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Weißer See
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eBook238 Seiten3 Stunden

Weißer See

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Über dieses E-Book

Ein Architekt bekommt den Auftrag, die Ruine eines Herrenhauses wieder zum Leben zu erwecken – er muss sie restaurieren/rekonstruieren. Er taucht ein mit seinem Verstand und seinen Emotionen in jede Einzelheit, die er in der Ruine findet. Von den gefundenen Spuren rekonstruiert er, in seiner Vorstellung zuerst, das vergangene Leben und die Würde dieser Gebäude.
Während dieser Arbeit entdeckt er auch Spuren eines menschlichen Schicksals: das der Leonora Hoffmann, erkrankt an Demenz Typ Alzheimer. Die anfängliche Neugierde, etwas über dieses Schicksal zu erfahren, wird schnell zur Leidenschaft des Architekten. Ja, die Re-konstruktion des tragischen Lebens von Leonora wird, neben der Restaurierung des Gebäudes, seine zweite, freiwillige, Aufgabe – eigentlich wird sie zu seiner Hauptaufgabe.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Juli 2015
ISBN9783739255583
Weißer See
Autor

Thomas Brandsdörfer

Thomas Brandsdörfer wurde in Rumänien als Sohn eines Deutschen und einer Russin, die 1917 ihre Heimat verlassen musste, geboren. Seit 1969 ist er im Bereich der Kunst und der Kunsttheorie tätig. Er war Schauspieler, Regisseur, Dramaturg und hat Bühnenbilder und Plakate entworfen. Seine Bühnenadaptation des Werkes Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam hat er in Deutschland uraufgeführt. In Schweden hat Thomas Brandsdörfer eine internationale Kunstgalerie gegründet und über mehrere Jahre geführt. Er hat zahlreiche Kommentare, Artikel und Studien über Kunst in Fachzeitschriften, im Fernsehen und Hörfunk veröffentlicht. In den 70-er Jahren hat er entscheidend bei der Gestaltung der Kunstseiten der Literaturfachzeitschrift Steaua in Cluj Napoca (Klausenburg) mitgewirkt. Seit 1975 schrieb und veröffentlichte der Autor 8 Bücher (5 mit Essays, 3 Romane). Seine in Rumänisch verfassten Schriften signiert er mit dem Pseudonym Vladimir Brândus. Seit 1980 lebt und arbeitet Thomas Brandsdörfer in Düsseldorf.

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    Buchvorschau

    Weißer See - Thomas Brandsdörfer

    Vorwort und Widmung

    In einem in Rumänisch verfassten Essay mit dem Titel Zeit, Gewässer und Blicke (Anschauungen)¹ habe ich einen Vergleich zwischen Gewässern und verschiedenen Altern des Menschen gewagt. Demzufolge:

    ➢ Dem Bach entspricht die erste Kindheit – beide sind bukolisch (dazu spielen sie sorglos und ohne Halt).

    ➢ Der Fluss ähnelt der Jugend – beide haben eine romantischheroische Note (sie kämpfen, setzen sich durch!).

    ➢ Der Strom kann die Reife symbolisieren – beide haben etwas Mythologisches (sie haben alles erreicht, was zu erreichen ist, sie kämpfen nicht mehr, sondern genießen den Sieg; Strom und reifer Mann bedeuten die Zeit des Gebens von Wissen und Leben; beide sind Väter par excellence).

    ➢ Das Meer kann die fortgeschrittene Reife und das Alter sein – beide sind apollinisch (sie genügen sich selbst, lassen sich kaum beeinflussen; der Mensch im Meerwasser-Alter ist oft ein Weiser, der wie ein Leuchtturm seinen Mitmenschen Orientierung gibt und Horizonte zeichnet).

    ➢ Der See hat Eigenschaften, die sehr ähnlich mit dem fortgeschrittenen Alter sind – beide haben einen siderischen Zustand (See und sehr alte Menschen entfernen sich von der Welt und blicken stets nach oben zu einem anderen Stern; Gaston Bachelard sagte: der See ist ein riesiges und ruhiges Auge; und Paul Claudel bemerkte: der See ist der Apparat der Erde, um die Zeit zu betrachten; besonders die Menschen im Seewasser-Alter, erschöpft, vergessen alles, was sie wissen und verstehen könnten und schweben schon in einer anderen Welt, einer guten und einfachen Welt, aber einer eigenen Welt!).

