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Schwarzbuch Tirol
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eBook256 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Der Tiroler "Agrar-Krimi" hat viele unheimliche Facetten. Eine davon ist, dass die Grundlage für die flächendeckenden Regulierungen der Gemeindegrundstücke, welche sich als "Enteignungen" entpuppten, wohl unter dem NS-Regime in Osttirol gelegt wurde. Nicht nur das ist ein schwer verdauliches Erbe. Seit das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom Juni 2008 klarstellte, dass die in den 1950er-Jahren in Nordtirol begonnene Übertragung von über 2.000 Quadratkilometern öffentlichem Gemeindegut auf bäuerliche Agrargemeinschaften verfassungswidrig passierte, befindet sich das Land Tirol in einem Ausnahmezustand. Obwohl die grundlegenden Aussagen zu den Übertragungen in den Folgejahren mehrfach von den Höchstgerichten wiederholt bzw. bestätigt wurden, müssen die betroffenen Gemeinden weiterhin um ihr Grundeigentum kämpfen.

Wieder geht es um Macht. Wieder geht es um Geld. Und wieder scheinen die Gemeinden bzw. die Mehrheit der Tiroler gegenüber einer kleinen Minderheit den Kürzeren zu ziehen. Nicht "die Bauern" sind dabei ihre Gegner. Längst steht mit der Agrargemeinschaftsfrage das "System Tirol" am Pranger. Doch das reinigende Gewitter für das Land steht noch aus.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum3. Okt. 2012
ISBN9783706557078
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    Buchvorschau

    Schwarzbuch Tirol - Alexandra Keller

    unheimlich.

    Kapitel 1 – Die Dimensionen

    Die Dimensionen sind gigantisch. In jeder Beziehung. Ob es die Art betrifft, wie ab den 1950er Jahren das Grundeigentum vieler Nordtiroler Gemeinden in die Hände einer kleinen Gruppe von Bauern „wanderte". Ob es die Größe der dabei den Gemeinden entzogenen Flächen betrifft. Oder ob es die Hintergründe betrifft, vor denen diese Eigentumsverschiebungen in die Wege geleitet wurden.

    In einer längst als verfassungswidrig erkannten Art wurden in Nordtirol ab den 1950er Jahren weit über 2.000 Quadratkilometer Gemeindegut in die Verfügungsgewalt alteingesessener Bauern, die fortan die Agrargemeinschaften bildeten, verschoben. Einfach so. Klammheimlich. Gleichsam über Nacht und ohne gesetzliche Grundlage. Es sollte sichergestellt werden, dass diese öffentlichen Flächen im Sinne der Bauern und zum Wohl derselben verwendet werden. Das war’s. Die Gemeinden wurden mit einem Federstrich entmachtet. Ein Grundvermögen, dessen Wert viele Milliarden Euro „schwer" ist, wurde verschoben.

    Dass „im Sinne und zum Wohl der Bauern nicht „im Sinne und zum Wohl der Gemeindebürger bedeuten kann, liegt in der Natur dieser Gegensätze. Die Tatsache etwa, dass über viele Jahrzehnte Tiroler Gemeindebürger ohne agrarischen Segen ein Vielfaches dessen für Baugrundstücke aus dem Gemeindegut bezahlen mussten, als agrarisch Gesegnete, ist nur ein Auswuchs des kranken Ungleichgewichtes, das ab den 1950er Jahren in Nordtirol und seit der NS-Zeit schon in Osttirol Wurzeln schlagen und sich zum politischen Selbstverständnis entwickeln konnte. Selbstverständlich wurde, dass Bauwillige mit Landwirts-Blut – in Mieming beispielsweise – sieben Euro oder weniger pro Quadratmeter zahlen durften und Ortsfremde 250 Euro oder mehr. Blut und Boden – immer schon bildeten die beiden eine unheilvolle Kombination. Mit nicht minder unheilvollen Auswirkungen. Spätestens, seit Anfang 2012 bekannt wurde, dass die „NS-Regulierungen" in Osttirol wohl als Vorbild für die Nachkriegs-Enteignungen in Nordtirol dienten, bekam die Tiroler Jahrhundert-Causa einen noch abstoßenderen Geschmack.

    Unter dem Deckmantel eines bizarr argumentierten, faktisch haltlosen und doch politisch von der Tiroler ÖVP gedeckten „Urrechtes" von Bauernfamilien durften sich über Jahrzehnte bäuerliche Parallelregierungen in den Tiroler Dörfern einnisten, um die Bodenpolitik und mit ihr einen Großteil der Dorfentwicklung zu bestimmen. Weder demokratisch noch sonstwie legitimiert konnten Menschen politische Regie führen, deren Gesellschaftsbild das Grundprinzip der Gleichheit allein durch ihre Position konterkarierte und die sich teils mit eigennütziger Willkür am öffentlichen Eigentum – dem Gemeindegut – bedienten.

