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Hunger auf Leben
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eBook256 Seiten3 Stunden

Hunger auf Leben

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Über dieses E-Book

Nadine ist gerade einmal 13 Jahre alt als ein Rückfall ihrer Leukämie ihr Leben drastisch verändert. Aus einem lebensfrohen Teenager wird ein hilfloses, von Schmerzen gepeinigtes Bündel Mensch. Nadine will sterben.
Trotz allem siegt ihr Hunger auf Leben. Ungeachtet der schlimmen Nebenwirkungen ihrer Therapie lebt sie mit einer Fröhlichkeit, als gäbe es ihre geheime Angst vor dem Sterben nicht. Nadines Liebe zu den Pferden ist ihr dabei Hilfe und Grund genug, sich immer wieder aufzuraffen. Als nach einem zauberhaften Urlaub in Andalusien ihre Krebszellen wieder da sind ahnt sie, dass sie nun doch sterben muss...

Die Autorin schildert unmittelbar durchlebte Situationen im Klinikalltag, die den Leser an ihrer Auseinandersetzung mit hilflosen, traurigen, ja teilweise aggressiven Gefühlen teilhaben lässt. Dabei erzählt sie sehr eindrucksvoll, wie sich Resignation, Mut, Trauer und Freude bei einer lebensbedrohlichen Krankheit schnell abwechseln können und wie Menschen unter einer solchen Belastung ungeahnte Reserven freisetzen.
Ein hilfreiches Buch für Eltern krebskranker Kinder, deren Freunde und Angehörige. Ein Buch für Ärzte und Pflegekräfte, die gerne über den Tellerrand blicken.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum14. Aug. 2012
ISBN9783844888232
Hunger auf Leben
Autor

Gabriele Wötzel

Die 1956 geborene Autorin entdeckte schon sehr früh ihre Freude an Büchern und am Schreiben. Ihre Erzählkunst fiel schon in der Grundschule positiv auf, trotzdem wählte sie später Berufe, die mit dem Schreiben und Erzählen so gar nichts zu tun hatten: Chemiefachwerkerin und 1979 Postbeamtin. Im Alter von 26 Jahren belegte die inzwischen verheiratete Autorin einen Fernkurs, um die Grundzüge des Schreibens zu erlernen. Trotz erfolgreicher Teilnahme schrieb sie erst 13 Jahre später, unter dem Eindruck der erneuten Krebserkrankung ihrer Tochter Nadine, ihr erstes Buch. Der Kreis schloss sich, die alten Neigungen und Vorlieben wurden wieder wichtig. Inzwischen arbeitet sie mit viel Freude als Buchhändlerin.

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    Buchvorschau

    Hunger auf Leben - Gabriele Wötzel

    2001

    Kapitel 1

    Seit Nadine an Krebs erkrankt ist, begleitet mich mein schwarzer Vogel. Der schwarze Vogel hat den Namen Angst. Manchmal zieht er ferne Kreise, und ich hoffe, er kommt nicht zurück. Dann ist er wieder da. Ich erwache viel zu früh am Morgen. Voller Panik hämmert mein Herz. Der neue Tag bricht an, und ich habe keine Ahnung, wie ich ihn überstehen soll.

    Es geschah im April 1994. Unsere Tochter Nadine war damals elf Jahre alt. Seit einigen Wochen sah sie auffällig blaß aus, litt häufig unter Erkältungen und hatte eine Mittelohrentzündung nach der anderen. Lustlos und müde schleppte sie sich zur Schule, ihre Leistungen ließen merklich nach. Manchmal klagte Nadine über Knochenschmerzen oder fand am Morgen Blutflecke auf ihrem Kopfkissen.

    Unser Hausarzt verordnete ihr regelmäßig Antibiotika. Ihre Knochenschmerzen führte er, genau wie ich, auf schnelles Längenwachstum in der Pubertät zurück. Womöglich hatte sich Nadine auch beim Schulsport überanstrengt.