    Gewöhnlich nennt man diesen Zustand „Krankheit" – Demenz Typ Alzheimer. Ich nenne es Segen und Gnade.

    Ich widme dieses Buch allen Menschen, die in diesem Alter sind oder demnächst sein werden. Das Seewasser-Alter…


    ¹ Siehe das Buch Plimbări printre idei şi emoţii 2013-2014 erschienen in Rumänisch bei BoD, 2015 und signiert mit dem Pseudonym Vladimir Brânduş.

    Inhaltverzeichnis

    Kapitel I

    Kapitel II

    Kapitel III

    Kapitel IV

    KAPITEL I

    Als ich an einem sonnigen Morgen des Monats Juni mein Büro betrat, rief sofort die Vorstandssekretärin unserer Firma an. Sie sagte mir, ich müsse bei dem „großen Chef vorstellig werden. Der „große Chef bedeutete in unserer Architekturfirma Herr Vos Senior, im Gegensatz zu den anderen zwei Chefs, auch namens Vos, seinen Söhnen und zukünftigen Erben der Firma.

    Zu Herrn Vos Senior gerufen zu werden war für jeden Firmenangestellten äußerst ungewöhnlich, denn so etwas passierte sehr selten, in der Regel nur bei der Unterschrift des Arbeitsvertrages oder bei der Kündigung. Herr Vos war eine Art Patriarch. Er beschäftigte sich nur mit den wichtigeren Problemen der Firma, das restliche alltägliche Geschehen überließ er seinen Söhnen: Herbert, Architekt, und Erwin, Betriebswirt. Für uns, die ca. zwanzig Angestellten, auch wenn wir studierte Architekten waren und mehr noch für die weniger qualifizierten, waren die Referenzpersonen, die wahren Chefs nur die Söhne von Herrn Vos – beide genug arrogant und streng. Wirklich, der „große" Chef schwebte hoch im Himmel.

    Sicher war ich aufgeregt, den ehrwürdigen Chef zu treffen. Eine Art Sorge, ja, sogar Bange erfasste mich. „Nicht dass ich etwa die Kündigung bekomme? Gar nicht unmöglich, denn ich fühlte schon lange Zeit, dass ich irgendwie „auf die tote Linie geschoben war. In den sechs Jahren, die ich in diesem Büro als Architekt arbeitete, hat man mir kein ganzen Projekt anvertraut. Diese ganze Zeit musste ich für andere Kollegen, Projektleiter, allerlei Nichtigkeiten konzipieren und zeichnen: Treppen, Türen, kleine Anbauten, Häuschen für Pförtner oder banale Garagen. Ja, wenn tatsächlich von der Kündigung die Rede ist, werde ich Herrn Vos Senior bitten, mir noch eine Chance zu geben und ein ganzes Projekt zu übertragen. Ich will endlich zeigen, was ich mit meinen achtunddreißig Jahren kann und wofür ich so lange Zeit Architektur studiert habe.

    Als ich den eleganten Raum von Herrn Vos betrat, bemerkte ich gleich, der „große Chef ist gut gelaunt, sogar fröhlich und nett zu mir. Als er bei der Sekretärin zwei – zwei! – Kaffees bestellte, habe ich mich endgültig beruhigt. „Ich glaube kaum, dass über eine Kündigung die Rede ist, habe ich mir Mut gemacht. Unklar blieb aber, zu welchem Zweck er mich bestellt hat. Die Antwort kam unverzüglich:

    „Lieber Kollege, du bist bei uns seit… fünf Jahren und…"

    „Es sind schon sechs, Herr Vos"

    „So! Genau! Sechs Jahre, hat Vos sich selbst berichtigt, als er durch meine Papiere blätterte. „Ich sehe, während deines Studiums hast du in dem Fach Kunstgeschichte sehr gute Noten gehabt. Allerdings erinnere ich mich an eine Diskussion über dieses Thema, das wir damals bei deiner Einstellung hatten. Sehr interessantes Gespräch! Erinnerst du dich?

    „Selbstverständlich. Wie könnte ich es vergessen."