    Eine arrogante, machtbewusste und skrupellose Überzeugung stand Pate für diesen „größten Kriminalfall der Tiroler Nachkriegsgeschichte, den größten Kriminalfall, den die Politik zu verantworten hat. So hatte Georg Willi, bis Sommer 2012 Klubobmann der Tiroler Grünen, die Übertragung des Gemeindegutes an die Agrargemeinschaften zu Beginn der Agrargemeinschafts-Diskussion in Tirol bezeichnet. Fritz Dinkhauser, ehemaliger AK-Tirol-Präsident und Chef des Bürgerforums im Tiroler Landtag, hatte erkannt, dass hier „unfassbares Unrecht auf dem Rücken und zu Lasten der Gemeinden passiert ist. Ex-Landeshauptmann-Stellvertreter Hannes Gschwentner (SPÖ) nannte es „Diebstahl und sein SP-Kollege, der Nationalratsabgeordnete Kurt Gaßner, bezeichnete die Übertragungen am 19. Jänner 2012 im Parlament als eine „Enteignung der Gemeinden über komische Umwege.

    Erstaunlich ist, dass zwischen Willis, Dinkhausers oder Gschwentners erster Empörung und Gaßners Feststellung bis zu sechs Jahre liegen und dass in diesen Jahren zahlreiche zusätzliche Ungeheuerlichkeiten aufgedeckt wurden, welche die harte Wortwahl untermauern. Erstaunlich ist, dass die Tiroler Gemeinden nach wie vor der konkreten Wiedergutmachung des jahrzehntelangen Unrechts oder schlicht der Rückgabe ihres Eigentums harren und die Bürgermeister befürchten müssen, dass dies nie in korrekter Weise passieren wird.

    Längst wird die Agrar-Causa als Schwester des Ortstafelstreits in Kärnten bezeichnet. In beiden Fällen wird die Verfassung mit Füßen getreten. In beiden Fällen ist die politische Haltung untragbar. Doch in Tirol geht es zudem um viel Geld und darum, wer das Land in Wahrheit regiert. Erst wenn bedacht wird, dass die Gemeindeguts-Agrargemeinschaften Teil des Machtsystems oligarchisch agierender Polit-Funktionäre sind, wird verständlich, warum die nur äußerlich bäuerlich motivierten VP-Politiker sich derart einer raschen Lösung widersetzen. Auch die Tatsache, dass knapp 60 Prozent der Agrargemeinschaftsmitglieder keine praktizierenden Bauern mehr sind und lediglich Nutznießer der Verfassungswidrigkeit, verdeutlicht, dass es hier nicht um „die Bauern" geht, den Erhalt der Landwirtschaft oder andere halbromantische ländliche Agenden. Es geht um mehr. Es geht um das Gerüst, auf dem das System Tirol steht. Darum scheint es so schwer, es zum Einsturz zu bringen.

    Die abenteuerlich anmutenden Hintergründe führen leicht in Versuchung, die Tiroler Agrar-Causa mit Worten aus dem „Krimijargon zu umschreiben, den Verantwortlichen „mafiös anmutende Tendenzen zu unterstellen und die Agrargemeinschaften an sich als „Raubgutgemeinschaften" (Zitat Ulrich Stern) zu bezeichnen. Die Tatsachen, dass es sich um ein Euro-Milliardenvermögen handelt, das da durch die falschen Hände verwaltet wurde, dass es eine kleine Gruppe war, die davon profitierte und dass dieser wahnwitzig anmutende Missstand zum Nachteil der Gemeinden und der Mehrheit der Gemeindebürger auf allerhöchster politischer Ebene gedeckt, geschützt und gefördert wurde, machen es schwierig, die harten Worte weich zu klopfen. Beim Blick zurück, dem Blick in die Zeit, in der der Skandal seinen Anfang nahm, wird das Weichklopfen schlichtweg unmöglich.

    Nachzuvollziehen, was damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Köpfen der agrarisch dominierten Tiroler Politiker vor sich ging, ist gar nicht so schwer. Die Geisteshaltung, mit der die verfassungswidrigen Übertragungen passierten, hat sich im Laufe der Jahrzehnte nicht in Luft aufgelöst. Im Gegenteil. Diese Geisteshaltung scheint heute so lebendig wie kaum zuvor. Denn sie wird heute mehr als je zuvor laut geäußert. Wer sie hören will oder vielmehr lesen, muss sich lediglich in die Online-Foren der radikalen Agrarier-Vereinigungen Plattform Agrar oder Agrar West „klicken" (www.plattform-agrar.at; www.agrar-west.at) – und darf staunen.

