Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Im Garten der Wale: Roman
Im Garten der Wale: Roman
Im Garten der Wale: Roman
eBook233 Seiten3 Stunden

Im Garten der Wale: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Als es die irische Meeresbiologin und Umweltschützerin Orla auf eine einsame Insel im Atlantik verschlägt, beginnt für sie eine Robinsonade mit unabsehbaren Folgen. Familie und Bekannte verlieren jede Hoffnung, weil sie vermuten, Orla sei ertrunken. Einzig ihr Freund, der Gärtner Manfred, glaubt, dass Orla ihr Leben nicht verloren hat.
Sabine Reber zeigt in atmosphärisch dichten Schilderungen, wie das Meer mit seinen abrupten klimatischen und metereologischen Veränderungen den Menschen zum Objekt der Natur werden lässt. Während Manfred auf Orla wartet, gestaltet er mit großer Kunst einen neuen Garten, in fester Hoffnung, sie werde wieder lebendig auftauchen. Wird sie wiederkehren?
SpracheDeutsch
HerausgeberElster Verlag
Erscheinungsdatum27. Feb. 2015
ISBN9783906065885
Im Garten der Wale: Roman

Ähnlich wie Im Garten der Wale

Ähnliche E-Books

Darstellende Künste für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Im Garten der Wale

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Im Garten der Wale - Sabine Reber

    Über dieses Buch

    Als es die irische Meeresbiologin und Umweltschützerin Orla auf eine einsame Insel im Atlantik verschlägt, beginnt für sie eine Robinsonade mit unabsehbaren Folgen. Familie und Bekannte verlieren jede Hoffnung, weil sie vermuten, Orla sei ertrunken.

    Einzig ihr Freund, der Gärtner Manfred, glaubt, dass Orla ihr Leben nicht verloren hat.

    Sabine Reber zeigt in atmosphärisch dichten Schilderungen, wie das Meer mit seinen abrupten klimatischen und metereologischen Veränderungen den Menschen zum Objekt der Natur werden lässt. Während Manfred auf Orla wartet, gestaltet er mit großer Kunst einen neuen Garten, in fester Hoffnung, sie werde wieder lebendig auftauchen. Wird sie wiederkehren?

    Die Autorin

    Sabine Reber (*1970 in Bern) studierte in Fribourg Journalistik und Kommunikationswissenschaft. Von 1996 bis 2004 lebte sie in Irland. Sie ist vor allem durch ihre Gartenkolumnen und ihre Gartenbücher in Deutschland und in der Schweiz bekannt geworden. Gegenwärtig lebt sie in Biel.

    Sabine Reber

    Im Garten der Wale

    Roman

    Elster Verlag · Zürich

    Inhalt

    1 Das Meer ist grau

    2 Mary ruft an

    3 Dreieckige Schatten

    4 Der Aufpasser

    5 Ein Bett aus Algen

    6 Ein Bus mit Zähnen

    7 Der letzte Einsatz

    8 Die Ausserirdischen

    9 Der irische Moby Dick

    10 Wenn die Erde flach wäre

    11 Im Regen singen

    12 Bis die Seebeine wachsen

    13 Ein toter Fisch

    14 Spuren verwischen

    15 Hinter den Felsen

    16 Immer im Kreis herum

    17 Die Notoperation

    18 Bier aus der Flasche

    19 An Bord der Grainne

    20 Die Goldfische

    21 Tausend kleine Verluste

    22 Fähige Partner

    23 Abrupte Wetterwechsel

    24 Wurzeln auf der Werkbank

    25 Der Neue schläft oben

    26 Garten ohne Georg

    27 Gelbe Füße

    28 Der Hochzeitstag

    29 Direkt in die Tanks

    30 Eine Salzrose

    31 Die Gaffer

    32 Zeichne mir ein Ohr

    33 Ein Lichtstreifen am Horizont

    34 Father O‘Donnell singt

    35 Der zweite Halbmond

    36 Mit dem Bug voran

    37 Die blaue Rose

    Dank

    Impressum

    … an island far away to the West and South. lt is not down in any map; true places never are.

