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Ich war begeistert: Wiener Literaturen Band 1
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eBook334 Seiten4 Stunden

Ich war begeistert: Wiener Literaturen Band 1

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Über dieses E-Book

Er war einer der bedeutendsten Journalisten Österreichs und Berlins. Zudem Theaterimpresario, Dramaturg, Autor, Feuilletonkorrespondent. Und er gab eine der wichtigsten deutschsprachigen Zeitschriften des 20. Jahrhunderts heraus, Das Tage-Buch. Für den Wiener Stefan Großmann (1875-1935) schrieben Alfred Polgar und Thomas Mann, Robert Walser und Alexander Roda Roda, Walter Benjamin, Robert Musil und Egon Friedell. Die ersten Reportagen Egon Erwin Kischs wurden von Großmann redigiert. Und 1925 stammte die erste, Aufsehen erregende und erschreckend prophetische Rezension von Hitlers Mein Kampf aus seiner Feder. Stefan Großmanns außergewöhnlich kluge, ehrlich persönliche und vor allem politisch ebenso realistische wie visionäre Autobiografie Ich war begeistert (1930) gehört „zu den großen Erinnerungsbüchern" (Wiener Zeitung) der Wiener Literatur nach 1900.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Atelier
Erscheinungsdatum15. Juni 2015
ISBN9783903005839
Ich war begeistert: Wiener Literaturen Band 1

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    Buchvorschau

    Ich war begeistert - Stefan Großmann

    Großmann

    Hermann Schlösser

    Begeisterung als Lebensenergie

    Im Mai 1925 feierte Stefan Großmann seinen 50. Geburtstag mit einem großen Empfang im noblen Berliner Hotel Adlon. Ein Foto hat das Ereignis festgehalten: Illustre Gäste in großer Zahl umrahmen den Geehrten, der in der ersten Reihe im Mittelpunkt sitzt: »Ganz Salonlöwe mit Zigarre, etwas seitlich zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen. Gute Theaterarbeit; der Photograph hat das Seine beigetragen.« So beschrieb Großmanns Enkelin, Christina Wesemann-Wittgenstein, die Erscheinung des Fünfzigjährigen auf diesem Bild.

    Der 1875 in Wien geborene Großmann gehörte in den Zwanzigerjahren zu den führenden Berliner Publizisten. Das Tage-Buch, die Zeitschrift, die er von 1920 bis 1928 zusammen mit Leopold Schwarzschild im Rowohlt Verlag herausgab, war neben der Weltbühne das wichtigste linksliberale Intellektuellenmagazin Deutschlands. Aber Großmann redigierte nicht nur, sondern nahm auch selbst in eigenen Leitartikeln, Glossen und Kommentaren Stellung zum politischen Geschehen. 1923 enthüllte er zum Beispiel in einer seiner Glossen, dass Hitler und die Nationalsozialisten von ausländischen Geldgebern finanziert wurden. Das provozierte beim Völkischen Beobachter Morddrohungen gegen »die jüdische Kanaille Großmann«; Hitler verklagte den Journalisten vor einem Münchner Gericht. Der Prozess wurde zwar erst vertagt, dann niedergeschlagen, doch die Nationalsozialisten zählten Stefan Großmann von da an zu ihren besonders verhassten Gegnern.

    Großmann scheute derartige Kämpfe zwar nicht, aber in seinem fünfzigsten Lebensjahr machte sich doch eine gewisse Unlust an der aufreibenden Journalistenexistenz bemerkbar. In demselben Monat Mai, in dem er im Adlon würdevoll Geburtstag feierte, veröffentlichte Großmann im Tage-Buch einen ironischen Nachruf auf sich selbst. Dort heißt es unter anderem: »Er hat sich immer wieder der Gegenwart preisgegeben, und so verdarb er sich das bisschen Ewigkeit. Mit fünfzig Jahren erst begann er sich ein wenig zu sammeln, dieser immer Zerstreute.«