    Mögen derartige Anonym-Foren auch noch so kritisch zu hinterfragen und mögen die Aussagen auch nur als spärlich repräsentativ zu qualifizieren sein, so ist es doch „Radikal-Agrariers Stimme", die da spricht. Es ist eine Stimme, die der Seite jener Agrargemeinschaftsmitglieder, die das Gemeindegut partout nicht zurückgeben wollen, Ausdruck verleiht und eindrücklich zeigt, mit welchen abwegigen Anachronismen sich die Bevölkerung des Landes Tirol im 21. Jahrhundert auseinandersetzen muss.

    Ein „Sepp schrieb da beispielsweise am 22. Juni 2011: „Eine Frechheit! Es geht nur darum, dass den Bauern der Grund genommen werden soll, aber nicht mit uns. Wir sollten wie die Leibeigenen für die Gemeinde arbeiten, sicher nicht mit uns. Jeder weiß, dass immer die Bauern Besitzer waren. Nicht einmal um 1500 konnte der Grundherr über das Gut verfügen. Jetzt sollen wir auf einmal wieder Knechte sein?

    Es sind weit wüstere Aussagen in den Foren zu finden, doch der „Sepp" trifft den Grundtenor der agrarischen Argumentationskette recht genau.

    Behauptet wird, dass die „Urbauern" beziehungsweise Stammsitzliegenschafts-Familien seit den Zeiten Maximilian I. oder schon vorher die wahren Herren über Grund und Boden in Tirol waren bzw. sind. Behauptet wird, dass die politischen Gemeinden keine wie auch immer gearteten Rechte auf die Gemeindegrundstücke hatten bzw. haben. Behauptet wird auch, dass dies alles belegbar sei und der Verfassungsgerichtshof gründlich irrt. Dann, wenn er davon ausgeht, dass den Gemeinden das gesamte Gemeindegut samt der damit erzielten Gewinne beziehungsweise des so genannten Substanznutzens zusteht und den Agrargemeinschafts-Mitgliedern lediglich die Holz- und Weidenutzung, die den Haus- und Gutsbedarf nicht übersteigen darf.

    In den Agrarier-Runden, die gegen die Verfassung kämpfen, verfestigte sich die Überzeugung, dass es eine historisch wie juristisch beweisbare Zweiklassen-Gesellschaft gibt, in der – überspitzt formuliert – den Familien der alteingesessenen Landwirte gleichsam alles Gemeindegrundvermögen gehört und dem Rest der Bevölkerung nichts. Absurd wird die Argumentationskette etwa bei eingehendem Studium der Rechtsakte, Gesetze oder aber der Dokumente, mit denen das Gemeindegut im 19. Jahrhundert vom Landesfürsten ausdrücklich den Gemeinden und nicht den Bauern – so alt ihre Stammsitze auch sein wollten – übertragen worden war.

    Würde die Wunschvorstellung der jahrzehntelang mit fremdem Eigentum „hantierenden Agrarier stimmen, dann müssten die Landwirts-Erben in Tiroler Orten, in denen die Gemeinden den rechtswidrigen Übertragungen entkamen und unbestritten verfügungsberechtigt über ihr Grundeigentum geblieben sind, längst hergehen und die Herstellung des aus ihrer Sicht rechtmäßigen Zustandes in die Wege leiten. Dieser Zustand müsste in der Logik der Agrarier darin bestehen, dass die Gemeinden ihr Grundvermögen an die alten Bauernfamilien übertragen und diese zudem für die Jahre entschädigen, in denen die Gemeinden zu Unrecht über das vermeintliche „Bauerngut verfügten, es bewirtschafteten, verkauften oder sonst wie damit Gewinne erzielten.

    Es ist jedoch noch kein Fall bekannt, in dem eine geschwind gegründete Agrarier-Gemeinschaft in jüngster Zeit hergegangen wäre, um der Gemeinde das Gemeindegut streitig zu machen. Allein das entlarvt die hartnäckig vertretene Argumentationslinie als geschickt inszenierte doch rechtlich vielfach fragwürdige Fata Morgana. Dass die Hardliner unter den Agrargemeinschaftsmitgliedern lediglich die Wonnen des Gemeindegutes behalten wollen, die damit verbundene Macht, die damit verbundenen Einkünfte und die damit verbundenen persönlichen Vorteile, klingt – will man die Triebfeder ihres Kampfgeistes ergründen – jedenfalls treffsicherer. Auch, weil es diese Triebfeder war, die am Beginn der gigantischen Vermögensverschiebung stand.