    Am Abend des 20. April 1994 fuhr mein Mann Werner auf dringenden Rat unseres Hausarztes mit uns nach Ratingen ins Krankenhaus. Nadines Blut war nicht in Ordnung!

    „Die kleine Frau hat entweder ein schweres Rheuma oder eine Anämie." Diese Äußerung des Arztes wollte mir nicht aus dem Sinn, während ich Nadine auf dem Rücksitz unseres Autos im Arm hielt.

    Anämie? Schweres Rheuma? Oder Leukämie? Plötzlich paßten Nadines Beschwerden genau zu den Kenntnissen, die ich über diese Krankheit hatte.

    In der Klinik wurden wir schon erwartet. Nadine bekam sofort ein Bett. Apathisch lag sie auf dem weißen Kissen, das ihre Haut noch blasser erscheinen ließ. Eine blonde Krankenschwester mit einem Haarknoten im Nacken nahm ihr etwas Blut ab. Tröstende Worte. „Nur ein kleiner Pieks, dann ist es schon vorbei. Freundliches Lächeln. „Du bist aber ein tapferes Kind, so schön still gehalten hast du.

    Ein aufmunternder Blick für Werner und mich. „Der Professor spricht gleich mit Ihnen."

    „Ihre Tochter hat mit Sicherheit eine Leukämie. Was für eine wissen wir noch nicht", sagte der Professor wenig später zu uns. Wir saßen dem dunkelhaarigen Mediziner mit den ruhigen, braunen Augen gegenüber, das erste Mal in unserem Leben. Und er sagte, Nadine hätte eine Leukämie.

    Aus seinem Mund traf mich dieses Wort wie eine Keule. Entsetzt starrte ich zuerst Werner und dann den Professor an. Es ist Leukämie! hallte es in meinem Kopf wieder. Krebs. Nadine hat Krebs!

    Danach kamen nur noch Tränen. Fassungslos an meinen Mann geklammert spürte ich sie, die niemals zuvor empfundene, rabenschwarze, hilflose Angst.

    „Wir können Nadine leider nicht hier behalten. Unser Haus hat keine Kinderonkologie", führte der Professor weiter aus. Er sprach leise und mit viel Bedauern in seiner Stimme.

    Ich hörte seine Worte ohne ihren Sinn zu verstehen. Krebs! Unser Kind hat Krebs. Das ist nicht wahr. Das muß ein Irrtum sein, ein böser Traum.

    Irgendwann fuhren wir nach Hause. Nadine mußte die Nacht in der Klinik verbringen. Sie schlief, als wir ihr Zimmer verließen. Während der Fahrt starrte Werner wortlos auf die Straße. Es gab keine Worte für das Entsetzen, das uns damals überfallen hatte.

    Am nächsten Tag sollte Nadine in die onkologische Abteilung einer Universitäts Kinderklinik. Wir dürften, so versprach uns der Professor, unser Kind selbst dorthin fahren.

    Als wir Nadine früh am Morgen abholten, nahm der Professor mich kurz beiseite.

    „Sie können das schaffen, sagte er, während er meinen Blick mit seinen braunen Augen festhielt. „Ich habe Ihre Tochter beobachtet, sie ist gut geführt. Ich finde, sie hat sich unter dieser schweren Situation tadellos verhalten.

    Vor uns lagen acht Monate Chemotherapie. Wir hatten als Familie nur noch wenig Zeit zusammen. Es gab selten gemeinsame Mahlzeiten zu dritt. Keine Nadine polterte die Treppenstufen herunter und verstreute ihre Sachen im ganzen Haus. Keine Probleme mehr mit Schule und Klassenarbeiten. Unser Alltag hatte sich von einem Moment zum anderen radikal verändert. Ich war mit Nadine in der Klinik. Werner, der sich zwei Jahre vor ihrer Erkrankung selbständig gemacht hatte, mußte in unserem Laden bleiben.

