Duales Ausbildungssystem - Quo vadis?: Berufliche Bildung auf neuen Wegen
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Über dieses E-Book
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des dualen Systems der beruflichen Bildung. Hochkarätige Vertreter und Vertreterinnen aus Politik, Wissenschaft und Verwaltung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz äußern sich hier zur aktuellen Lage, zu Reformspielräumen und zu Zukunftsszenarien der beruflichen Bildung. Sie bieten damit einen umfassenden Überblick über diese hochaktuelle Diskussion.
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Buchvorschau
Duales Ausbildungssystem - Quo vadis? - Verlag Bertelsmann Stiftung
2007.
Teil I:
Ausgangslage
Berufsbildung: Teil des Bildungssystems - nicht nur des Arbeitsmarktes
Martin Baethge
Der spezifisch deutsche Berufsbildungspfad
Solides System
Das deutsche Berufsbildungssystem galt lange Zeit international - und gilt vielen hierzulande auch jetzt noch - als das beste der Welt. Als Inbegriff für das Berufsbildungssystem unterhalb der Hochschulebene steht hier bis heute die duale Ausbildung aus betrieblicher und schulischer Unterweisung, auch wenn dieses Spezifikum der deutschsprachigen Länder nie die Gesamtheit der beruflichen Bildung ausmachte; schon früh entwickelte sich neben ihm ein vollzeitschulisches Berufsbildungssystem besonders im Bereich von (personenbezogenen) Dienstleistungsberufen.
Institutionelle Trennung
Ihren internationalen Ruf verdankt die duale Berufsausbildung vor allem zwei Argumenten: dass sie mehr Jugendlichen eines Altersjahrgangs als irgendein anderes Bildungssystem in der Welt einen qualifizierten Berufsabschluss vermittelte und dass sie der Wirtschaft dauerhaft ein großes Reservoir an Fachkräften verschaffte, das als Rückgrat und Erfolgsgarant der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb angesehen wurde - und wird.
Beide Begründungen - ein relativ hohes berufliches Qualifikationsniveau der (lange Zeit vor allem männlichen) Erwerbsbevölkerung und die Gewährleistung eines Fachkräftepotenzials - wurzeln in einer ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Betrachtung der beruflichen Bildung, die auch die Institutionalisierung der Berufsbildung prägt und die zentrale Normierung der Berufsbildungspolitik hierzulande abgibt.
Die dominant arbeits- und wirtschaftsbezogene Institutionalisierung der Berufsbildung basiert auf einem deutschen Sonderweg in der Organisation der Ausbildung im Vergleich mit Ländern, die die Berufsbildung schulisch organisieren. In ihr verfestigt sich zugleich die institutionelle Trennung von der Allgemeinbildung, die 200 Jahre lang das Nebeneinander von beruflicher und allgemeiner Bildung bestimmt - vor allem der höheren in Gymnasien und Universitäten - und Übergänge von der einen in die andere schwer gemacht hat.
Die historischen Wurzeln der institutionellen Trennung
Historische Entwicklung
Die institutionelle Trennung von Berufs- und Allgemeinbildung kann man als das deutsche Bildungsschisma bezeichnen, das historisch in den vor- und frühindustriellen Wurzeln beider Bildungspfade begründet liegt (vgl. Blankertz 1982; Greinert 2003; Stratmann und Pätzold 1985). Die neuhumanistische Reform der höheren Allgemeinbildung in Gymnasien und Universitäten am Beginn des 19. Jahrhunderts vollzog sich abseits der entstehenden Industrie und bürgerlichen Gewerbe. Sie klammerte deren Qualifikationsinteressen aus dem Kanon der staatlich zu fördernden und zu verantwortenden Allgemeinbildung sogar bewusst aus (vgl. Humboldt 1920). Diese blieben im Wesentlichen der Selbstorganisation der Gewerbe überlassen, deren stärkster Pfeiler die handwerkliche Lehre war, die die Industrie am Beginn des 20. Jahrhunderts adaptierte und für ihre spezifischen Bedürfnisse modifizierte.
Das Ergebnis des zweigleisigen Institutionalisierungsprozesses von (mittlerer) Berufsausbildung und (höherer) Allgemeinbildung in den letzten beiden Jahrhunderten war - zugespitzt formuliert - eine »praxisferne« Allgemeinbildung und eine »bildungsferne« Berufsausbildungspraxis. Politisch oblag erstere der staatlichen Schul- und Wissenschaftsadministration, die zweite schwerpunktmäßig der staatlichen Gewerbe- und Wirtschaftsförderung unter starker Beteiligung der Selbstverwaltung der Wirtschaft (vgl. Baethge 2003; Friedeburg 1987).
Starke Segmentierung
Es wird sich zeigen, dass die starke Segmentierung des deutschen Bildungssystems in Allgemein- und Berufsbildung heute zur Achillesferse des gesamten Systems geworden ist und seine komparativen Vorteile sich immer mehr verflüchtigen. Dass ein so stark segmentiertes Bildungssystem überhaupt ökonomisch und sozial funktional und hochgradig kompetitiv sein kann, wie es das deutsche System über fast zwei Jahrhunderte war, ist keineswegs selbstverständlich. Es hängt zum einen mit der Wissensbasis der frühen industriellen Produktion, zum anderen mit dem spezifischen Entwicklungspfad der Industrialisierung in Deutschland zusammen.