    Herman Melville

    1

    Das Meer ist grau

    Windböen der Stärke acht fegten über den Atlantik. Die FASTAKAST kämpfte sich durch meterhohe Wellenberge. Nebelschwaden zogen vorbei. Regen und Gischt peitschten auf das Arbeitsdeck und wuschen das Blut weg, das aus den Köpfen der Orcas sickerte. Sie lagen auf einem Haufen am Bug. Es waren drei Muttertiere und fünf Junge gewesen. Sechzehn Augen starrten ins Leere. Orla hätte sie gerne zugedrückt, aber Wale haben keine Lider. Sie hören nicht einmal im Tod auf, einen anzuschauen.

    Eydur Poulsen hatte die Körper der Schwertwale über Bord werfen lassen, nachdem er die Steaks mit einem Fleischmesser aus den Flanken der Jungtiere herausgeschnitten hatte. Das Fleisch war in den Kühlraum gebracht worden. Orla war an die Reling gebunden.

    «Mörder, Mörder!», schrie sie und zerrte an ihren Fesseln. Sie wehrte sich nach Leibeskräften, aber es war vergeblich. Eydur, der sie im allgemeinen Blutrausch vergessen hatte, stürzte sich auf sie. Er schlug auf Orla ein, bis sie wieder verstummte. Dann band er sie los, schleppte sie die Treppe hoch und warf sie in die Notfallkajüte, die zwischen seiner und der Kajüte des ersten Maats lag. Er schloss die Tür von außen ab und setzte sich zu seiner Mannschaft, um die gelungene Jagd zu begießen.

    Duncan Gray war froh, die Nachtschicht im Steuerhaus übernehmen zu können. Wodka konnte er nicht ausstehen. Und er würde auch kein Walfleisch essen. Aber er wollte sich dafür nicht rechtfertigen müssen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Einerseits war die Aktion ein Volltreffer. Sie hatten die Walfänger auf frischer Tat ertappt. Andererseits hatten sie keine Beweise. Seine Kamera lag im Seesack in der Kajüte, und er hätte das Steuerhaus unmöglich verlassen können, ohne Verdacht zu erregen.

    Duncan hatte keinen Zweifel daran, dass sich sowohl Orla wie auch er selbst in großer Gefahr befanden. Ein Bericht über die Grindwaljagd auf den Färöern, den er im Fernsehen gesehen hatte, ging ihm durch den Kopf. Die Tiere waren von kleinen Booten in eine Hafenbucht getrieben worden. Tierschützer hatten die Zufahrtsstraßen blockiert, aber die erbosten Walfänger waren mit Gaffhaken auf die jungen Leute losgegangen; es hatte Verletzte gegeben. Und Duncan wusste von Aktivisten, denen dieselben Walfänger noch monatelang mit Mord gedroht hatten.

    Eines war ihm klar: Sowohl Orla wie auch er selbst selbst mussten baldmöglichst von Bord gehen. Duncan überlegte, ob er die Polizei alarmieren sollte. Aber es konnte eine Weile dauern, bis deren Boot eintraf. Und wie sollte er sich wehren, wenn er vorher in Verdacht geriet? Er fragte sich, ob sie eine der aufblasbaren Rettungsinseln über Bord werfen und beide darin fliehen sollten. Aber dann hatten sie noch immer keine Beweise. Schließlich sah er nur eine Möglichkeit: Zuerst musste Orla in Sicherheit gebracht werden. Danach konnte er fotografieren, was von dem Gemetzel übrig war: die Köpfe der Orcas, die noch immer an Deck lagen, das Fleisch im Kühlraum und die blutverschmierten Waffen. Wenn er damit fertig war, würde er Alarm schlagen. Traf die Polizei ein, solange die Mannschaft noch schlief, bliebe er an Bord und sähe zu, wie Kapitän Eydur festgenommen wurde. Falls vorher jemand aufwachte und die Situation brenzlig wurde, konnte er immer noch versuchen, in einer Rettungsinsel zu entkommen. Aber zuerst musste er Orla befreien. Und er musste vorsichtig sein; niemand durfte auf die Idee kommen, dass er und Orla sich schon kannten, bevor sie an Bord gingen. Mit ruhiger Hand steuerte er die FASTAKAST durch die aufgewühlte See und überlegte, ob der Plan funktionieren könnte.