    Spät am Abend kam ich von der Klinik nach Hause. Beide waren wir müde und abgespannt. Ohne unsere Nadine saßen wir im Wohnzimmer, redeten über die Dinge, die wir am Tag erlebt hatten und gaben uns alle Mühe, einander aufzumuntern. Der schwarze Vogel war in den ersten Wochen nach der Diagnose mein ständiger Begleiter.

    Heute ist der 31. Januar 1996. Seit zweiundzwanzig Tagen hat Nadine wieder Leukämie. Sie hat ein isoliertes Knochenmarkrezidiv, Krebszellen im Knochenmark. Ein früher Rückfall.

    Ich sitze im Spielzimmer „unserer" Kinderkrebsstation, bequem in die bunte Sofaecke gelehnt. Mein Blick wandert durch das vertraute Zimmer, bleibt an dem rot-weiß lackierten Schrank hängen, der mit bunten Schachteln vollgestopft ist. Spiele, Puzzles, Malutensilien, Tonpapier. Wie oft hat Nadine damals geschimpft, weil in fast jedem Puzzle Teile fehlten.

    Die Wände des Zimmers sind krankenhausweiß. Eifrige Kinder und Mütter haben sie bunt dekoriert. Da hängt ein großes Bild in einem schmalen, roten Rahmen. Es ist liebevoll mit Wasserfarben gemalt und zeigt einen Baum der riesige, hellgrüne Blätter trägt. Der Himmel hinter dem Baum ist hellblau. Auf den Ästen hocken dunkelblaue, rotgeschnäbelte Vögel.

    Ein Clown aus buntem Moosgummi, der eine windschiefe Uhr in seinen Händen hält, lächelt von seinem Platz über dem Eßtisch auf mich herab. Von der hohen Decke baumeln einige aus buntem Tonkarton gebastelte Mobiles. Tannenbäume und lächelnde Weihnachtsmänner, die Rauschebärte aus flauschiger Watte haben, drehen sich leise um sich selbst.

    Der große Wandteppich aus vielerlei bunten Stoffen hing 1994 an einer anderen Wand. Seine naiven Motive, wild gemusterte Enten, Hühner, Pferde, Kühe, eine Katze und ein Igel, der anstelle seines Stachelkleides kleine Blümchen auf dem Rücken trägt, beschäftigen für eine Weile meine Augen.

    In diesem Zimmer wird gebastelt, gegessen und gespielt. Hier ist auch der Treffpunkt für Patienten und Eltern.

    Nadine schläft. Schon seit einigen Minuten hänge ich meinen Erinnerungen nach, suche nach Bekanntem, nach Vertrautem. Ich bin ganz fürchterlich durcheinander. Nadines Rezidiv macht mir Angst.

    Meine Gedanken wandern zu ihrer ersten Therapie. „Stoppelhoppen" nannte der Professor der Station das ständige Hin und Her zwischen Klinik und zu Hause.

    Nadine liebt Pferde über alles. Ich erinnere mich an das Sommerfest 1994 in „ihrem" Reitstall. Wir hatten zwischen zwei Chemoblöcken ein paar Tage Pause. Also nichts wie hin! Nadine war mager und sehr blaß. Ihre aschblonden, halblangen Haare lugten nur noch spärlich unter der blauen Kappe hervor, die ihren heftigen Haarausfall bedeckte.

    Das Gelände des Reitstalls wimmelte nur so von Kindern und ihren Eltern. Lange Tische mit Kuchen und belegten Brötchen waren gegenüber vom Reiterstübchen aufgebaut. Lachend und schwatzend schleckten Kinder Eis und tranken Limonade.

