Âventiure
Von Faye Kristin
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Über dieses E-Book
Die Suche nach dem Besitzer der Tasche, den Anton als Musiker identifiziert, wird zur Suche nach dem Sound des eigenen Selbst. Im Hintergrund zwischen den Zeilen und Bildern schwingen die Songs der Band Milky Chance.
Die Erzählung ist ein sinnliches Experiment, ein visuelles und sprachliches Tagebuch, musikalisches und fotografisches Album, vor allem aber eine Hommage an die Kraft der Musik und Poesie.
Was können Worte bewirken? Was bedeutet es, die unsichtbaren Details im Alltäglichen zu suchen? Der Roman geht diesen Fragen nach.
Faye Kristin
Faye Kristin hat an der Universität Kassel Kunst und Literatur studiert sowie einen Abschluss in Visueller Kommunikation mit Schwerpunkt Fotografie an der Kunsthochschule Kassel erworben. Ihre künstlerischen Arbeiten bewegen sich an den Schnittstellen verschiedener Medien. In Ihrem Erstlingswerk verbindet sie sprachliche und bildliche Ausdrucksmittel, Schrift und Fotografie und eröffnet somit die Möglichkeit, konventionelle Formen der Rezeption von Romanen zu erweitern. Der Leser befindet sich in einem Spannungsfeld, kann aus beiden Medien Informationen Lesen und schließlich wechselseitig interpretieren.
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Buchvorschau
Âventiure - Faye Kristin
Immer verlieren wir das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Atmosphäre, wir vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Genießen mit der Macht des Instinktes, als holdeste Wagenlenkerin, den Griechen zuführte. ( Friedrich Nietzsche )
In gleichmäßigem, unmotiviertem Schritt überquerte er die Stratton Street an der Green Park Station, wo er wie jeden Morgen ein Ticket löste und mit einem Strom von Menschen in den Londoner Underground verschwand. Die Dunkelheit ließ ihn sich seiner immer noch andauernden Müdigkeit gewahr werden. Das Schaukeln der Waggons erschwerte den festen Stand in dem überfüllten Abteil, doch mit jeder Station entfernte er sich mehr vom Zentrum und die Reihen lichteten sich. Manche der Gesichter waren ihm mittlerweile sogar bekannt, anscheinend hatten sie einen ähnlichen Tagesablauf, mussten sich Kälte und Dunkelheit widersetzen, um frühzeitig an ihrer Arbeitsstelle zu sein. Wer würde schon freiwillig zu dieser Tageszeit aufstehen, wenn nicht der Lebensunterhalt dazu drängte.
Gerade noch rechtzeitig vernahm er die Durchsage, die seine Haltestelle Neasden Station, ankündigte, und er würde nicht, wie schon das ein oder andere Mal zuvor, gedankenversunken den Ausstieg verpassen und sich großen Ärger einhandeln. Gewohnheitsgemäß verließ er den Underground durch den Ausgang in Fahrtrichtung und ging hinüber zu dem Großsupermarkt, dessen neonfarbener Schriftzug auffällig grell im immer noch dämmrigen Tageslicht blinkte. Eine der Neonleuchten hatte einen Wackelkontakt und bewirkte das unregelmäßige Flimmern am Ende des rot-blauen Schriftzuges. Der Parkplatz, auf dem sich zur späteren Tageszeit hunderte von Menschen tummelten, lag leer vor ihm und offenbarte seine streng konzeptionelle Einteilung in Parkreihen. Während er den Linien auf dem grauen Asphalt folgte, fiel ihm eine Tasche ins Auge, die in vollkommener Verlassenheit inmitten des Linienrasters stand. Er konnte weder ein Auto noch eine Person in näherer Umgebung ausfindig machen und so wich er von seinem gewöhnlichen Weg ab, ging – zunächst zögerlich, dann etwas zügiger – auf die Tasche zu und blieb stehen. Er griff nach den aus Leder gefertigten Bändern und beschloss, sie für ihren Besitzer im Supermarkt zu hinterlegen. Dann kehrte er schnell um, ging zum Hintereingang für Bedienstete und begann seinen Arbeitstag zwischen Kühlregalen und Neonleuchten, während draußen langsam die Sonne aufging und die Londoner Straßen zu neuem Leben erwachten.