    Stunden später kam Sigurd zu Duncan auf die Brücke. Er ließ sich in den zweiten Steuerstuhl fallen und erzählte mit lallender Stimme von der Party unter Deck und vom saftigsten Steak des Jahrzehnts. Duncan tat, als höre er ihm interessiert zu und überlegte sich, was er am besten antwortete. Aber Sigurd nickte ein, bevor er etwas sagen musste. Duncan wartete. Als er Schnarchgeräusche vernahm, schaltete er den Autopiloten ein. Er nahm den Generalschlüssel aus Sigurds Jackentasche und verließ die Brücke. Wenige Minuten später hatte er Orla in der Notfallkajüte ausfindig gemacht. Er öffnete die Tür und half ihr aufzustehen. Abgesehen von einer Platzwunde am Kopf, die sie bereits desinfiziert und verbunden hatte, war sie unverletzt, und sie wirkte gefasst.

    Orla folgte Duncan ins Steuerhaus, wo Sigurd noch immer schlief. Auf den Radarschirmen war zu erkennen, dass fünf andere Trawler in der Nähe waren. Es war eine Frage von Stunden, bis einer von ihnen Orla an Bord nahm. Duncan und Orla besprachen sich flüsternd und kamen zum Schluss, dass eine Flucht trotz des Seegangs kein allzu großes Risiko bedeutete. Der Wetterbericht für den nächsten Tag war gut; der Wind hatte sich in der letzten Stunde bereits etwas gelegt, und ein Hoch war im Anzug. Eigentlich konnte nichts schief gehen. Duncan würde die Sicherungen für das Licht herausdrehen und im Maschinenraum ein bisschen Rauch erzeugen. Minuten später wäre er wieder auf der Brücke, wo er die Polizei, die anderen Boote und die Rettungsmannschaften alarmierte. Dann würde er die benötigten Fotos machen. Und wenn er damit fertig war, konnte er in aller Ruhe den Kurzschluss entdecken, Sigurd wachrütteln und beteuern, er sei ebenfalls eingeschlafen und wisse nichts über das Verschwinden der Köchin. Bis Polizei und Helfer vor Ort waren, verginge vielleicht eine Stunde. Ob der Hubschrauber bei Nacht und böigem Wind fliegen konnte, war zweifelhaft, aber er würde sowieso nicht benötigt werden. Auch wenn es bis zum Eintreffen der Helfer zwei Stunden dauerte, hätte Orla keine ernsthaften Schwierigkeiten. Duncan vertraute auf den Plan, auf Orlas Erfahrung zur See und auf ihre Kräfte.

    Orla eilte in ihre Kajüte, klebte sich den Pass mit Heftpflaster auf den Bauch und zog die wärmsten Hosen und Pullover, die sie finden konnte, und ihre Jeansjacke an. Im Umkleideraum für die Mannschaft nahm sie ihren Öl-anzug mit den angeschweißten Stiefeln vom Haken. Keine zwei Minuten später stand sie wieder auf der Brücke. Sigurd schlief noch immer.

    Duncan drückte Orla einen Flachmann mit Whisky und eine Schwimmweste in die Hand und verschwand im Maschinenraum. Orla wartete auf dem noch immer hell erleuchteten Arbeitsdeck. Sie fürchtete sich nicht. Durch die großen Luken blickte sie in die Messe. Da saßen und lagen sie auf den Ledersofas: Skipper Eydur, der erste Maat Finnbogi, die Matrosen und der Schiffsjunge Trondur, alle sturzbetrunken. Ein Video flimmerte über den Bildschirm, aber die Männer schliefen. Trondur hatte sich übergeben und seinen Pullover und den Teppich verdreckt. Leere Wodkaflaschen, dreckige Teller und randvolle Aschenbecher standen auf den Tischen. Die Matrosen trugen noch immer ihre blutbesudelten Arbeitsanzüge; nur Eydur war in einen sauberen Trainingsanzug und Badelatschen geschlüpft.

    Plötzlich gingen die Scheinwerfer auf dem Arbeitsdeck aus. In der Messe wurde es dunkel, und der Fernseher hörte auf zu flimmern. Niemand erwachte. Orla schlich aufs Oberdeck. Obwohl der Wind jedes Geräusch schluckte, bewegte sie sich langsam und lautlos. Sie steckte den Flachmann ein und band die Schwimmweste über dem Ölzeug fest. Schweigend kappte Duncan die Seile und riss die Plastikplane vom Rumpf. Er hakte die Ketten des Rettungsbootes am Davit ein. Orla kletterte in das rote Kunststoffboot, zögerte.