    In den folgenden Jahren reduzierte Großmann seine journalistische Aktivität. 1928 trennte er sich von Schwarzschild und vom Tage-Buch und war wieder vor allem literarisch tätig – ganz wie in seinen jungen Jahren im Wien des Fin de Siècle. Unpolitisch war seine Literatur freilich nicht. 1928 veröffentlichte er den Roman Chefredakteur Roth führt Krieg, der seine Erfahrungen mit der Zeitungswelt ins Gewand der Fiktion kleidet. 1931 wurde in der Berliner Volksbühne das Drama Die beiden Adler uraufgeführt, in dem Großmann ein traumatisches Ereignis der jüngeren österreichischen Geschichte auf die Bühne brachte: Gezeigt wird hier der Strafprozess gegen Victor Adlers Sohn Friedrich Adler, der 1916 den Grafen Stürgkh, Österreichs Premierminister, aus Protest gegen den Krieg ermordet hatte.

    Wie viele nicht mehr junge Autoren, die sich angesichts des dahinschwindenden Lebens ein »bisschen Ewigkeit« erschreiben wollen, wandte sich Großmann aber auch dem Genre der Autobiographie zu. 1930 erschienen im Berliner S. Fischer Verlag erstmals seine Lebenserinnerungen unter jenem Titel, den sie auch in dieser Neuausgabe noch tragen: Ich war begeistert. Und was bei älteren Menschen oft zu beobachten ist, gilt auch für Großmann: Er erinnert sich in diesen Memoiren vor allem an Menschen, Ereignisse und Dinge aus früheren Zeiten, während die Gegenwart verblasst. Von seiner publizistischen Tätigkeit in der Weimarer Republik berichtet Großmann gar nichts. Was nach 1920 geschah, findet unter dem Titel Ich war begeistert keinen Platz mehr.

    Stattdessen nehmen die Wiener Kindheits- und Jugenderinnerungen einen breiten Raum ein. Aus den vielen anschaulich beschriebenen Episoden, die Großmann aus seiner frühen Zeit berichtet, sei hier nur jene herausgegriffen, in der die Gründungslegende einer Schriftstellerexistenz überliefert wird: In der Realschule, die ihn im Wesentlichen langweilte und quälte, schrieb der junge Großmann einmal einen Aufsatz über Franz Grillparzers berühmte Erzählung Der arme Spielmann.Diese Arbeit wurde vom Deutschprofessor Franz Willomitzer sehr gelobt, durch dieses Lob beflügelt, fühlte sich der Jüngling als Literat. Im Rückblick der späten Jahre erkennt Großmann einen tiefen Sinn darin, dass seine erste literarische Arbeit dem »armen Spielmann« galt, denn: »Ich sehe ganz Österreich von vielen armen Spielmännern bevölkert, die aus ihrer Brigittenau nicht hinausfinden und nicht hinausfinden wollen.«

    Großmann selbst gehörte allerdings nicht zu jenen melancholisch-bescheidenen Kleinmeistern, die sich in ihrer Misere halbwegs gemütlich einrichten und die in der österreichischen (und vor allem der wienerischen) Kultur bis heute anzutreffen sind. Wie er in Ich war begeistert berichtet, trieb es ihn bald über die engen Grenzen seiner Heimatstadt hinaus. Als junger Mann besuchte er Paris, Brüssel und vor allem Berlin, wo er dem Anarchisten Gustav Landauer begegnete, der Großmanns politische Überzeugungen ebenso prägte wie der österreichische Sozialist Victor Adler.

    Naturgemäß kann eine Lebenserzählung, die im Zeichen der »Begeisterung« steht, nicht nur von Politik handeln. Großmann war zeitlebens nicht nur politisch engagiert, sondern auch ästhetisch fasziniert und erotisch animiert. Seine Leidenschaft für das Theater kommt in seinen Lebenserinnerungen also ebenso zur Sprache wie das Entzücken, das eine schöne Schauspielerin in ihm hervorrief. (Die indiskrete Nachwelt weiß, dass sie den Namen Anna Reisner trug, in Großmanns Text tritt sie nur unter dem Kürzel »Annie R.« auf.) Wie es sich für einen schwärmerischen Jüngling der Jahrhundertwende gehörte, »betete« Großmann die junge Frau »an«, und er kultivierte eine Zeit lang eine Art schüchterner Fernbeziehung, die sich nur in anonymen Liebesbriefen artikulierte. Als die Künstlerin ein Engagement in Berlin bekam, reiste er ihr allerdings kurz entschlossen nach. Nicht das Interesse an Landauers Anarchismus trieb ihn also in die deutsche Hauptstadt, sondern die Leidenschaft für eine attraktive Wiener Bühnenkünstlerin. Diese erotische Energie, die sogar die Kraft zum ungesicherten Ortswechsel freisetzt, ist ein wesentliches Ferment dessen, was Großmann »Begeisterung« nannte und als Triebkraft seines kreativen Lebens verstand.

