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Elysion
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eBook337 Seiten4 Stunden

Elysion

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Über dieses E-Book

Im Gegensatz zu den meisten Dystopien ist "Elysion" nicht in der Zukunft angelegt, sondern in den 1930er und 1940er Jahren einer alternativen Version deutscher Geschichte. Hier haben ein paar Exzentriker "Elysion" als utopischen Stadtstaat auf einer Insel im Atlantik errichtet: ein Traum der Wirklichkeit wurde... Der Roman erzählt die Geschichten der Menschen, die in diesem Traum leben - und wie "Elysion" für manche zum Albtraum wird.

"Der Versuch das Paradies zu schaffen, kann die Hölle hervorbringen." (Graffiti am Harmonium, 1949)
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Aug. 2014
ISBN9783735731012
Elysion
Autor

Gerrit Müller

Gerrit Müller, Jahrgang 1987, lebt seit vielen Jahren in Stuttgart. Bis 2013 studierte er in Ludwigsburg die Fächer Musik, evangelische Theologie und Englisch auf Realschullehramt und befindet sich seit 2014 im Schuldienst.

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    Buchvorschau

    Elysion - Gerrit Müller

    „NEULAND"

    WILLKOMMEN AUF ELYSION

    „Guten Morgen, neuer Bürger Elysions. Ist dieser Tag nicht wundervoll? Wahrhaftig!

    Dies ist ein Informationstonband des HARMONIUMS.

    [Eingespielte Musik]

    „Elysion". Dieses Wort beschreibt in der griechischen Mythologie eine paradiesische Ebene, zu der jene entrückt werden, die die Götter besonders bevorzugen. Die schöne Helena und der tapfere Achilles ruhen dort mit vielen anderen auf den elysischen Feldern und trinken aus der Lethe, um das irdische Leid auf ewig vergessen zu können.

    Für Sie, lieber Bürger, ist der Mythos nun Realität geworden, seitdem die Gründungsväter dieses Staates einen Traum Wirklichkeit werden ließen. Den Traum einer Insel, besiedelt und bevölkert von auserwählten Mitbürgern und Mitbürgerinnen. Fernab der Turbulenzen und Unruhen einer entsagten Heimat, mit ihrer gescheiterten Politik, ihren Straßenkämpfen zwischen den extremistischen Lagern und dem drohenden wirtschaftlichen Kollaps.

    Hier gehören Inflation, Armut und Hunger der Vergangenheit an. Hier kämpfen wir gemeinsam für eine starke Industrie, eine selbstversorgende Landwirtschaft und eine progressive Kunst. Hier ist Luxus für jeden ermöglicht. Auch für Sie!

    Willkommen auf Elysion – der Traum, der Wirklichkeit wurde!

    [Eingespielte Musik]

    [Knacken, Spulgeräusche]

    Guten Morgen, neuer Bürger Elysions. Ist dieser Tag nicht wundervoll? Wahrhaftig!

    Dies ist ein Informationstonband des HARMNIUMS…"

    Omnipräsenz, Absolution, fingieren, Subversion, eklatant, Komparativ. Der Bleistift huschte mit diesem typisch bleistifteigenen Geräusch über die Seiten ihres kleinen schwarzen Buches. Ein Flüstern, wie das zweier Kinder in ihren Etagenbetten, die sich angeregt unterhielten. Lange noch nachdem die Eltern das Licht ausgelöscht haben. Hybris, Madrigal, Idolatrie. Der Bleistift/die Kinder machten: „krchhtchh-wuach. Eine unbekannte Sprache. Irgendwo auf dieser Welt, wo es auch Etagenbetten, Kinder und Eltern gab. Und Licht. Elisabeth schlug die erste Seite der Morgenausgabe des HERMES um und begann die Spalten und Zeilen der zweiten Seite nach weiteren „schlauen Wörtern abzusuchen. „Schlaue Wörter" waren zu genüge in einer Zeitung wie dem HERMES zu finden. Immerhin wurde sie von und für die schlausten Menschen der Welt gemacht. Bürger einer besseren Welt.