    Als nach dem Zweiten Weltkrieg die „Enteignungen der Nordtiroler Gemeinden in die Wege geleitet wurden, war Alois Grauß (1890–1957) Landeshauptmann von Tirol. Grauß, selbst Landwirt und Bauernfunktionär, nährte jene Bauern-Dramaturgie, die zu dem nachhaltig ungerechten Tiroler Zustand führte, auf seine Art. Einerseits, indem er den Beamtenstab des damaligen Agrarlandesrates Eduard Wallnöfer bei den geschickt eingefädelten Regulierungen des Gemeindegutes und der damit einhergehenden Übertragung des Eigentums gewähren ließ. Andererseits, indem er aus heutiger Sicht zumindest fragwürdige Beiträge verfasste, die in seinem Sterbejahr Einzug in das Tiroler Jungbürgerbuch hielten und beispielsweise mit „Der Bauernstand, der Blutquell des Volkes betitelt waren.

    Derart in die Schranken verwiesen, bekamen auch die jungen TirolerInnen des Jahres 1957, die nicht dem Bauernstand angehörten, zu lesen:

    „[…] solange die Städte in den weichenden Bauernsöhnen und -töchtern ihre Geistes- und Blutauffrischung holen, um nicht der Degeneration oder Invasion heimatloser Menschen zu verfallen; […] solange wir brave Bauernmütter und eine ideale Bauernjugend haben – so lange ist unser Reichtum größer als unsere Not, solange braucht die Welt den Bauernstand und bleibt Tirol in Bauernhand!"

    Damit nicht genug, verklärte Grauß das idyllische Bild der kinderreichen Landwirtsfamilie und schrieb im Zusammenhang mit der Pflege des Waldes: „Der Bauer will sein Eigentum nach Belieben verwalten."

    Dass „der Bauer" nicht nur sein redlich erworbenes Eigentum als solches betrachtete, sondern auch das Eigentum der Gemeinde – das als Gemeindegut bezeichnete öffentliche Vermögen – war 1957 längst deutlich geworden. Rädelsführer der folgenschweren Eigentumsverschiebung war mit Eduard Wallnöfer jener Bauernpolitiker, der damals zum Sprung in eine schier ewige Karriere an der Spitze des Landes ansetzte.

    Für seinen politischen Erfolg und die Nachhaltigkeit, mit der seine Überzeugungen das System des Landes durchdringen konnten, war wohl nicht zuletzt jenes Bollwerk verantwortlich, das nach dem Zeiten Weltkrieg Stück für Stück erbaut wurde.

    Es war ein Bollwerk gegen die gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit, gegen die vermeintliche kommunistische Gefahr und gegen die Tatsache, dass die Zahl der Bauern in den Dörfern ab- und die Zahl der Nichtbauern zunahm.

    Angst ist nie ein guter Berater. Angst vor Machtverlust möglicherweise der gefährlichste. Diese Angst gepaart mit der Überzeugung, dass das vermeintlich agrarisch strukturierte Tirol dem Untergang geweiht wäre, wenn es von Menschen geführt würde, die keinen landwirtschaftlichen Hintergrund haben und die proportional zu den diesbezüglichen Verhältnissen in der Gesellschaft Einfluss auf die Politik zu nehmen drohten, war es, die plötzlich überhandnahm. Mit den Eigentumsübertragungen bekam sie Gestalt. Ein „Monster" wurde geboren, das die Gemeinden über viele Jahre in Geiselhaft nehmen sollte.

    Was die Bauernfunktionäre und die verantwortlichen Beamten der Agrarabteilung wirklich im Schilde führten – nämlich die totale Entmachtung der Gemeinden und die auf keinem Gesetz beruhende Implementierung der bäuerlichen Alleinherrschaft über die Gemeindegrundstücke –, wurde im Tiroler Landtag nie dezidiert besprochen. Genau genommen gab es auch keinen echten Anlass für die Regulierungen. So war etwa in den Waldbüchern der Gemeinden die Nutzung des Gemeindewaldes seit jeher geregelt worden. Das Gemeindevermögen darüber hinaus amtlich zu regulieren und die Nutzungsrechte in einem Bescheid festzuschreiben, machte vor dem Hintergrund überhaupt keinen Sinn. Zudem waren die Eigentumsverhältnisse in den Tiroler Gemeinden Anfang des 20. Jahrhunderts in den Grundbüchern festgehalten worden. Ein langwieriger Prozess war dem voraus gegangen, im Zuge dessen die Landwirte bereits großzügiges Entgegenkommen genossen hatten. Es gab nichts mehr zu regeln. Nur vor dem Hintergrund, dass die Gemeinden zugunsten der Agrarier entmachtet werden sollten, bekamen die Regulierungen Sinn.