    Nadine lebte nach den langen Wochen in der Klinik sichtbar auf. Eifrig zielte sie mit Wurfpfeilen auf bunte Luftballons, die an einem Brett befestigt unter dem Gejohle der Kinder mit lautem Knall zerplatzten. Der Hufschmied zeigte fachmännisch, wie ein Pferdehuf beschlagen wird. Und natürlich putzte Nadine ausgiebig ihr Lieblingspferd Theo.

    Als wir unsere Tochter mit all den anderen Kindern auf die nächste Runde mit der Pferdekutsche warten sahen, wurde ich unvermittelt traurig. Warum mußte ausgerechnet unser Kind so krank werden?

    Damals bemühte ich mich intensiv, mehr über die Leukämie zu erfahren. Meine Informationen über die Krankheit hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt aus Büchern, die fürchterliche Nebenwirkungen der Chemotherapie schilderten. Durch mein Wissen, so hoffte ich, würde die Krankheit einen Teil ihrer Bedrohlichkeit verlieren. Ich lernte, daß es sehr verschiedene Leukämien mit den unterschiedlichsten Heilungschancen gibt.

    Nadines Befund zeigte bei der Erstdiagnose eine akute lymphoblastische Leukämie, kurz ALL genannt. Ihr Knochenmark war voll mit sogenannten leukämischen Blasten. Das sind junge Blutkörperchen, die sich nicht normal entwickeln, sondern in frühem Stadium aufhören, weiter zu reifen. Diese Zellen vermehren sich rapide schnell im Knochenmark und verdrängen die gesunden Blutkörperchen. Das hat zur Folge, daß das Blut „dünn" wird, weil zu wenig rote Blutkörperchen vorhanden sind. Die Sauerstoffversorgung des Körpers ist so nicht mehr ausreichend, was zu Müdigkeit und Blässe führt. Werden die Thrombozyten verdrängt, neigen die Patienten zu blauen Flecken oder Blutungen. Werden zu wenige reife weiße Blutkörperchen gebildet, häufen sich die Infekte beträchtlich. Alle diese Symptome hatte Nadine: Müdigkeit, Blässe, Nasenbluten, Infekte.

    Bei manchen Leukämien, so lernte ich, ist nicht nur das Knochenmark sondern auch das Blut und manchmal sogar das Zentralnervensystem (ZNS) von Krebszellen befallen. Dieser ZNS Befall wurde bei Nadine nicht festgestellt. Unser Risiko war die sogenannte Standardrisikogruppe, unsere Chance auf Heilung lag damals bei über siebzig Prozent.

    Seit Nadine ein Rezidiv hat und eine zweite Chemotherapie bekommt, ist unser Alltag wieder einmal völlig durcheinander. Hat Nadine Therapie, sieht sie ihren Vater nur an Sonntagen, was den beiden sehr schwer fällt.

    Die Rezidivtherapie wird wegen der deutlich schlechten Prognose zudem bedeutend härter dosiert. Es gibt kein „Stoppelhoppen" mehr, die Pausen zwischen den Therapieblöcken wird Nadine voraussichtlich vorwiegend in der Klinik verbringen.

    Der Ausgang dieser Schinderei ist ungewisser denn je. Die Waage ist auf die falsche Seite gekippt. Es sind nur noch zwanzig Prozent Hoffnung übrig.

    Die Nebenwirkungen der Medikamente in den beiden Therapieblöcken, die Nadine innerhalb von drei Wochen nach der Rezidivdiagnose verkraften muß, sind verheerend!

    Von einem Tag auf den anderen zerstört die Chemo ihre Schleimhäute. Ihr Mund ist eine einzige fürchterlich schmerzende, rote Höhle. Gleichzeitig sind die Schleimhäute ihres Magens und Darms entzündet. In ihrem dünnflüssigen Stul sehe ich schwarze Blutschlieren. Nadine kann weder essen noch trinken. Sie liegt im Bett, ein leidendes Häufchen Elend.