Er hatte braunes, leicht gelocktes Haar, welches in einem bestimmten Licht einen rostroten Schimmer bekam. Seine Statur war weder sportlich noch schlank, dennoch fiel er neben seinen stattlich gebauten Arbeitskollegen auf, die breite Schultern hatten und zum Teil ein wenig untersetzt waren. Seine Hände trugen keine Spuren, die von Arbeit erzählten, sie waren fein und schmal und früher hatte er sich auf ihren Handflächen oftmals Notizen gemacht. Gedankenstützen brauchte er momentan nicht, seine Tage verliefen zu monoton, um Derartiges erforderlich zu machen. Nicht nur seine Statur und seine Hände, auch sein Gesicht war von solcher Feinheit und hob sich von dem gewöhnlichen Aussehen seiner Kollegen ab. Die runden und glattrasierten Gesichter ließen die hohen Wangenknochen und den markanten Ausdruck vermissen, den tiefschwarzen Bart und die Nase, die unproportional groß, jedoch stolz und eben nicht rund und grob war. Der Stress und die körperliche Anstrengung beim Einräumen der Ware trieben rote Flecken in ihre Gesichter, sein Teint hingegen war unverändert blass, vielleicht etwas zu blass, seitdem er kaum mehr das Tageslicht zu Gesicht bekommen hatte. Zwar gehörten das Kistenschleppen und Auspacken ebenso wenig zu den ihm angenehmen Arbeitsschritten wie die Kassenschichten, jedoch musste er sich hierbei wenigstens nicht den kritischen Blicken der Kunden aussetzen. Heute war ihm diese Schicht jedoch ganz recht, er hatte die Tasche in seinem Spind hinterlegt und zog die Ware über das Fließband, in der Annahme, dass sich im Laufe des Tages jemand nach der Tasche erkundigen würde. Normalerweise hinterlegte man solche Gegenstände in dem kleinen Fundbüro am Haupteingang. Irgendetwas hatte ihn dennoch dazu bewogen, dies nicht zu tun – vielleicht um zu erfahren, wer der Eigentümer der außergewöhnlichen und offensichtlich in Handarbeit gefertigten Tasche war. Vielleicht wollte er aber auch einfach nur dem System trotzen, den gewöhnlichen Ablauf unterbrechen.
Die Stunden zogen vorbei, ohne dass sich jemand nach der Tasche erkundigte und er begann sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, was sich wohl darin befinden mochte. Vor Beginn seiner Schicht hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich dessen zu vergewissern und nun packte ihn langsam die Neugierde. Er würde einfach einen schnellen Blick hineinwerfen, wenn jemand käme, um sie abzuholen. Der Gedanke, dass lediglich ein paar Reiseutensilien in der Tasche sein könnten, gefiel ihm nicht, zu sehr erschien sie ihm als etwas Abenteuerliches. Und welchen Reisenden hätte es in diese abgelegene unattraktive und öde Gegend verschlagen sollen, weitab von Touristenattraktionen?
Das viele Nachdenken über den Inhalt der Tasche ermüdete ihn mit der Zeit. Manchmal vergaß er darüber seiner Arbeit nachzugehen und die Kunden zeigten sich noch unzufriedener und nörgelten noch mehr, als sie es sonst ohnehin immer taten. Wenn niemand käme, dann wäre er wohl gezwungen, das Fundstück abzugeben und über Umwege würde er erfahren, wer die Tasche abgeholt hatte.
Das Fundbüro war schon geschlossen, als er seine Sachen aus dem Mitarbeiterraum holte. Er zögerte nicht lange, nahm die Tasche über den Arm und verließ das Einkaufszentrum. Es fiel ihm schwer auszumachen, wann er zuletzt mit Reisegepäck unterwegs gewesen war. Sein gewöhnlicher Laufrhythmus wurde unterbrochen von dem der leicht ins Schwanken geratenen, an langen Lederriemen befestigten Tasche. Aber das störte ihn nicht, denn die Tasche war nicht besonders schwer und pendelte sich ein, sobald er sich daran gewöhnt hatte, seinen Rhythmus ein wenig anzupassen. Sein Gang war nun, trotz der vielen Arbeitsstunden, aufrecht und vitaler als noch am Morgen. Er fühlte sich auf seltsame Weise befreit und er vermochte nicht auszumachen, wodurch dies bewirkt wurde. An der Underground Station kam er zum Stehen und wartete er auf die Jubilee Line in Richtung Stratford. Dort bemerkte er, wie ihm auf dem Bahnsteig und in der U-Bahn Blicke zugeworfen wurden. Blicke, die von Neugierde erzählten oder ihn einfach nur musterten, aber in jedem Fall Aufmerksamkeit schenkten, die ihm lange Zeit nicht zuteil geworden war. Er setzte sich auf einen der freien Plätze am Fenster, von dem aus man das Abteil gut überblicken konnte. Der Waggon, mit dem er die letzten Monate regelmäßig gefahren war, erschien ihm mit einem Mal bunter und abwechslungsreicher als jezuvor. Da gab es unterschiedliche Muster und Materialien, das Rot und Blau wirkte weniger grell und das Neonlicht nicht mehr so aggressiv, sondern eher freundlich. Die Menschen, die mit ihm reisten, waren verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Aussehens. Viele trugen Schwarz, aber in variablen Schnitten und Formen, teilweise verrückte Farbkombinationen, je näher das Stadtzentrum rückte. Er begann, in ihren Gesichtern zu lesen. All das war seinen Augen bislang entgangen, war an ihm vorbei gerauscht, während er letargisch und gedankenversunken an einem der Plätze gesessen hatte, von denen aus man nur sehr wenig von seinem Umfeld mitbekommen konnte. Er sah sich die Taschen genauer an, die an ihm vorbei getragen wurden.Viele Aktenkoffer waren darunter, meist klassisch aus schwarzem Leder gefertigt. Ein Pärchen stieg ein,