    «Komm mit», sagte sie, «sie werden dich umbringen.»

    «Bis die ihren Rausch ausgeschlafen haben, bin ich längst fertig.»

    Duncan lachte. Er setzte den Davit in Bewegung und schwenkte das Rettungsboot über die Reling hinaus. Orla hing minutenlang in der Luft. Während er mit den Trossen kämpfte, geriet das kleine Boot ins Wanken. Sie schrie auf. Er hielt inne und sah sich um. Nichts regte sich. Schaukelnd näherte sich das Boot den Wellen. Als es aufsetzte, hatte sie größte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Duncan löste die Trosse. Das Rettungsboot wurde hin und her geworfen. Es schlug gegen die Bordwand der FASTAKAST. Orla biss die Zähne zusammen und krallte sich an der Bordkante fest. Trotz der Dunkelheit glaubte sie, Duncan winken zu sehen, als die hohen Wellen das Boot mit sich fortrissen.

    Orla hatte keine Chance, sich zu orientieren. In der Hektik hatte sie ihren Kompass in der Kajüte liegen lassen. Sie regte sich darüber auf, obwohl sie wusste, dass ihr ein Kompass nichts genützt hätte; das Rettungsboot hatte keinen Außenbordmotor, und in den hohen Wellen war das Manövrieren ohnehin unmöglich. Trotzdem hätte sie an den Kompass denken müssen. In den letzten Nächten an Bord der FASTAKAST hatte sie die Seekarten studiert, und es kam ihr jetzt vor, als habe sie die Flucht schon vorbereitet, bevor sie deren Grund kannte. Stundenlang hatte sie wach in ihrer Kajüte gesessen und sich alle gefährlichen Stellen eingeprägt. Sie merkte sich die Strömungsverhältnisse und Gezeitentabellen, die Koordinaten von Klippen und Inseln. So verbrachte sie auch die letzte Nacht. Beim Frühstück starrte Duncan ihre Augenringe an und erkundigte sich besorgt, was mit ihr los sei. Sie erzählte ihm, sie habe schlecht geschlafen und von einem Schiffbruch geträumt. Darauf nahm sie ihm das Versprechen ab, Manfred zu benachrichtigen, falls ihr etwas zustoßen sollte. Dieser Wunsch irritierte Duncan zusätzlich. Er lachte unsicher und fragte, wovor sie sich fürchte. Schließlich legte er Manfreds Telefonnummer zu seinen Papieren und vergaß das morgendliche Gespräch wieder.

    Kreuzseen warfen das Rettungsboot hin und her. Orla konnte nichts tun, um es zu steuern. Erst nach Stunden gelang es ihr, den Notfallbeutel aus seiner Verankerung in der Bordwand zu lösen und die zwei zerlegten Plastikpaddel, die sich darin befanden, zusammenzustecken. Sie versuchte zu rudern, aber die Anstrengung war vergeblich. Orla konnte sich in der Dunkelheit nicht orientieren. Ihre Kräfte ließen nach, sie beschränkte sich darauf, sich treiben zu lassen. Ein Brecher entriss ihr beide Paddel. Orla verschwendete keine Mühe darauf, sie wiederzufinden. Der Notfallbeutel war zum Glück mit einem Tampen gesichert. Daneben ertastete sie einen Eimer, der ebenfalls festgebunden war.

    Langsam fragte sie sich, wo die anderen Boote blieben. War es Duncan wirklich gelungen, Polizei und Rettungsmannschaften zu alarmieren? Oder trieb er ebenfalls hilflos auf dem Meer? Hatte er in einer Rettungsinsel von Bord gehen müssen, bevor er Hilfe anfordern konnte? Orla kämpfte gegen die Panik an. Wenn die Wassermassen über ihr zusammenschlugen, duckte sie sich. Sie versuchte sich zu konzentrieren und die Wellen zu zählen. Eine Weile konnte sie trotz der Dunkelheit einzelne Wellen voneinander unterscheiden. Sie hatte den Eindruck, dass der Aberglaube von der siebten und schlimmsten Welle etwas Wahres habe. Dann wieder schien ihr, die Wogen reisten in Dreiergruppen und verstärkten sich gegenseitig. Neue Kreuzseen warfen das Boot herum. Es misslang ihr, Ordnung in das schäumende Chaos zu bringen. Die Wellen liefen aufeinander zu und überkreuzten sich in Mustern, die sie nicht lesen konnte. Sie zählte mehrmals bis hundert. Dabei schwang sie mit einer Hand den Eimer und pützte, so schnell sie konnte. Mit der anderen Hand klammerte sie sich an der Bordkante fest. Ob dieser Anstrengung gab sie das Zählen schließlich auf. Sie pützte und dachte an gar nichts mehr.