    „Ja. Ich war beeindruckt von diesem Gespräch. Es gibt Architekturprojekte die, mehr als gewöhnlich, kunstgeschichtliche und stilistische Kenntnisse und auch erhöhte Sensibilität besonders für die Kunst verlangen. Du weißt es gut, nicht wahr?"

    „Sicher."

    „Meiner Meinung nach, setzte er fort, „sind solche Projekte die interessantesten in der Architektur. Er schloss mein Dossier mit den Personalien und legte es beiseite, öffnete einen anderen Ordner. Diesen durchblätternd, sagte er: „Keine lange Rede. Deine Stunde ist gekommen! Hier ist ein neues Projekt, sehr wichtig für unsere Firma. Ein Projekt, das gerade viel künstlerische Sensibilität verlangt. Ich bin der Ansicht, du bist der richtige Mann, um dieses Projekt durchzuführen." Er gab mir den Ordner.

    Meine Freude war grenzenlos.

    „Herr Vos, Sie können sich nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass Sie mir so viel Vertrauen schenken! Ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nicht enttäuschen. Ich werde arbeiten…"

    „Lass das, Kollege! Ich weiß, du schaffst es. Ich weiß, du wirst eine sehr gute Sache machen. Bevor du den Ordner studierst, erlaube mir einiges über dieses Gebäude zu sagen: Das Haus, das du auf den Fotos in den ersten Seiten siehst, war der Landsitz einer Grafenfamilie. Es wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ungefähr 1860 oder 70 – siehe genau in den Akten – erbaut. Etwa 1938 verarmten die Grafen und, um Steuerschulden begleichen zu können, wurden sie gezwungen das Haus dem Staat zu übertragen. Während des Krieges war dort ein Militärhospital. Nach dem Krieg war das Haus bis 1955 unbewohnt, was seinen technischen Zustand sehr verschlechtert hat. Ab 1955 wurde das Haus an eine private Stiftung für soziale Pflege verpachtet. Diese hat da ein Altenheim eingerichtet. Wegen finanzieller Schwierigkeiten hat die Stiftung vor zwanzig Jahren das Altenheim geschlossen. Nach ein paar Jahren Unentschlossenheit, was mit dem Gebäude zu machen sei, hat die Stiftung endgültig aufgegeben. So ist der Landsitz wieder in die Obhut des Staates gekommen. Aber diese ‚Obhut‘ bedeutete eher eine unverzeihliche Nachlässigkeit seitens des Staates, was noch einmal den Zustand des Gebäudes verschlechterte. So wie du auf den Fotos sehen kannst, ist das Gebäude jetzt eher eine Ruine. Endlich hat sich ein reicher Investor gefunden, der die Ruine für einen lächerlichen Preis kaufte. Er ist aber willig, im großen Stil zu investieren, um ein Luxushotel zu errichten."

    „Interessante Geschichte."

    „Interessant, aber vor allem traurig für das Haus, ergänzte Vos. „Ein Gebäude, das insgesamt mehr als dreißig Jahre leer, unbenutzt, unbeheizt und ungepflegt gestanden hat! Ich bitte dich, keine Sekunde die Tatsache zu vergessen, dass so hinfällig wie es ist, dieses Gebäude ein Kunstwerk in reinstem klassischem Stil darstellt. Noch mehr: Der Graf, der dieses Haus gebaut hat, war anscheinend ein Kenner und Liebhaber der Kunst, denn auf den Innenwänden sind noch Reste von Malereien von großer Qualität zu sehen. Eben diese Malereien, wie auch die Stuckreste und die Skulpturen, müssen restauriert und, bei Bedarf, sogar ergänzt und erweitert werden. Für dieses Projekt steht viel Geld zur Verfügung… sehr viel Geld! Hauptsache es gelingt, wie es gedacht ist. Das hängt nur von dir ab: Wie du arbeitest, was für Firmen, was für Künstler und Handwerker du anstellst. Ich bitte dich, auch auf die Statik gut aufzupassen! Es scheint, da sind große Probleme. Selbstverständlich sind die Wünsche des Investors in dem Ordner, den ich dir gegeben habe, detailliert aufgelistet. Es sind nicht wenige und nicht einfache: Er will einen Konferenzsaal, ein bedecktes Schwimmbad, eine Sauna, ein Restaurant mit großer Küche etc. etc. Möglicherweise sollst du auch einen Anbau planen. Aber sein größter und wichtigster Wunsch ist die Stilreinheit des ganzen Ensembles. Ab diesem Moment bist du von jeglicher anderer Arbeit entbunden und beschäftigst dich ausschließlich mit diesem Projekt. Schon morgen fährst du zum Rathaus des kleinen Städtchens Burg am See und nimmst mit einem gewissem Mayer Kontakt auf. Er wird dich zu dem Gebäude führen. Jeden Montagmorgen hast du mich – mich persönlich und niemanden anderen! – über den Lauf der Dinge zu informieren. Mich interessiert dieses Projekt besonders. Ist das klar? Ist alles klar?