    Ihr Zimmer verdunkelte sich. Das bedeutete, dass es nun ungefähr 11 Uhr sein musste. Sie blickte aus dem Fenster. Wie der Stab einer riesigen Sonnenuhr ragte das Harmonium groß und herrlich, einem Obelisken gleich, aus dem Meer von Wohnkomplexen, die alle im konzentrischen Halbkreis um den Turm (oder Wolkenkratzer) angeordnet waren. Elisabeth liebte diesen heiligen Moment des Tages, wenn das mächtige Harmonium die Sonne für ein paar Minuten verdrängte und den langen schwarzen Schatten wie eine streichelnde Hand beschützend über sie und ihre Wohnung legte, der dann behutsam weiter von Westen nach Osten wanderte, um, während die Sonne wieder hinter dem vertikalen Mittelpunkts der Insel hervorbrach, die anderen Bürger Elysions, die schlausten und besten der Welt, zu streicheln und zu beschützen.

    Als hätte es nur auf die wieder einfallenden Sonnenstrahlen und deren Wärme gewartet, begann das Wasser in der Sintrax genau in diesem Moment zu sieden. Es kletterte das Steigrohr hinauf in den Trichter und vermengte sich dort brodelnd mit dem Kaffeepulver, was unter diesen Lichtverhältnissen einen beinahe karamellinen Klang bekam. Elisabeth ließ ihren Blick verzückt über ihre Wohnung schweifen. Hatte sie es nicht schön hier? Die Sintrax, eine Wagenfeld-Leuchte WG 24, einen Freischwinger von van der Rohe, die Chaise Longue LC4 (eine Liege von Le Corbusier) und all die anderen Möbelstücke, die jedem Bürger Elysions zustanden. Dann die kleine Terrasse, die Elisabeth sich mit den anderen Bewohnern der Anlage teilte, denen aber allen jeweils noch ein eigener kleiner Balkon gehörte – gestützt von Stahlsäulen, die mit den Tomaten und dem Wein aus der Terrasse um die Wette zu wachsen schienen. Ginge sie in diesem – oder sonst einem Moment – vor die Wohnungstüre, wäre sie von gutmütigen Menschen umgeben. Menschen, die nicht nur Mitbewohner oder Nachbarn waren, sondern Freunde.

    Elisabeth goss sich den Kaffee in eine Tasse, dann wandte sie sich wieder ihrem Notizbuch und dem HERMES zu. Auf den nächsten Seiten fand sie jedoch nicht viel Neues und schließlich kam sie zum Kulturteil. Hier las Elisabeth jeden einzelnen Text aus wirklichem Interesse und weniger der „schlauen Wörter" wegen.

    Konzertankündigungen. Die neue Schallplatte der COQUETTES. Ein Artikel zu einer Vernissage elysischer Bildhauer. Filmkritiken zu den neuesten elysischen Meisterwerken „die Ferne" und „Kanarienvogel", letzterer mit der großartigen Brigitte Dagover in der Hauptrolle. „Ein Film, wie Musik und Ozeane, aus denen Brigitte Dagover erneut als die Sonne an unserem Zelluloid-Himmel aufsteigt", hieß es dort in der Kritik zu „Kanarienvogel".

    „Die junge Rosa (Dagover) verliert ihren Verlobten, Franzis (Gustav Halb), bei einem Reitunfall. Um ihn wieder zum Leben zu erwecken, schließt sie mit dem Teufel (brillant dargestellt von Eugen Veidt) einen Pakt. Rosa willigt ein, mit dem Teufel die Ewigkeit in der Hölle zu verbringen und ihn mit ihrem Gesang zu unterhalten.

    Es bedarf wahrlich einen so meisterlichen Regisseur wie Werner von Eckstädt, dieser Interpretation des klassischen Persephone-Stoffes das passende Kolorit zu geben (Elisabeth notierte sich Kolorit). So wurden z.B. die Filmrollen der Höllen-Szenen in blutroter Farbe eingefärbt, was im Kontrast zum herkömmlichen Schwarz-Weiß einen albtraumhaften Effekt bewirkt. Letztlich sind es aber die überwältigenden Darstellungen Eugen Veidts und Brigitte Dagovers, die diesen Film zu einem weiteren eindrucksvollen Werk elysischer Filmkunst machen.