    Diese Gefahr wurde zumindest geahnt, als der Tiroler Landtag im Jahr 1952 über das Tiroler Flurverfassungsgesetz debattierte, dessen zweites Hauptstück sich mit den Agrargemeinschaften befasste. Vordergründig sollte damit die Bewirtschaftung der Gemeindegüter geregelt werden. Hintergründig ebnete es über die Regulierungsverfahren den Weg zu dem, was Georg Willi Jahrzehnte später als „Kriminalfall" bezeichnen sollte. Wobei im Gesetz selbstverständlich nicht von Enteignung oder Eigentumsverschiebung die Rede war. Das hätten auch die ruchlosesten Planer nicht gewagt. Nein, Taktik im für Außenstehende fast undurchdringlichen Dickicht der Agrargesetzgebung und der Auslegung derselben scheint, das politische Ziel des agrarischen Machterhalts derart zu verklausulieren und in offiziell klingende Watte zu packen, dass der Weg nur selten hinterfragt, das Ziel aber erreicht wird. Zu viel Offenheit und Klarheit ist da hinderlich.

    Juristen wissen zu berichten, dass die Trennung von potenziell systemkritischer Spreu und systemtreuem Weizen vielfach schon während des Studiums der Rechtswissenschaften in Innsbruck stattgefunden hat. Wollte sich ein systemfremder oder als allzu kritisch in Erscheinung getretener Student an der Uni-Bibliothek juristische Bücher zum Wesen des Agrarrechtes ausleihen, waren diese vergriffen. Zufall? Selbst wenn dies der Fall ist, ist es wieder das dadurch erreichte Ziel, das daran zweifeln lässt. Ohne die einschlägige Literatur lesen zu können, tauchen keine Fragen auf und ohne Fragen finden keine unangenehmen Diskussionen statt. Trotzdem dieses Detail als Teil einer großen agrarischen Verschwörungstheorie verstanden werden könnte, könnte das doch eine Erklärung dafür sein, dass es selbst eingefleischte Juristen kalt traf, als die Hintergründe zum Tiroler Krimi langsam ans Tageslicht sickerten.

    Die juristischen Details und die Vorgeschichte waren im Sitzungsreigen des Landtages vom Sommer 1952 lediglich marginal thematisiert worden. Nur eine Handvoll Politiker oder Landesjuristen hatte den Überblick. Wissen ist Macht.

    Damals wie heute stehen den alten landwirtschaftlichen Betrieben gewisse, am konkreten Bedarf sich orientierende Nutzungsrechte an Wald und Weide des Gemeindegutes zu.

    Holz durfte beispielsweise im Gemeindewald geschlägert werden, um Häuser oder Zäune zu bauen und die Stuben zu heizen. Das Vieh durfte auf den Gemeindeweiden grasen, um es satt zu bekommen etc. Obwohl diese Nutzungsrechte am Gemeindegut seit jeher Anlass für unheilvolle Auseinandersetzungen waren und nicht selten in dörflichen Kleinkriegen gipfelten, blieb letztlich unbestritten, dass es sich bei diesen Grundstücken – mal Allmende genannt, mal gemain, mal Gemeindegut – um allgemeines bzw. Eigentum der Gemeinden handelte.

    Bis der Bauernstand sich anschickte, eine Minderheit in den Dörfern zu werden, war es offensichtlich nicht nötig, groß über die rechtliche Beschaffenheit des Gemeindegutes zu diskutieren.

    Die Nutzungsrechte am Gemeindegut wurden von Beginn an recht archaisch aufgeteilt, indem der Zugang dazu die Dorf-hierarchie widerspiegelte und – vereinfacht dargestellt – der größte Bauer am meisten Holz und Weide für sich beanspruchte.

    „Im Verlauf der Jahrhunderte entwickelten sich innerhalb der Bauernschaft verschiedene Besitzkategorien: Ganz-, Halb- und Viertellehner, schrieb Otto Bauer, Sozialdemokrat und führender Theoretiker des Austromarxismus in seinem 1925 erschienenen Buch „Kampf um Wald und Weide. „Zugleich entwickelten sich im Dorfe auch Bevölkerungsschichten, die nicht mehr zu den Bauern gerechnet

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