    „Ja, Herr Vos. Alles ist klar."

    „Gut! Dann wünsche ich dir viel Glück!"

    „Ich danke Ihnen."

    Als ich das Büro des „großen" Chefs verließ, wäre ich fast mit seinem ältesten Sohn, dem Herrn Architekt Herbert Vos, der gerade reinkommen wollte, zusammengestoßen.

    „Oh, entschuldigen Sie", sagte ich.

    „Guten Morgen! Welche Ehre, einen neuen Projektchef zu treffen", sagte dieser mit deutlicher Ironie und betrat das Zimmer seines Vaters.

    Wahrscheinlich wegen meiner Freude habe ich dem spöttischen und boshaften Ton des Juniorchefs kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe nicht verstanden, ich konnte damals nicht verstehen, dass dieser unfreundliche Ton eine Warnung bedeutete, und zwar, dass ich mich mit dem Projekt, das mir anvertraut wurde, auf einem verminten Terrain bewegte. Ein sehr gefährliches Terrain. Ganz einfach, ich war zu glücklich und ungeduldig, die Arbeit zu beginnen.

    ***

    Ausgerüstet mit einem Fotoapparat, einem Heft für Skizzen und einem Entfernungsmesser mit Laser habe ich mich den Tag danach zu dem alten Landsitz auf den Weg gemacht. Nur ein paar Minuten nach der Autobahnausfahrt bin ich in dem malerischen Städtchen Burg am See angekommen. Im Rathaus fand ich den Herrn Mayer, einen sympathischen Mann um die sechzig Jahre alt. Dieser hat mir die Schlüssel des Tores der Anlage und noch zwei von der Haustür und dem Keller übergeben. Er sagte, mehr Schlüssel gäbe es nicht, denn fast alle Türen seien kaputt oder sogar aus den Rahmen entfernt worden, ganz einfach von der Zeit zerstört. Mayer fügte hinzu, er sei beauftragt, mich am ersten Tag zu begleiten, um mir den Weg dorthin und das alte Gebäude in allen Einzelheiten zu zeigen. Er stieg in meinen Wagen und wir fuhren los. Mein Begleiter war sehr gesprächig. Sofort hat er angefangen:

    „Eh, mein Herr, ich weiß nicht, ob Sie diese Region kennen…"

    „Nein. Nicht so gut. Ich glaube, ich war hier nur ein einziges Mal, aber viele Jahre ist das her."

    „Schauen Sie! Sehen Sie, wie schön es hier ist?"

    Tatsächlich, die Landschaft war schön. Wir fuhren an einem See entlang, auf der linken Seite die Ufer mit grünen Wiesen und kleinen Buchten, auf der rechten, nicht sehr weit, erhoben sich ziemlich hohe, bewaldete Hügel.

    „Eh, mein Herr, fuhr Mayer fort, „ich bin in dieser Gegend geboren. Hier ist meine Heimat. Hier bin ich zuhause. Nicht 'mal tot würde ich diese Umgebung verlassen. Ich bin stolz und glücklich, dass ich das ganze Leben hier gewohnt habe. Als ich ein Knabe war, fuhr ich mit einer Clique Jungs in einem Boot draußen auf den See. Aber wir entfernten uns nie sehr weit vom Ufer – wir hatten sogar Angst, so etwas zu machen! Dieser See ist gefährlich! Hat Wasserwirbel und sehr oft Nebel. Nebel, dass man nichts mehr sieht. Deswegen wird er Weißer See genannt. Man erzählt, viele haben in den Tiefen des Weißen Sees ihr Ende gefunden. So ruhig, wie Sie ihn sehen… dieser See ist sehr trügerisch.