    PREMIERE: Samstag, 20. Mai im Film-Palast"

    „Gulp", Elisabeth nahm eine EUDAIMONIA ein und machte sich die innere Notiz, dass sie „Kanarienvogel" auf gar keinen Fall verpassen dürfe. Im besten Falle schaffte sie es sogar zur Premiere. Allein der Gedanke daran, weckte in ihr die funkensprühensten Glücksgefühle. Vielleicht gelänge es ihr, Eugen Veidts Hand zu schütteln. Sie müsste sich nur hartnäckig und kompromisslos genug nach vorne kämpfen. Hin zum roten Teppich, vorbei an den Ablichtern und Ausquetschern des HERMES. Vielleicht würde sie auch Brigitte Dagover in die wunderschönen Augen sehen und ihr sagen können, dass sie ein ganz besonderer, Göttinnen gleichender Mensch sei.

    Lise tänzelte glücklich – noch immer in Blitzlicht und Ruhm gehüllt – über den roten Teppich zu der LC4-Liege und ließ sich darauf gleiten. Das EUDAIMONIA konnte manchmal diese verstärkte Wirkung haben. Alles ein bisschen heller, bunter, süßer, weicher, besser, elysischer.

    Sie lag noch lange auf der Chaise Longue und sah den Nymphen zu, die über ihr kreisten – in durchsichtigen Gewändern und mit leuchtenden Gliedern, die wie Sternschnuppen Schleier aus Licht hinter ihnen herzogen.

    Als die Lichtwesen irgendwann erblasst waren und sich die normale, warme Wirkung des EUDAIMONIAs ein-gestellt hatte, erhob sich Elisabeth wieder von der LC4, räumte ihr „schlaue Wörter"-Notizbuch in ein Regal und kippte den kaltgewordenen Kaffee in das Spülbecken. Dann legte sie eine Schallplatte der COQUETTES auf und zog sich für die Arbeit um.

    Gegen 16 Uhr verließ sie ihre Wohnung und machte sich auf den Weg zur nächsten Stadtbahn-Haltestelle. Die sechs Züge der einzigen Linie, die es auf Elysion gab, fuhren im Viertelstundentakt in der Form einer großen Acht alle wichtigen Punkte der Insel ab. Einzigen Knotenpunkt dieser Form bildete der Mittelpunkt der Insel - das Harmonium – und zu dessen Fuß: das Stadtzentrum, mit seinen Bars, Nachtclubs, dem Film-Palast, den Konzert- und Theatersälen, den botanischen Gärten. Die nördliche Schleife der „Linie 8" umfuhr die konzentrisch zum Harmonium angeordneten Sozialen Wohnkomplexe, in denen alle Bürger Elysions in nahezu identischen Wohnungen lebten. Der Schichtleiter, der Buchhalter, der Bandarbeiter, die Sekretärin, der Hausmeister. Keine Unterschiede. Jede Arbeit hatte den gleichen Wert.

    Das Produktionsgebiet Elysions, die Gewächshäuser, Felder und Apfelbaumplantagen, die Fabriken und Labore, wurden von der südlichen Schleife der „Linie 8" eingegrenzt.

    Andere Formen des öffentlichen Transports gab es auf Elysion nicht. Manche Bürger hatten sich ein Auto geleistet, aber für gewöhnlich fuhr man Bahn und ging zu Fuß. Stress und Hektik, Umsteigen und eine „Linie 8", die so hieß, weil es noch mindestens sieben andere Stadt-, Straßen- oder UBahnen gab; das waren doch alles Dinge aus einer anderen, schmutzigeren und schlechteren Welt. Artefakte einer längst überwundenen Zeit.

    Lise schaute aus dem Fenster, als die Waggons geradlinig auf die Innenstadt Elysions zu ratterten. Häuser und Hallen von beeindruckender Größe und Schönheit näherten sich. Architektonischer Jazz. Stufen. Zickzack. Purpur, Chrom und Bronze in perfekter Geometrie. Dann die ersten Autos, die neben der Bahn entlang fuhren. Fußgänger auf dem Weg zur Arbeit oder in den Feierabend. Bunte Plakate und Aufsteller, die die Attraktionen der heranschleichenden Nacht anpriesen. Lieferwagen. Der Film-Palast und die Cocktailbars. Möwen, die auf der Höhe von Lises Fenster parallel zur Stadtbahn glitten. Weitere Menschentrauben. Darüber die weiße Spätnachmittagssonne, auf ihrer huldigenden Bahn um das monolithische Harmonium.