    Allerdings macht sich ein programmatisch Begeisterter bei seiner weniger enthusiastischen Umwelt nicht unbedingt beliebt. Auch Großmanns emphatisches Bekenntnisbuch rief seinerzeit den Unwillen eines Kritikers hervor, der sich selbst die (genau besehen sehr wienerische) Rolle des »Nörglers« zugeschrieben hatte: Karl Kraus, der für viele Intellektuelle seiner Zeit die moralischen Maßstäbe setzte, hat Stefan Großmann mehrmals angegriffen, weil er ihn für ein besonders widerliches Exemplar des seichten, plauderhaften Feuilletonisten hielt. Auch Ich war begeistert fand in den Augen dieses Kunstrichters keine Gnade. Unter dem Titel »Ich war angewidert« vernichtete er das Buch in der Fackel. Zum Glück müssen sich heutige Leser und Leserinnen von den apodiktischen Urteilen des Karl Kraus nicht mehr einschüchtern lassen, sondern können sich in unbefangener Lektüre ein eigenes Bild von Stefan Großmanns Text machen. Vor allem dazu lädt diese Neuausgabe von Ich war begeistert ein.

    Für Ester Maya Birgit Strömberg

    Vorwort

    Eines Tages kam im Wiener Café Central ein Philosoph auf mich zu – im Café Central wimmelte es um die Jahrhundertwende von Philosophen – und brachte mir eine Arbeit, von der ich mir nur einen Satz gemerkt habe: »Das Leben ist eine Gelegenheit, sich die Welt anzuschauen.« Ich weiß nicht, ob der Wiener Central-Philosoph noch lebt, er hatte eine vornehme Verachtung für Öffentlichkeit und Druckerschwärze und war zu sehr Philosoph, als daß ihm an irgendeiner Art Ruhm etwas gelegen wäre, aber seinen tiefsinnigen Satz habe ich als Leitmotiv annektiert, in allen möglichen Situationen ist er mir Stütze und Beruhigungsmittel, Zuflucht und Ausrede gewesen.

    Im großen ganzen ist mein Leben ein reizender Serpentinenweg nach oben gewesen, etwas strapaziös im Anstieg, aber immer wieder erfrischend und entzückend durch eine plötzliche unerwartete schöne Aussicht. Ich bin das Wiener Kind Wiener Eltern, und das bedeutet ein Schicksal. Ist man Wiener, so hört man nie ganz auf, es zu sein; wenigstens das Wien, das war, bedeutete ein Schicksal.

    Ich bin in meinem Leben nie zielbewußt gewesen, kaum wegbewußt. Wie hätte ich Wiener und gleichzeitig zielbewußt sein sollen? Im Grunde bin ich wie im Traum vorwärts getorkelt, vorwärts, zuweilen auch seitwärts, zuweilen auch rückwärts. Immer wieder kam es zu einer Art Lebenskrise. Immer wieder mußte das Dasein ganz von vorn angefangen werden. Aber ich kann nicht sagen, daß ich gerade in diesen Erschütterungskrisen den Grund ganz verloren habe. Ich saß auf dem Grunde, aber ich hatte Besinnung genug, das Wiener Leitmotiv vor mich hinzusummen: Das Leben ist eine Gelegenheit, sich die Welt anzuschauen. Ich habe sicher an den Fehlern dieser Philosophie zu tragen gehabt; zuweilen, wenn ich zugreifen oder handeln sollte, habe ich nur geschaut; vieles habe ich nicht festhalten können, weil ich ein Zuseher war; aber im großen ganzen bin ich »zum Schauen bestellt« auf meiner Serpentine sehr glücklich gewesen. Und wenn ich den Weg von der Wiener Wollzeile 23 – ich bin ganz in der Nähe der Stephanskirche geboren und danke ihr meinen Namen – nach St.-Maxime-sur-Mer, wo ich dies Vorwort schreibe, noch einmal zu gehen hätte, ich glaube, ich stiefelte unwillkürlich dieselbe Serpentine mit all ihren törichten Umwegen wieder empor.