    „Und das Herrenhaus, wo wir hinfahren, ist am Ufer?"

    „Sicher, mein Herr! Wieso denn nicht? Der alte Graf wusste wohl, wo er seine Residenz baute. Was für ein schönes Haus muss es gewesen sein! Damals… damals, mein Herr! Ich habe es nicht mehr in seiner vollen Schönheit erlebt. Ich bin zu spät geboren. Aber ich kenne das Haus! Ich kenne es sehr gut. Als ich jung war, am Anfang der 70-iger Jahre, habe ich in der Verwaltung des Altenheims gearbeitet. Nach zweieinhalb Jahren hat man mich im Rathaus eingestellt. Besser so."

    „Richtig, sagte ich, „Sie haben jetzt einen sicheren Arbeitsplatz. Wenn Sie bei dem Altenheim geblieben wären, würden Sie arbeitslos geworden sein.

    „So ist es. Auf der einen Seite…ist es besser deswegen…"

    „Und auf der anderen Seite? Warum ist es besser, nicht mehr im Heim gearbeitet zu haben?"

    „Traurigkeit, große Tragödie im Altenheim."

    „Wie? In welchem Sinne?"

    „‚In welchem Sinne… In welchem Sinne…‘ Herr, man sieht, Sie haben nie ein Altenheim gekannt."

    „Ich gebe zu: ich habe es nicht gekannt."

    „Bleiben Sie zwei Wochen in einem Altenheim, so werden Sie bis in die Tiefen Ihrer Seele spüren, dass eine solche Anstalt ein Vorzimmer des Todes ist. Traurig und gespenstisch zu sehen, wie diese Menschen, ehemals begehrt, geschätzt und nützlich – jeder Mensch hat eine Nützlichkeit, nützt jemandem –, im Heim sitzen ohne etwas zu tun, ohne etwas tun zu können, unerwünscht, oft auch ungeliebt… Unnütz, sitzen und warten… warten aufs Sterben. Ich habe mit eigenen Augen gesehen: In dem Heim, wo wir jetzt hinfahren, kamen die Patienten entweder mit einer Ambulanz, oder von einem Verwandten gebracht, je nachdem; aber alle gingen raus immer gleich: liegend, zwischen vier Brettern. Immer! Von dort geht man nie lebendig weg. Das hat mich in den Jahren, in welchen ich dort arbeitete, sehr deprimiert. Deswegen ist es besser, dass ich im Rathaus angestellt wurde. So sind wir in dieser Umgebung: Menschen mit gutem Herzen."

    Mayer sprach ununterbrochen weiter, erzählte über die Region, über seine Kindheit und Jugendzeit, über den Weißen See und über eine Legende, die besagte, der See wäre ein Drachen gewesen, der durch einen Fluch in Wasser verwandelt worden sei. Entsprechend derselben Legende nimmt dieser Drache von Zeit zu Zeit Rache, indem er unschuldige Menschen ertränkt. Mayer sagte auch, dass man in der Umgebung davon spricht, die Blinden, besonders die Blinden fühlten sich von dem mysteriösen See angezogen, und ohne jeglichen Widerstand tauchten sie in die Tiefe, ihr Leben verlierend. Ich hörte die Geschichten meines Begleiters, ohne ihnen zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie waren eigentlich unbedeutend, abergläubische Provinzfolklore! Meine Gedanken blieben bei den Eindrücken Mayers von dem Altenheim hängen. „Hm… Vorzimmer des Todes. Die Patienten gingen raus immer gleich: liegend, zwischen vier Brettern… Von da gehe man nie lebendig weg, wiederholte ich in Gedanken. Sicher, ich kannte aus der Literatur und aus Erzählungen alle diese Ideen über Altenheime. Sie sind allgemein bekannt. Aber, ich weiß selbst nicht warum, dies Mal sind sie mir tief in die Seele gedrungen. Zum ersten Mal habe ich die Bedeutung von Phrasen wie: „Diese Menschen, ehemals begehrt, geschätzt und nützlich, sitzen im Heim, ohne etwas zu tun, ohne etwas tun zu können, unerwünscht, oft auch ungeliebt… Unnütz, sitzen und warten… warten zu sterben emotional aufgenommen. Ja, durch seine Erzählung hat Mayer, ohne zu wissen und ohne zu wollen, mich auf eine gewisse emotionale Richtung geschickt; und das, bevor ich den ersten Kontakt mit dem Gebäude, das ich renovieren sollte, nehmen konnte! Ich habe mich an den Ansporn eines alten Professors aus der Studienzeit erinnert. Dieser empfahl uns, wenn von der Restaurierung eines alten Gebäudes die Rede ist, uns mit einem gewissen Respekt, ja, sogar mit Pietät, solch einem Objekt zu nähern. Er sagte, so ein Gebäude ist der Gedanke und die Arbeit eines gewesenen Kollegen. Dank Mayer war ich jetzt auch von Emotionen und Pietät für mein Objekt erfasst. Aber eine Pietät, die sich nicht aufs Gebäude im architektonischen Sinne bezog, so wie der Professor verlangte, sondern auf seine damalige Funktionalität. Für mich bedeutete schon dieses Gebäude ein Wartesaal des Todes, ein Ort, wo der unerträgliche Begriff der Nutzlosigkeit des Menschen blanke Wahrheit wird.