    Schließlich war Orla so erschöpft und durchgefroren, dass sie sich hinsetzte. Sie starrte in die Wogen, die so schwarz waren wie die tiefhängenden Wolken und sich in Nebelschwaden verloren. Dabei kam sie sich vor wie der letzte Mensch auf Erden. Nicht einmal Möwen zeigten sich. Sie hatte keine Ahnung, wohin die Strömung sie trieb. Solange sie auch in die Dunkelheit starrte, sie konnte keinen Anhaltspunkt finden: Außer Wasser war nichts zu sehen.

    Eine Ewigkeit später zog die Morgendämmerung herauf. Noch bevor Orla den Horizont sehen konnte, bekam die Dunkelheit einen leichten Graustich. Das Meer nahm die Farbe des Himmels an. Die Dämmerung legte sich wie ein Schleier über alles. Orla rieb sich die Augen. Sie konnte sehen, aber nichts erkennen.

    Allmählich wurde es hell, und nun tat es Orla Leid, dass sie klar sehen konnte. Ihr wurde bewusst, wie hoch sich die Wellen tatsächlich auftürmten, und wie viel Schaum ihre Kämme krönte. In diesem Moment begann sie sich zu fürchten. Solange es dunkel war, hatte sie nur den tosenden Lärm gehört und sich einzureden versucht, das Meer wirke dermaßen laut, weil sie sich so nahe und ungeschützt inmitten der Wellen befand. Aber sie waren um ein Vielfaches höher, als sich Orla vorzustellen gewagt hatte.

    Sie raffte sich auf und bewegte ihre Arme und Beine, die von der Kälte steif geworden waren, aber dadurch brachte sie das auf den Wellen tanzende Rettungsboot aus dem Gleichgewicht. Schließlich beschränkte sie sich darauf, mit den Zehen zu kreisen und die Hände ein paar Mal zu Fäusten zu ballen. Auf keinen Fall durfte sie die Hoffnung aufgeben. Am Leben zu bleiben, war die einzige Aufgabe, die sie im Moment hatte. Sie musste endlich etwas essen und trinken.

    Orla durchsuchte den Notfallbeutel und fand Tabletten gegen Seekrankheit, zwei verschweißte Plastiktüten mit Proviant, zwei Flaschen mit Trinkwasser, Verbandszeug, sowie einen Signalspiegel, um entfernte Schiffe durch Blenden zu alarmieren. Sie warf einen Blick in den kleinen Spiegel und ließ ihn über Bord fallen. Er war nutzlos, solange die Sonne nicht schien. Und auch bei gutem Wetter hätte er ihr nur geholfen, wenn jemand in der Nähe gewesen wäre, den sie hätte blenden können. Sie trank Wasser und aß ein Stück Zwieback. Dann kniete sie sich wieder hin und starrte in die Wogen.

    Gegen Morgen wurde das Meer ruhiger. Langgezogene Wellen rollten träge wie große Wale heran. Ihr schwerfälliger Rhythmus wirkte beruhigend. Nun fiel es Orla leichter, sich zu bewegen. Sie wühlte in ihren Hosentaschen und fand das zwölfklingige Schweizer Offiziersmesser, das Manfred ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie fand Streichhölzer, einen Kugelschreiber, eine Packung nasser Kaugummis. Das Klopapier, das sie immer in der rechten Hosentasche hatte, um sich die Nase zu putzen, war ebenfalls nass. Duncans Flachmann, den sie während der letzten Stunden wie alles andere vergessen hatte, kam zum Vorschein. In der Innentasche ihrer Jeansjacke, die sie unter dem Ölzeug trug, fand sie eine Schachtel Zigaretten und ihr Feuerzeug. Sechzehn Marlboros. Wie durch ein Wunder waren sie trocken geblieben. Auch das Feuerzeug funktionierte noch. Orla zündete sich eine Zigarette an. Sie nahm sich vor, mit den restlichen fünfzehn sparsam umzugehen. Wenn sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1