    Morphine machen ihre Schmerzen im Mund erträglicher. Nahrung bekommt sie zwei Wochen lang per „Müslibeutel" (künstliche Ernährung) intravenös, wegen der Nebenwirkungen des Cortisons und der Chemo muß Nadine zu allem Überfluß auch noch heftige Bauchkrämpfe ertragen. Ihre meist wäßrigen Ausscheidungen sind dunkelgrün, Gallensekret. Ich muß Nadine wickeln wie ein Kleinkind, ihren Po mehrmals täglich mit Creme pflegen, denn auch hier ist die Schleimhaut zerstört.

    Wie oft entschuldigt Nadine sich bei mir, weil sie keinerlei Kontrolle über ihren Darm hat und die Hose schon wieder voll ist! Immer wieder muß ich ihr versichern, daß sie doch nichts dafür kann und wir beide das schon durchstehen. Es ist unsagbar schwer für unsere große Tochter, ihre Hilflosigkeit zu akzeptieren.

    Nadines Lebenswille ist in diesen Tagen zerstört. Sie beginnt, sich zu verweigern. Im Bett aufsetzen, ein Sitzbad mit Kamille nehmen, undenkbar. Die Morphine, die sie wegen ihrer Schmerzen dringend braucht, tragen wegen der dämpfenden Wirkung zu ihrem seelischen Tief bei.

    „Die sollen mich in Ruhe lassen, Mama. Ich will die Scheißtherapie nicht. Ich will sterben", sagt sie immer wieder unter Tränen zu mir.

    In diesen Tagen habe ich ein schlimmes Erlebnis nach dem anderen. Spricht ein Arzt oder eine Schwester mich nur an, gerate ich innerlich in Aufruhr. Was ist jetzt schon wieder passiert?

    Besonders schmerzlich ist für mich, wenn Nadine während meiner nächtlichen Abwesenheit unter Übelkeit oder Schmerzen leiden muß. Der Konflikt zwischen meinen Bedürfnissen nach Erholung und dem Willen, Nadine möglichst nicht alleine zu lassen, macht mir immer wieder ein schlechtes Gewissen. Oft fahre ich abends weinend nach Hause.

    Nach diesen schlimmen Wochen müssen die Ärzte Nadines Knochenmark kontrollieren. Dabei wird mit einer Punktionsnadel aus ihrem Beckenknochen Gewebsmaterial entnommen, das unter dem Mikroskop analysiert werden kann. Dieser Eingriff ist sehr schmerzhaft und für Nadine, die auf dem Bauch liegen muß und so praktisch „hinterrücks angegriffen" wird, fürchterlich belastend.

    Für die heutige Punktion kann Nadine glücklicherweise eine leichte Narkose bekommen. Wir sind beide ungemein erleichtert. Diesen Schmerz muß Nadine nicht leiden. Und ich auch nicht.

    Die Knochenmarkpunktion (KMP), sagen die Ärzte, ist äußerst wichtig für den weiteren Verlauf der Therapie. Sind noch Krebszellen im Knochenmark nachweisbar, muß sofort wieder therapiert werden. Ist Nadine in Remission, sind also keine kranken Zellen mehr zu sehen, dürfen wir vielleicht für ein paar Tage nach Hause.

    Nach der Punktion liegt Nadine wieder in ihrem Bett, zur Seite gedreht, damit der Druckverband auf der Punktionsstelle nicht stört. Nach einigen Minuten wird sie unruhig, ihre Augenlider flattern. Dann beginnt sie zu weinen.

    „Ist doch alles gut Mäuschen, es ist schon vorbei. Du brauchst keine Angst mehr zu haben." Ich spreche leise und streichle sie sacht. Ängstlich zuckt sie bei der Berührung ihres Rückens zusammen.

    „Hallo, ich bin es doch Nadine. Sei ruhig, es passiert dir nichts."

    Nadine lächelt kurz, um gleich darauf wieder jämmerlich zu weinen. Sie ist noch nicht ganz bei sich. Dann öffnet sie kurz die Augen. Wie aus weiter Ferne sieht sie mich an.