    Komisch, das Leitmotiv hat mich davor geschützt, das Geld jemals zu überschätzen. Ich wurde ziemlich alt, ehe mir die Wichtigkeit des Geldes einging, und selbst als ich theoretisch begriffen hatte, daß Geld, wie Dostojewski sagt, geprägte Willensfreiheit ist, war ich noch immer weit entfernt vom Willen zum Gelde oder gar von dem Entschluß, Geld zu machen. »Das Leben ist eine Gelegenheit, sich die Welt anzuschauen.«

    Komisch, wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich heute, 1930, genau so als junger Mensch, wie ich mich 1900 gefühlt habe; oder nein: 1895 als zwanzigjähriger Mensch habe ich mich viel älter gefühlt als dreißig Jahre später. Ich glaube, die Jahre der Seele setzen nicht hintereinander ein. Ich war mit zweiundzwanzig Jahren innerlich sechzig, dann wurde ich langsam jünger. Mit ungefahr fünfunddreißig Jahren, nach dem Geburtsschein gerechnet, war ich innerlich zweiundzwanzig Jahre alt, und jetzt, nachdem ich durch allerlei Tode, Krankheiten und Leiden durchgegangen bin, würde ich mich auf ungefähr dreiunddreißig abschätzen – versteht sich, nur an sonnigen Tagen. An grauen Tagen bin ich etwa hundertneunzehn Jahre alt. Aber wenn es einen Unterschied in der Lebenskunst von Jung und Alt gibt, so ist es der, daß einem in der Jugend die Sonne nachläuft und daß man, älter geworden, selber der Sonne ein bißchen nachlaufen muß.

    Unwillkürlich muß in die Schilderung meines Lebens etwas Hochmut einfließen. Ich bin der Sohn verarmter Wiener Bürger. Ich habe mit siebzehn Jahren angefangen, mein Brot zu verdienen, und ich habe nie in meinem Leben einen Pfennig geerbt. Und dennoch habe ich niemals, niemals – die Stimme darf sich hier schon ein bißchen zum Tremolo erheben – irgendeine Zwangsarbeit getan. Jede Arbeit, die ich auf mich genommen, habe ich mit Freude getan, ja, ich darf sagen, daß ich eigentlich meine Arbeit – und es gab Tage, wenn auch nicht allzu viele, mit sechzehn- und siebzehnstündiger Arbeitszeit – immer nur als Spiel empfunden habe. Ich möchte da sogar zwei verschollene Jugendjahre mitrechnen, in denen ich versuchte, Versicherungsmathematiker zu werden. Auch das hat mir eine Zeitlang Spaß gemacht, und wenn nicht die Schrecken des Bürozwanges mich zum Ausreißen gezwungen hätten, und wenn die Arbeit nicht allmählich monoton geworden wäre, und wenn nicht ein unbezwingliches Bedürfnis nach einem dramatisch lebendigeren Dasein mich aus der Beamtenbahn gerissen hätte … zu viele wenn, solche Sätze soll man nicht beenden. Ich war nie Zwangsarbeiter, ich habe in meinem halbwegs bewußten Leben geschwankt zwischen Schriftstellerei und Theaterarbeit, auf sechs, sieben Jahre publizistische Tätigkeit folgten gewöhnlich drei, vier Jahre Theaterspielerei. Man muß die Kissen umdrehen, wenn man gut schlafen will. Der Journalismus erträgt sich leichter und freier, wenn man in die Theateratmosphäre entfliehen kann, und die Theaterluft wäre ja überhaupt ohne den Gedanken nicht auszuhalten, daß man sich jeden Augenblick in die weniger wahnsinnige Atmosphäre der stillen Schriftstellerstube hinüberretten kann. Ich kann nur jedermann raten, sich mindestens zwei Berufe anzuschaffen, ein Beruf ist zu wenig. Man ist nur dann Herr über seine Arbeit, wenn man eine zweite Berufung hat. Die Monogamie eines einzigen Berufes macht abhängig und unfroh.