    „Nach zweihundert Metern geht ein Weg nach links. Wir müssen darauf fahren", unterbrach mein Begleiter die Gedanken.

    Vor einem großen Tor aus kunstgeschmiedetem Eisen hielten wir an. Obwohl teilweise durchrostet, konnte man auf den beiden Flügeln des Tores die Familienwappen des Grafen, der damals dort residierte, noch sehen. Ein beeindruckendes Portal aus Stein, links und rechts mit je einer Statue eines römischen Legionärs als Wachmann, mit Säbel, Schutzschild und selbstverständlich dem berühmten Helm, umrahmte die prächtige Kunstschmiedearbeit. Mayer bat mich um den großen Schlüssel, stieg aus und öffnete das Tor. Wir fuhren noch etwas mehr als hundert Meter auf einer Allee, eingesäumt von zwei Reihen großer Bäume, mit Sicherheit sehr alt. Auf dem Weg, zwischen den Pflastersteinen, waren schon hohes Unkraut und sogar einige kleine Bäume gewachsen.

    Wir stiegen aus dem Auto. Ein starker Lindenduft erschlug mich plötzlich. Die Bäume auf der Allee waren alle Lindenbäume, jetzt im Juni in voller Blüte. Ich befand mich endlich vor dem Haupteingang des Hauses. Mehrere Minuten, vielleicht sogar eine Viertelstunde, blieb ich sprachlos, bewunderte den majestätischen Hauseingang und war von dem süßen Duft der Linden regelrecht betört. Ich wurde in die damalige Welt dieses Hauses zurückversetzt, in seine endgültig verlorenen Zeiten von Glanz und Gloria. Ich sah tatsächlich, wie elegante Fiaker eine schöne Kurve auf der gut erhaltenen Pflasterung zeichneten, um unter den bedachten Eingang, vor den Treppen, zu gelangen. Die gut polierte Lampe, die von der Decke des Eingangs hing, verbreitete über das Geschehen ein strahlendes Licht. Ich sah auch die Lakaien in ihren schicken Livreen und ihren weißen Handschuhen die Türen der Fiakers mit ausgesprochener Höflichkeit öffnen, zugleich die distinguierten Gäste willkommen heißen. Vor dem Eingang betrachtete ich auch die fünf ionischen Säulen, perfekt gemeißelt in Marmor. Im reinsten klassischen Stil trugen sie ein dezent verziertes Giebeldreieck, worauf der lateinische Satz Privata domus valet aurum zu lesen war. Eigenes Haus ist Goldes wert – ein einfacher Satz, aber wahr und voll von Bedeutungen. Eine schöne Idee hatte der alte Graf, auf sein Haus diese Wörter schreiben zu lassen!

    Ich habe aber sofort begriffen, wenn dieser lateinische Spruch in den Zeiten, in denen das Haus im Besitz der Grafenfamilie war, sehr passend gewesen ist, so war er umso mehr in den Zeiten des Altenheims zynisch und mitleidlos.

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