    „Hi Baby. Wieder unter den Lebenden? Ich halte meinen Zeigefinger vor ihre Nase und lasse ihn langsam kreisen. Jetzt lacht Nadine. Ich weiß, sie sieht momentan alles doppelt und dreifach. Dann schließt sie ihre Augen. „Schlaf ruhig noch ein Weilchen. Ich streichle über ihren Kopf.

    „Du hast sechs Augen", lallt Nadine und stöhnt. Ich streichle sie, bis sie wieder eindöst.

    Bitte Gott, laß das Knochenmark sauber sein, bete ich still.

    Wieder Chemo, ohne Atempause, nachdem Nadine sich gerade einigermaßen erholt hat, das halten wir nicht aus. Die ersten zwei Therapieblöcke waren so fürchterlich. Wie soll das mit dieser Rezidivtherapie weitergehen? Ich muß mich unbedingt mit dem Professor unterhalten.

    Einige Minuten später öffnet Frau Dr. F. leise die Zimmertür und unterbricht meine Gedanken.

    „Alles in Ordnung Frau Wötzel, Nadine ist in Remission, sagt sie lächelnd. „Wenn die Blutwerte stabil bleiben, dürfen Sie ein paar Tage nach Hause. Der nächste Block kann noch warten.

    Nach Hause! Und die Chemo hat so toll gewirkt! Ich kann es kaum erwarten, Nadine davon zu erzählen.

    Die erste Runde in unserem Kampf gegen den Krebs haben wir gewonnen. Eine Remission bedeutet zwar nicht, daß Nadine völlig frei von Krebszellen ist. Aber sie liegen unter der Nachweisgrenze.

    „Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs, sagte unser Professor, Direktor der Kinderonkologie, 1994 anläßlich eines Informationsabends für Eltern krebskranker Kinder. „Deshalb haben wir bei einer Leukämie, auch bei klinischer Erstremission, eine mehrwöchige Intensivtherapie, an die sich bis zum Abschluß von zwei Jahren nach Diagnosestellung eine Erhaltungstherapie anschließt.

    Trotzdem freue ich mich über unseren Erfolg. Hauptsache, Nadine darf dieses Krankenbett verlassen, und wir können ein paar schöne Tage zu Hause verbringen.

    Tatsächlich dürfen wir am Samstag nach dem Mittagessen gehen. Als besondere Überraschung bringe ich unseren Freund Karl mit in die Klinik, um Nadine abzuholen. Nadine mag Karl und freut sich sehr über seinen Besuch.

    „Hast du denn Lust, mit uns in den Reitstall zu fahren, Karl? Mama, wir können doch gleich von hier aus hinfahren, oder?"

    „Natürlich können wir das, mein Mäuschen. Papa muß noch bis zum späten Nachmittag arbeiten. Zuhause machen wir es uns dann alle zusammen gemütlich."

    „Oh toll, ich bin gleich fertig. Eifrig kurvt Nadine mit ihrem Infusionsständer, der im Krankenhausjargon „Fiffi genannt wird, in Richtung Zimmertür.

    Wie immer, wenn es nach Hause geht, hat unser Kind eine unglaubliche Kraft, obwohl ihre körperliche Schwäche nicht zu übersehen ist. Als sie das Zimmer verläßt, um sich von ihrem Infusionsständer „abstöpseln" zu lassen, schaut Karl mich zweifelnd an.

    „Meinst du wirklich, der Reitstall ist jetzt das Richtige für Nadine?"

    „Na klar Karl, das ist sogar regelrechte Therapie. Du brauchst keine Angst zu haben, sie spürt genau, was sie schafft und was nicht."

    Karl macht sich Sorgen, ich sehe es ihm an. Wir kennen uns jetzt seit fast zehn Jahren und haben schon bei der ersten Erkrankung Nadines viel miteinander gesprochen. Er ist ein Freund, der teilnimmt an unseren Sorgen, der hilft und uns mit seinen lustigen Einfallen immer wieder auf andere Gedanken bringt.