    Das Wichtigste freilich ist unerlernbar, man muß es von Natur aus mitbringen: ich meine das souveräne Gefühl, daß man selber der Erbauer seines Lebens ist. Die meisten Menschen werden gelebt. Es ist nicht wahr, daß jedermann seinen Marschallstab im Tornister trägt, im Gegenteil, manche haben nur einen Korporalstock im Tornister, und die meisten tragen nur ihren schweren Tornister – ohne Stab und ohne Stock. Ich habe, Gott weiß woher, ein unverschämtes, mir lange selber unbewußtes Souveränitätsgefühl mitbekommen. Ich habe nie danach getrachtet, irgendeinen Menschen zu beherrschen, aber die dienende Hilfe des homme mediocre ist mir immer als eine Selbstverständlichkeit vorgekommen.

    Soll ich noch etwas von meiner geheimen Philosophie verraten, so ist es beinahe ein mystischer Glaube, daß wenige, ganz tief gelagerte Wünsche des Menschen nach einer Zeit des Ausreifens im Dunkel und Unbewußten plötzlich in Erfüllung aufsprießen. Ich spreche jetzt nicht von den vulgären praktischen Wünschen – wieviele Menschen haben denn überhaupt die seltene Kraft eines inbrünstigen, aus der Tiefe wachsenden Wunsches? –, aber der Keim eines tiefgewollten, lange im Erdreich des Unbewußten geschützt herumgetragenen Wunsches, dieser Keim blüht eines Tages fast plötzlich auf und – du stehst vor deiner Erfüllung.

    Ich hatte das Glück in meinem Leben, herrlichen Partnern zu begegnen. Ich denke da um Gottes willen nicht etwa an sehr viele berühmte Menschen, die ich zwischen Kairo und Drontheim traf. Nein, ich hatte das Glück, immer wieder Mitglied eines wunderbar reich besetzten Ensembles zu werden. Dabei bin ich, wie wahrscheinlich alle produktiven Menschen, den schnöden Vergnügungen konventioneller Geselligkeit fast immer ausgewichen. Ich hatte das Glück, immer wieder, wenn ich diesen nicht nur musikalisch gemeinten Vergleich wagen darf, süßeste Kammermusik zu genießen. Außer den Stunden des Alleinseins, in denen ich doch immer wieder durch tausend Kontakte sozial verbunden war, sind die Stunden zu zweien die vollsten meines Lebens gewesen. Zu zweien im Fenster liegend, kann man dem Gekribbel der Welt sehr fröhlich zuschauen. Jede Gesellschaft von mehr als zwei Personen ist gewöhnlich mindestens um einen zuviel. Wenn das Leben eine Gelegenheit sein soll, sich die Welt anzuschauen, so darf man sich diese Gelegenheit nicht durch allzuviel Nachbarschaft und Gesellschaft stören lassen.

    Noch ein Geständnis: bin ich wie im Traum durchs Leben gegangen, unromantisch gesagt: das »Maultier sucht im Nebel seinen Weg« –, so wäre ich von diesem Grat einige dutzendmal abgestürzt, wenn ich nicht rechtzeitig im Nebel Frauenstimmen gehört hätte. Ich verdanke Frauen nicht nur ein steigendes, immer wieder trunken machendes Lebensgefühl, ich verdanke ihnen überhaupt und immer wieder, daß ich bin.

    Das Buch heißt: Ich war begeistert, wobei die Betonung nicht auf dem Hilfszeitwort liegt. Die Begeisterung kommt aus dem Geiste, mein Leben war begeistert, wie eine grün blühende Wiese bewässert sein muß. Und da ich begeistert war, so bin ich es noch und werde es, ein klein bißchen komisch, immer wieder sein. Die Begeisterung von gestern mag geisterhaft sein, der Rausch von heut und morgen ist doch nicht aus den Augen zu reiben … Vertrauliches Geständnis, ich bin auch von meiner Begeisterung ein wenig begeistert.