    Elisabeth ließ einen letzten Blick über dieses organische Zusammenspiel von Formen, Licht und Leben schweifen, dann tauchte die Bahn unter die Straße in einen Tunnel, dessen eintönige Beleuchtung in rhythmischen Lichtsalven hinter der Scheibe vorbei pulsierte. „NICHT VERGESSEN! EUDAIMONIA ERQUICKT. EUDAIMONIA BEGLÜCKT", sagte ein Engel auf einem Plakat, das an der Holzverkleidung des Waggons hing. Er sah sehr freundlich aus und lächelte sie an. Elisabeth holte das Pillenröhrchen aus ihrer Handtasche, öffnete es klackend und schüttete sich eine Kapsel auf die Handfläche – „Gulp". Der Engel zwinkerte ihr zu. Die Bahn wurde langsamer als sie aus dem Tunnel in eine große unterirdische Halle rollte: Die Knotenhaltestelle der „Linie 8". Elisabeth stieg aus. Sie befand sich nun direkt unter dem Harmonium.

    Die Wände der riesigen, kreisrunden Halle liefen zu einer Kuppel zusammen. Das getrübte Weiß des Thiersheimer Marmors war durchzogen von schwarzen Adern, die sich bis in die Kuppel der Halle langsam nach oben schraubten. Wie ein in Stein gefrorener, schwarzer Strudel; nur ab und zu unterbrochen von Fahrplantafeln, römisch bezifferten Uhren und den Kupferplaketten, in die man das Emblem Elysions getrieben hatte:

    Unter diesem Relief war der Leitsatz der Insel: „EIN TRAUM DER WIRKLICHKEIT WURDE", zu lesen.

    Gedankenverloren fuhr Elisabeth mit den Fingerspitzen der rechten Hand über die schwarzen Furchen des kühlen Marmors und die harten Kupferformen der Plaketten, während sie zu den Treppenaufgängen schlenderte. Ihre Hand glitt dort auf den glatten Handlauf des Treppengeländers, der in dem verhaltenen Gold polierter Bronze schimmerte, gestützt von schilfgrasförmigen Zierstäben, die wie Röhricht aus der schwarzgeäderten Milch der Stufen wuchsen.

    Die Luft roch nach Parfüm und Zimt. Irgendwo spielte ein Grammophon klassische Musik. Menschen überholten sie auf der Treppe. Herren zogen freundlich lächelnd zur Begrüßung die Hüte und stapften weiter. Die Plakate, die über dem Treppengeländer die Wand zierten, zeigten lachende Kinder, die „EUDAIMONIA" riefen und durchs Gras rannten. Eine Putzfrau, ein Wissenschaftler und ein Arbeiter standen nebeneinander auf einem anderen Plakat. Über ihnen der Hinweis: „JEDE ARBEIT IST GLEICHWERTIG!!!". Lachende Gesichter, schöne Frauen, attraktive Männer und glückliche Kinder auf vielen anderen Plakaten. Verdienste des Harmoniums und der Bürger Elysions. Ihr Verdienst. Elisabeth lächelte. Das Grammophon wurde lauter, der Geruch stärker – sie hatte die letzten Stufen erreicht.

    Hier blieb sie in einem Moment andächtigen Verharrens stehen. Farbiges Sonnenlicht fiel durch bunte Glasfenster, wie man sie früher aus Kirchen kannte, in das Foyer des Harmoniums. Frauen in Kostümen und Männer in Anzügen umspülten Lises Körper. Manche gingen schnellen Schrittes durch die verglaste Doppelflügeltüren nach draußen, eine in jeder Himmelsrichtung; andere versammelten sich an den Aufzügen in den Ecken des großen Raumes, um in die oberen Stockwerke zu gelangen.

    In der Mitte des Foyers befand sich ein Springbrunnen, der Atlas, Hephaistos und Athene darstellte, die ein gusseisernes Band hielten, auf dem in goldenen Majuskeln „HARMONIUM" geschrieben stand. Zu ihren steinernen Füßen lugten Goldfische unter Seerosenblättern hervor. Elisabeth las sich den Leitspruch auf dem Rand des Granitbeckens laut vor:

    „Ein Traum, der Wirklichkeit wurde",

    es war keine Versicherung, sondern eine Bestätigung dessen, was sie wusste, fühlte und war. Bürgerin Elysions. Der Traum vieler – wahr geworden für sie. Mit einem Lächeln durchquerte sie das Foyer, stieß mit der Hand die Doppeltür des Westausganges auf und wurde eins mit dem Menschenstrom, der an dem Harmonium vorbei zog.

    Man lächelte sie an. Sie lächelte zurück.

