrefin, Mont-Vully, mein Leben, alles Leben, besonders die Blumen, ausgefallene Gärten, les fleurs, Menschen, tartes, costumes, Les Glassons, Lac de Morat, Œil de Perdrix, Benzin, la Suisse Romande, Lugnorre. Die prähistorischen Geister auf den außergewöhnlichen Aussichtspunkten des Mont Vully machen einem alle bewusst, wie Schreiben und Leben nebeneinander existieren, solange der Leser begreift, dass es kostbarer ist, das Leben zu leben, als es zu dokumentieren.

    Das Leben ist da, um gelebt zu werden; folge einfach

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