    Tänze im Branntweinladen

    Ich habe nicht die Absicht, die Geschichte meiner Kindheit zu schreiben, wozu auch? Derlei Konfessionen machen nur den Psychoanalytikern Spaß, und wer möchte diesen Talmudisten des Unterleibes Spaß machen? Ich überspringe also die erste Kindheit.

    Mein Vater war nach dem großen Krach der siebziger Jahre verarmt, und schlimmer noch, er hatte jede Lust verloren, sich wieder hinaufzuarbeiten. Er hatte die Fähigkeit des Orientalen, stundenlang in göttlichem Nichtstun auf einer Caféterrasse in der Praterstraße zu sitzen bei einem Schwarzen und sehr vielen Gläsern Wasser, und je älter er wurde, umso schwächer wurde seine Aktivität, und umso länger saß er auf der Caféhausterrasse und sinnierte vor sich hin. Mit dem letzten Reste unseres Vermögens hatte meine Mutter ein kleines Teegeschäft in der Praterstraße gekauft, in einem jener schönen zweistöckigen Altwiener Häuser mit großem Hofe und sehr vielen Straßen- und Hofbalkons. Das Haus hieß, weil es an der Ecke der Weintraubengasse stand, das Weintraubenhaus. Das Teegeschäft, das wir besaßen, hatte einen wunderschönen kleinen Chinesen, der mit übergeschlagenen Knien im Auslagefenster saß, und hinter ihm waren große bunte Teekisten und Teepäckchen aufgestapelt. Fast nur zum Schmuck standen daneben etliche Flaschen Jamaika-Rum. Unglücklicherweise schien die Bevölkerung der Praterstraße eine Abneigung gegen das Teetrinken zu haben; es konnten viele Stunden vergehen, ohne daß die Klingel von der Ladentür klirrte. Meine Mutter, energisch wie sie war, erkannte bald, daß wir dem zweiten Konkurs entgegengingen, und mein Vater, der fast ebenso gleichgültig wie der philosophische Chinese im Auslagefenster die drohende Katastrophe übersah, wurde aufgepulvert. Meine Mutter beschloß, das Übergewicht der Teekisten und Teepäckchen zu beseitigen und die Jamaikaflaschen in den Vordergrund des Auslagefensters zu stellen. Was aber war eine geschlossene verkapselte Rumflasche? Vor allem bekam die Rumflasche Nachbarschaft. Es wurden die herrlichsten glänzendsten Bouteillen polnischer Schnäpse neben sie gestellt, noch heute schwirren mir ihre Namen durch den Kopf: Kontu- schowka, Malakoff, Rostopschin – meistens wurden die stärksten polnisch-russischen Schnäpse nach russischen Generälen genannt. Die grünen, hellgelben, wasserklaren Schnäpse glitzerten in den wohlgeformten Flaschen. Aber es war wichtig, nicht nur Flaschen, die verkorkt und verkapselt waren, auszustellen, sondern – meine energische Mutter wußte das sehr gut – es kam darauf an, die Schnäpse in kleinen Mengen, womöglich in offenen Gläsern an die Bevölkerung loszuwerden. Dazu war eine besondere Erlaubnis des Magistrats nötig. Es gelang meiner Mutter, den Vater aus seiner Caféterrassenbeschaulichkeit herauszureißen, und da er unter den Gemeinde- und Bezirksräten viele Freunde hatte, so erhielt er eines Tages die gewünschte Schankkonzession.