    „Ist dieser Tag nicht wundervoll?", fragten sie manche und sie antworte:

    „Wahrhaftig!", dann lachte sie.

    Wenn sie lachte war sie wunderschön.

    Lise fischte das Zigaretten-Etui aus ihrer kleinen Handtasche und steckte sich eine mit spitzen Fingern an. Sie nickte dem Abbild Brigitte Dagovers auf dem großen Plakat für „Kanarienvogel" zu, das an einer künstlich antiken Säule der Film-Palast-Fassade hing. Premiere: Samstag, 20. Mai 1933

    „Ich werde da sein", flüsterte Elisabeth in den Rauch, der ihren dunkelroten Lippen entstieg.

    Sie klang wie eine Liebende und ahnte, dass dies vielleicht auch stimmte.

    Neben dem Film-Palast befand sich „die Goldene Note", die Jazz- & Cocktailbar, in der sie als Kellnerin arbeitete. Eine Möwe hatte sich auf dem G der Neonreklame niedergelassen und beobachtete Lise dabei, wie sie ihre Zigarette in einem der hieroglyphenverzierten Film-Palast-Aschenbecher ausdrückte und dann in der „Goldenen Note" verschwand.

    Leni stand schon hinter dem Tresen. Mit einem Geschirrtuch trocknete sie frisch gespülte Gläser ab, wobei sie ihre riesigen und fleischigen Hände einschränkten. Das Grammophon neben ihr weinte eine Melodie der COQUETTES in den Raum, in dem kalt und scharf der Zigarettenrauch des Vorabends hing.

    Leni sah auf:

    „Guten Tag, die Dame", sagte sie scherzhaft.

    Lise lächelte.

    „Guten Tag."

    „Ist dieser Tag nicht wundervoll?"

    „Wahrhaftig!, sie lachte und öffnete ihre Handtasche, dann das Pillenröhrchen. „klack, klack – schüttete sie sich zwei EUDAIMONIA in die hohle Hand und warf sie – „Gulp" – ein.

    „Wahrhaftig!", wiederholte sie leise und fast abwesend, als die Feuer in ihrem Rückenmark aufflammten.

    Die Nadel des Grammophons hüpfte knackend aus der Rille, verschluckte einen kurzen Teil des Liedes, ließ den Schlag der Pauke durch den Raum stolpern. Leni drehte sich verärgert zu dem Gerät um. Sie nahm die Stahlnadel von der Platte und pustete kräftig über deren Rillen. Elisabeth konnte wie in Zeitlupe sehen, dass sich kleine Fäden Speichel von Lenis Lippe zappelnd ausdehnten, dann lösten und über das Grammophon flogen. „KnackKnackKnister", machte das Grammophon und dann setzte der klagende Ton des Theremins ein. Leni ließ die Platte noch einmal vom Anfang an laufen.

    „Oh Lise, könnten Sie bitte die Stühle an die Tische schieben und diese vorher noch kurz mit diesem Lappen abwischen?"

    Elisabeth roch den leicht faulen Geruch des zu häufig benutzten Lappens, den Leni ihr entgegen streckte. Dann verfuhr sie wie gebeten.

    Dienstag, 13. Februar im Jahr 0

    Und mit einem Mal war es vorbei.

    Als ich heute Morgen erwachte, verspürte ich weder die üblichen Krämpfe in den Innereien, noch die schmerzende Erschöpfung zweier Lungen, die sich die Nacht über immer wieder gegen eine von Erkältung und angeschwollenen Schleimhäuten verstopften Nase aufzulehnen versucht hatten. Ebenso wenig wies der Kragen meines Nachthemdes seine mittlerweile zur Gewohnheit gewordene Schweißesnässe auf. Und als ich an den kleinen, quadratischen Spiegel meines Badezimmers trat, schaute ich in die Augen eines Mannes, der den Sieg davon getragen hatte.

    Monate der Qual, verursacht durch die Leiden eines Medikamentenverzichts, der durch seine Freiwilligkeit und die Unklarheit über die zu erwartenden Ergebnisse sich immer wieder der Versuchung ausgesetzt fand, als sinnlos eingestuft zu werden, fanden mit dem heutigen Tag ihr ach so belohnendes Ende.

    Ich bin geläutert. Gereinigt von dem Gift. Den Fesseln entkommen, die mich an die Mauern einer Höhle banden, von der ich irgendwann glaubte, sie machte die ganze existierende Welt aus.