    Endlich wieder Pferde zum Anfassen! Nadine sitzt mit kugelrunden Augen im Reiterstübchen, nahe am großen Fenster zur Reithalle, damit sie auch ja nichts verpaßt.

    „Mann, die hopst vielleicht auf dem Theo rum! Guck mal, die kann nicht mal die Zügel still halten", nörgelt sie ungnädig herum.

    „He, als Anfängerin hast du auch nicht besser ausgesehen. Schon vergessen?" erwidere ich lachend.

    „Mama, wenn der Theo gleich in den Stall kommt, gehen wir dann rüber? Vielleicht kann ich ihn dann übernehmen."

    „Natürlich gehen wir rüber", sage ich mit einem Lächeln über Nadines Eifer. Kaum zu glauben. Dieses Kind war vor drei Tagen nicht einmal aus dem Bett zu bekommen.

    Theo darf nach der Reitstunde tatsächlich in den Stall. Er steht schon in seiner Box, als wir dazukommen. Seine kleine Reiterin, ein Mädchen mit kurzen, dunklen Locken, versucht gerade ihn abzusatteln.

    „Kann ich den Theo übernehmen?" Mit einem forschen Ruck an der Boxentür öffnet sich Nadine einen schmalen Zugang ins Innere.

    „Nein laß mal, ich kann das alleine." Die Reiterin nestelt ungeschickt an Theos Sattelgurt herum, der dem Pferd beim Öffnen auf keinen Fall um die Beine baumeln darf, weil es sonst erschrecken und sich darin verheddern könnte. Ohne weiter zu fragen, faßt Nadine Theo beim Halfter.

    „Der stellt sich beim Hufe auskratzen ziemlich zickig an. Ich halte ihn lieber fest." Mit vereinten Kräften wird Theo, der wirklich beim Hufe auskratzen zickt, von beiden Mädchen versorgt. Den linken Vorderhuf kratzt Nadine eigenhändig aus, mit Huf hochheben und während der Säuberung halten. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer das ist.

    Den Abend verbringen wir gemeinsam mit Werner zu Hause. Mein Mann freut sich, Nadine endlich wieder im Arm halten zu können und mag sie gar nicht mehr loslassen. Bald nach dem Abendbrot schläft unser Kind zufrieden auf Papas Schoß ein.

    Karl bleibt bis morgen bei uns. Die halbe Nacht sitzen wir zusammen und reden. Es tut so gut, mit ihm über ganz normale Dinge nachzudenken.

    Der Sonntagvormittag vergeht viel zu schnell. Wir spielen MAD, ein total verrücktes Spiel, bei dem es darauf ankommt, so schnell wie möglich sein „Geld zu verlieren. Karl zieht eine Spielkarte, auf der folgende Anweisung steht: „Du bist ein Stein. Los, sei einer! Wenn du es gut machst, verlierst du 1000 Dollar, wenn nicht, verlierst du das Gleichgewicht. Karl probiert sein Glück und zieht fürchterliche Grimassen weil er gerne „steinern" gucken will. Nadine prustet als Erste los, Karl versucht vergeblich, ernst zu bleiben und am Ende lachen wir alle vier.

    Am Montag nach Karls Besuch bekommt Nadine unerklärliche Schmerzen hinter ihrem rechten Auge. Die Lider werden rot und schwellen an. Wir müssen zurück in die Klinik. Nadine ist niedergeschlagen.

    Schon wieder Krankenhaus, Untersuchungen, besorgte Blicke von Ärzten und Krankenschwestern. Das Auge wird immer dicker, bis es schließlich völlig zugeschwollen ist. Nadine klagt über pochende Schmerzen. Ihr Auge wird mit einer Salbe behandelt und

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