    Der Tag war sicher entscheidend für mich, das sollte ich später spüren. Meine Mutter erkannte, daß die beste »laufende Kundschaft« zwischen vier und sieben Uhr früh, wenn Wirtshäuser und Cafés geschlossen waren, sich hierher verirren müsse. Wir wohnten damals an der Donau, nicht am Kanal, der grau durch die Stadt fließt, sondern an der richtigen grünengroßen Donau, die etwa eine halbe Stunde weit draußen an den Praterauen vorbeifließt. Eines Tages wurde beschlossen, daß ich jeden Morgen um vier Uhr diesen Laden aufsperren solle. Ich besuchte damals die Realschule, ein dreizehnjähriger Junge. Unvergeßlich, auch heute noch, diese Wege nachts oder im Morgengrauen, zu Fuß – die Straßenbahn fuhr noch nicht – von der großen Donau in die Praterstraße. Schließe ich die Augen, so sehe ich diesen Weg vor mir, meistens den Winterweg im Schnee, schlecht beleuchtet, ungepflastert, menschenleer. Kam ich vor dem Weintraubenhaus an, so war der Laden noch kalt, dumpf, ungeheizt und roch nach Rum und Schnäpsen. Das erste, was ich zu tun hatte, nachdem ich die Gasflamme angezündet, war, ein kleines Feuer in dem eisernen Öfchen zu machen. Aber ich fror noch immer schmählich; ich glaube, man friert als Kind fast so sehr wie als alter Mann, und man friert doppelt und dreifach, wenn die Augen noch voll Schlaf sind. Flackerte erst das Feuer im Öfchen, so hatte ich ein sehr einfaches Mittel, mich warm zu machen: ich lief und tanzte im Kreise durch den verhältnismäßig großen Laden und sang dazu ein Couplet, das ich noch heute vorzutragen imstande bin, es hatte den Refrain: »Sehn’s, so heiter ist das Leben in Wien«. Wie kam ich zu diesem aus vielen anderen Wiener Liedern?

    Das Weintraubenhaus lag direkt neben dem alten Karl-Theater. Dank dieser Nachbarschaft war meine Jugend von Theaterluft durchströmt. Ich kannte sehr früh schon Zuschauerraum und Bühne, Schauspieler und Habitués, Kulissenschieber und Garderobefrauen. Dort hatte ich eine Wiener Posse gehört, in der ein heute längst verschollener Komiker dieses Tanzcouplet, während er im Kreise über die Bühne hüpfte, allabendlich zu singen pflegte. Jeden Morgen übte ich mit hohen Sprüngen dieses Tanzlied – die einzige gymnastische Übung meines Tages –, langsam wich der Schlaf aus den Augen, und das Blut strömte warm in Füße und Hände. Ich freute mich selber an meinem musikalischen Monolog, und trotzdem diese Morgenstunden zwischen vier und sieben Uhr das beste meines Schlafes weggenommen hatten, war ich, wenn ich meinen Rundgesang absolviert hatte, froh und guter Dinge. Zuweilen gab ich eine zweite Nummer zu, es war ein ganz dummes Lied, das aber den Vorteil hatte, daß ich dabei meine wachsende Tenorstimme mächtig fühlen konnte. Ich schmetterte es zu den Flaschen, den Fässern im Hintergrunde und wurde nur dann und wann gestört durch den Eintritt eines Gastes, der sein Gläschen begehrte.

    Die Kundschaft bestand aus Arbeitern, die auf dem Wege in die Fabrik einen kräftigen Schnaps zu sich nehmen wollten, aus Fiaker- und Einspännerkutschern, die ihren nächtlichen Standplatz am Karl-Theater für eine Viertelstunde verließen, um sich an meinem Öfchen und an unserem Schnaps zu wärmen, und aus armen halb erfrorenen Frauenzimmern, die ihre traurigen Nachtmärsche mit einem Vanillelikör oder einem kräftigeren Allasch unterbrachen.

    Ich bin noch heute nicht imstande, diese eigentlich melancholischen Situationen des um den Schlaf betrogenen Jungen anders als heiter und mit innerster Dankbarkeit anzusehen. Niemals hätte ich jene natürliche Beziehung zu den einfachen Leuten, die mir mein ganzes Leben lang treu geblieben ist, ohne diese Morgenstunden im Schnapsladen erreichen können. Niemals hätte ich die Verbundenheit mit den Arbeitern aus Büchern lernen, und nie hätte ich den Irrsinn der Mechanisierung des erotischen Lebens so deutlich erfassen können als damals, als diese vom Nachttrabe erschöpften Freudenmädchen bescheiden sich auf das Bänkchen hockten, wohin ich ihnen ihren Vanillelikör brachte.