    Nun gilt es, ganz im Sinne des Gleichnisses (mir will immer noch nicht einfallen, wer es mir denn einst erzählte), diese Höhle zu verlassen. Dem Ausgang entgegen zu eilen und nicht nur die Herkunft der Schatten zu finden, die sich so hämisch als die kümmerliche Summe allen Seins präsentiert hatten, sondern auch die Lichtquelle zu enttarnen, die diese Schatten aussandte. Mehr noch, ich will hinter das Licht blicken und die weite Welt erkunden.

    (Wohl aber, nicht ohne vorher meine Brüder und Schwestern, deren Schicksal weiterhin von Banden vorgegeben ist, aus der Höhle zu befreien. Doch wann und wo wird sich Gelegenheit bieten?)

    Nachdem ich heute meinen verräterischen Diensten (Verrat an meinen Mitbürgern!) in den Hallen des HERMES nachgekommen war, ich Lüge um Lüge über die kulturelle und politische Überlegenheit Elysions gegenüber dem Rest der Welt auf der harten Schreibmaschinenklaviatur meines Arbeitsplatzes für die Morgenausgabe komponiert hatte, fuhr ich mit der Linie 8 zum Leuchtturm, um die Abgeschiedenheit und Stille der Steilküste Elysions zum Nachdenken zu nutzen.

    Es mag für meine Mitbürger unvorstellbar sein (und ich werde mich hüten, entsprechende Erklärungsmühen aufzubringen – zu meiner eigenen Sicherheit…), aber die von Naturspektakeln geformte Pracht, die diese Insel wie ein Leitmotiv zu durchfließen und zu umgeben scheint, ist zu großen Teilen nichts weiter als eine Begleiterscheinung der vorgeschriebenen Eudaimonia-Dosis. Ohne ihren Wirkstoff fällt der Schleier und das, was einst rosa Wolkenmassen vor aprikosenfarbenden Abendhimmeln waren, was aus dem Meer geborene Regenbögen waren, deren Spektralfarbenkurve nur das Harmonium zu berühren vermochte, was die Weichheit des Grases, die Wärme der Sonne – ja, sogar die Klarheit der Luft – gewesen war, offenbart sich nun mehr in dröger Mittelmäßigkeit.

    Und so saß ich auf einem kalten Felsbrocken, der sich aus schlammigen Grasflächen schälte und starrte fassungslos auf einen rauen Atlantik, der, von schmutzigen Wolkenmassen niedergedrückt, zischte und fauchte.

    Hinter mir knackten und knisterten die kahlen Bäume der Plantagen, die sich wie schwarzgezackte Ruinen an den rußig qualmenden Schornsteinen der blutrot geziegelten Fabriken vorbei erstreckten. Bis zu dem Punkt, da sich der vertikale Protz der Innenstadt in all seinem Schimmer aufschichtete – immer höher und höher – und schließlich das Harmonium wie ein verchromtes Mahnmal in den Himmel hinauf sandte. Als Warnung an alle Zweifler…

    Wo war die Insel, in deren Schönheit auch ich mich verliebt hatte?

    In diesem Moment wurde mir die Hürde bewusst, die sich mir auf meinem Weg aus der Höhle darstellen würde:

    Demjenigen, der zu einem Leben in der Dunkelheit verdammt war, wird das Licht nicht Erlösung und Erkenntnis bringen, sondern zunächst einmal nur den Schmerz der Blendung und die Angst der Nacktheit. (Wie konnten die Religionen das nur all die Jahrtausende übersehen?)

    Und während ich so dachte, bemerkte ich zwei Möwen, die mit blutverschmierten Schnäbeln große Brocken Fleisch aus der Brust einer toten Artgenossin rissen. Mir war, als wären ihre Augen von der gleichen dunkelroten Färbung und als sie ihre Köpfe zu mir drehten, stürzte ich panisch in das schwarze Krallenmeer der Plantagen.

    Ich war umgeben von Hässlichkeit…

    Samstag, 17. Februar im Jahr 0

    Auf meinem Weg in die Freiheit lasse ich viel zurück.