Wenig Akademiker in Betrieben
Die frühe Industrialisierung fußte nur sehr begrenzt auf wissenschaftlichem Wissen; die Universitäten des 19. und auch der längsten Zeit des 20. Jahrhunderts waren fast ausschließlich darauf ausgerichtet, den Beamtennachwuchs des Staates und der akademischen Berufe außerhalb der Industrie auszubilden (Ärzte, Juristen, Pastoren usw.). Selbst als die Wissenschaft in der Industrie in Form von Forschung und Entwicklung Einzug hielt, blieb der Anteil von Hochschulabsolventen an den Belegschaften der Betriebe sehr niedrig und überstieg bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts selten ein bis zwei Prozent (vgl. Riese 1967).
Berufsbildungssystem: Ausdruck des Produktions- und Sozialmodells im 20. Jahrhundert
Zentrale Rolle des Facharbeiters
Die strategisch zentrale Qualifikationsgruppe blieben die Facharbeiter und -angestellten der mittleren Ebene. Auf ihren Qualifikationen konnte sich der spezifische deutsche Entwicklungspfad der Industrialisierung, der »diversifizierten Qualitätsproduktion« (Abelshauser 2004) realisieren. Gemeint ist damit eine Produktionsweise vor allem in den deutschen Leitbranchen der elektrotechnischen und chemischen Industrie sowie des Maschinen- und des Fahrzeugbaus: Sie setzten mehrheitlich nicht auf tayloristische Massenproduktion und Billigprodukte, sondern realisierten ihre Wertschöpfung bereits früh über eine relativ qualifikationsintensive Produktion auf den exportorientierten Hochpreissegmenten des Weltmarkts. Hier spielt der Facharbeiter eine entscheidende Rolle und bildet gleichsam das Rückgrat der Produktion.
Da zugleich in Deutschland im Gegensatz zu anderen westlichen Mitbewerbern am Weltmarkt die Industrie bis in die 1970er Jahre der wirtschaftliche Leitsektor blieb, konnte auch seine Berufsbildungsverfassung ihre Dominanz im Ausbildungssystem bewahren. Beide großen Akteursgruppen des kooperativen deutschen Produktionsmodells, Arbeitgeber und Gewerkschaften, wissen sich bis heute auf die duale Berufsausbildung vereidigt.
Sozial verankerte Bildungsimmobilität
Dem Produktionsmodell entsprach eine Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft, in der die mittleren Fachkräftegruppen ein hohes Gewicht hatten. Die Formen der Ausbildung, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg deren kollektiven Aufstieg und relativen Wohlstand mitermöglicht hatten, würden auch für die Zukunftsgestaltung ihrer Kinder eine gute Basis abgeben: Von einer solchen intergenerationellen Weitergabe einer zur Bildungsaspiration verfestigten positiven Ausbildungserfahrung mag - neben materiellen Barrieren - die bis heute beobachtbare Distanz gerade der Facharbeitergruppen gegenüber der höheren Allgemein- und Hochschulbildung erklärbar sein, die den Anteil von Kindern aus der Arbeiterschicht und - noch mehr - aus sozial schwachen Gruppen an den Studierenden niedrig hält. Dies wiederum half ungewollt die Bildungsprivilegien der bürgerlichen Mittelschichten, um die diese auch in und nach der starken Expansion der Gymnasialund Hochschulbildung vehement kämpften (vgl. Friedeburg 1987), zu stabilisieren und das deutsche Bildungsschisma aufrechtzuerhalten.
Einbußen in der Leistungsfähigkeit des deutschen Ausbildungssystems
Folgenreicher Strukturwandel
Prozess des Wandels
Die Feststellung, dass die Berufsausbildungsverfassung und mit ihr auch das stark segmentierte deutsche Bildungssystem historisch eng mit dem spezifischen Industrialisierungspfad Deutschlands verbunden sind, beinhaltet nicht die Behauptung, dass der Zusammenhang von ökonomischen Entwicklungsmustern und Bildungsstrukturen zwangsläufig ist. Sie lässt aber erwarten, dass die ökonomische und soziale Funktionalität und Leistungsfähigkeit des (Berufs-)Bildungssystems ins Wanken geraten, wenn sich die Bestandsvoraussetzungen von Ausbildungsverfassung und Industrialisierungspfad grundlegend verändern.
Dies ist keine Frage temporärer Marktungleichgewichte und Krisen, die beide - Ausbildung und Industrialisierungspfad - im letzten Jahrhundert immer begleitet haben.
Eine grundlegende Veränderung von Bestandsvoraussetzung meint vielmehr einen Umbruch in der Entwicklungsrichtung. Ein solcher wird in der ökonomischen und soziologischen Theorie mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- bzw. Wissensgesellschaft konstatiert (vgl. Bell 1975). Um es plakativ verkürzt auszudrücken: Epochale Umbrüche führen zu Veränderungen der gesellschaftlichen Institutionen und Regulationsformen, die sich nicht schlagartig, sondern in einem langwierigen Prozess