    Die Kutscher wurden meine besten Freunde, die Arbeiter brachten dem dreizehnjährigen Jungen die ersten sozialistischen Zeitungen. Jawohl, ich war zu früh aus dem Schlaf gerissen, aber ich danke diesen Morgenstunden mein geistiges und politisches Erwachen. Und zu allem immer wieder die Nähe des alten Karl-Theaters. Der kleine, schlecht erleuchtete Laden, voll von Schnapsluft und Pfeifenrauch, war immer wieder durchsummt von den Liedern aus dem Karl-Theater. Eine merkwürdige Mischung von politischem Verschwörertum, sozialer Erbitterung und musikseliger Tanzfreudigkeit herrschte hier zwischen vier und sieben Uhr morgens.

    Um halb acht Uhr löste mich meine Mutter ab. Dann bekam ich schnell einen dünnen Kaffee mit einer Semmel, packte meine Bücher in den Ranzen und wanderte in die Realschule. Saß ich erst in meiner Bank, so meldete sich das fürchterliche Schlafdefizit dieser Monate und Jahre. Besonders in der Chemiestunde, wenn Formel auf Formel mir entgegenwankte, begann ich immer wieder einzunicken. Eines Tages schüttelte mich der Chemieprofessor wach, der gleichzeitig mein Ordinarius war – der Gute, ich werde seinen Namen Cyrill Reichel nicht vergessen –, und fragte: »Zum Teufel, Großmann, warum sind Sie denn immer so schläfrig?« Ich antwortete ehrlich: »Weil ich um drei Uhr aufstehen muß.« Der gute Cyrill – ich sehe seine buschigen Brauen und seinen dicken breiten Schnurrbart noch vor mir – fragte: »Was, um drei Uhr müssen Sie aufstehen?« Und nun erzählte ich ihm, übrigens keineswegs in anklägerischer Art, sondern um mich zu entschuldigen und zu verteidigen, von meiner Morgenarbeit. Er hörte mir zu, ich weiß nicht, ob er an meinen Worten zweifelte. Aber etwa eine Woche später stand ich eines Tages hinter der Budel und traute meinen Augen nicht, als sich die Glastür öffnete und mein Chemieprofessor Cyrill Reichel mitten unter Kutscher, Proletarier und Huren eintrat. Es war der einzige Augenblick in jenen Morgenstunden, in denen ich zu zittern begann; nie hatte ich, wenn ich so allein in dem leeren Laden stand, den Gedanken gehabt, ich könnte überfallen und die spärliche Kasse könnte geraubt werden; immer waren meine Nerven in ungestörter Zuversicht. Aber – als jetzt der Chemieprofessor eintrat, da hatte ich nur ein Gefühl: wie kommst du eigentlich dazu, mich in meiner privaten Sphäre aufzustöbern? Ich hatte nur die Empfindung der Unzulässigkeit seiner Visite. Ihn ging nur an, was ich in der Schule trieb, über mein Leben außerhalb der Schule hatte er kein Aufsichtsrecht. Erst viel später habe ich begriffen, daß es die freundschaftlichste Handlung war, die der gute Cyrill mir erwiesen hat. In dem Augenblick seines Erscheinens empfand ich nichts als störrische Wut.

    Wenige Tage darauf wurde mein Vater zum Direktor der Realschule gerufen, und es wurde ihm in entschiedenen Worten vorgehalten, daß ich unmöglich der Schule folgen könne, wenn ich schlaftrunken und schon ermüdet in den Unterricht komme. Cyrill Reichel siegte. Der nächtliche Zulauf im Branntweinladen war von Tag zu Tag, oder eigentlich von Nacht zu Nacht gestiegen. Meine Mutter stellte eine Kassiererin an, und ich konnte bis sieben Uhr morgens schlafen.

    Aber der Realschule war ich nun doch entfremdet. Mein geistiges Zentrum lag nicht mehr in der Schule, und deshalb fehlte die Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit des Schülers. Ich saß wohl in der Schulbank, aber ich hatte mich innerlich abgesperrt und dem Einfluß der Lehrer vollkommen entzogen. Zwei Lehrer spürten das, der Turnlehrer Albin Horn, ein grobschlächtiger, antipsychologischer Geselle, der die geistige Verachtung verdiente, die damals den Turnlehrern entgegengebracht wurde. Ich war ein schmächtiger und blasser Junge, ein fanatischer Leser – ich erinnere mich, daß ich

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