    Ich ertrage es kaum meinen Mitbürgern in die Augen zu schauen, denn sie sind beinahe noch abstoßender als es diese Insel schon ist. Ihre Haut ist vertrocknet und gereizt und manchen sprießen haarige Warzen aus Kinn und Nasenspitze. Nur auf den Filmplakaten und den Bürgeraufklärungspostern entdecke ich noch schöne Menschen. Zuweilen bin ich kurz davor, wieder eine Eudaimonia zu nehmen. Nur eine einzige, um für ein paar Stunden die Schönheit wieder zu finden. In solchen Momenten fliehe ich in das Lichtspielhaus.

    Doch Werner von Eckstädt hat seine besten Jahre schon hinter sich. Seine „Meisterwerke (so wie ich sie auch schon von Berufswegen her oft genannt habe – nennen musste), haben ihren künstlerischen Gehalt weitestgehend eingebüßt. Technisch und dramaturgisch bieten sie nicht viel Neues. Formelhaft erfüllen sie die ständig gleichen Kriterien. Inhaltlich geht es um die Aufgabe des Subjekts und Hingabe an die elysische Lebensweise (die ersteres selbstverständlich einschließt); umrahmt werden die faden Handlungen von technischen Spielereien, die künstlerische Progressivität vorzugaukeln versuchen. Oder aber, der Film bleibt total handlungsfrei… Wie z.B. vor wenigen Jahren, als Eckstädt mit „Asyndeton eine lose Anthologie sexueller oder morbider Szenerien präsentierte, die doch letztlich nur der perversen Triebbefriedigung des Publikums diente.

    Mir schwant sogar, dass dieser Film schlussendlich ein grausames Experiment des Harmoniums war, mit dem man herausfinden wollte, was dem Bürger Elysions alles als „Kunst" verkauft werden konnte. Und erschreckenderweise (obwohl eigentlich abzusehen) spielte dieser Film mehr Geld ein, als es je ein anderes elysisches Werk zu vollbringen vermochte.

    Es ist ein teuflischer Trick der Insel, dass es ihr gelingt, die kalten Fesseln, die uns an der nackten, feuchten Höhlenwand halten, so weich und sanft wie ein Samtkissen erscheinen zu lassen, auf das wir uns betten – um es niemals mehr verlassen zu müssen. Das Eudaimonia, die Filme, die Musik, der Geist aller Dinge in Elysion vermitteln ein Gefühl von „uns geht es gut, ergänzt durch die ständige Bestätigung, besser zu sein als der Rest der Welt. Insbesondere als die „schwache Republik der Scheide- und Stresemanns

    Wäre die Höhle wirklich so elend, hielte es niemand in ihr aus – weshalb mir das Bild eines Traumes sogar noch mehr zusagt. „DER TRAUM, DER WIRKLICHKEIT WURDE", wie die Insel uns sogar selbst zynisch eingesteht.

    Bürger Elysions, ihr träumt einen süßen Traum, dem zu entrinnen ihr keine Notwendigkeit sehen könnt.

    Bitte, lasst mich Euch helfen! Ich flehe Euch an!

    Doch ihr sagt:

    Heraustreten? In eine Welt des Schmerzes und der Hässlichkeit, um – so wie Du – der Schönheit in den Kinosälen nachzutrauern?

    Nein!

    Aber hört mich doch an!

    Jede Minute, die ich auf dem Weg aus der Anästhesie (der, wörtlich übersetzt, „Nicht-Wahrnehmung") zurücklege, erwachen in mir die Geschichten und Sagen, die Schönheiten und Errungenschaften einer alten Welt.

    Des Nachts schrecke ich oft hoch, den Kuss einer vergessenen Geliebten in der Luft einer fremden Stadt auf den Lippen. Mir wird wieder klar: Es gab ein Leben vor Elysion! Ein Leben, dem zu entsagen keine Tugend – sondern eine Sünde war! Was haben wir getan?

    Wir haben die wahre Schönheit verleugnet.

    Möge sie uns dieses Gräuel verzeihen!

    Dazu wird es von nun an unabdingbar sein, die Kino-, Theater- und Konzertsäle zu meiden, als wären sie ein Gift. Denn sie sind nichts weniger… (ich will heute damit anfangen!)

    Ferner gilt es, den Bild- und Tonempfängern in unseren Stuben zu entsagen. Denn ihre unsichtbaren Geister vermögen es nicht, in unser Heim einzudringen, wenn unsere Antennen sie nicht beschwören.

    Vernichtet die Bücher elysischer Autoren, bevor es ihre Lügen mit euch tun!

    Da sind andere Bücher, die sich

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