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Der Ohrenkriecher: Ein Roman von Jörg Pfennig
Der Ohrenkriecher: Ein Roman von Jörg Pfennig
Der Ohrenkriecher: Ein Roman von Jörg Pfennig
eBook462 Seiten5 Stunden

Der Ohrenkriecher: Ein Roman von Jörg Pfennig

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Über dieses E-Book

Der naive Held glaubt an seine Berufung, die Menschen entschleiern zu können. Er handelt in einer Gesellschaft, welche ihre Differenzierungsfähigkeit verliert, als Preis für sinnfreie Beschäftigung und reizvollem Konsum.
Sein Weg führt dabei durch eine utopische Stadt, welche ihm ausreichend Bedarf für die Ausübung seines geschätzten Berufes bietet.

Diese menschliche Fabel richtet sich an die Leser, welche sich noch einen Sinn für philosophischen Humor, blühende Fantasie, kafkaeske Idiotie, subtilen Horror, aber auch ein Verständnis für aussichtsreiche Tragik bewahrt haben.
Zudem ist es ein Werk für Liebhaber der Obskurität, welche ein philanthropisches Bewusstsein pflegen.
Dahingehend, dass eine Gemeinschaft ihre beste Entwicklungsoption erkennt und diesen Weg selbstständig beschreitet. Jedoch auch darin eine misanthropische Neigung entwickelt, die sie wieder an den unterentwickelten Ausgangspunkt zurück führen kann.

Der Roman entstand durch eigene Erfahrungen aus der Epoche der augenscheinlich zentralisierten Zerstörung von Diversität in Musik, Rede, Farbe und Geschmack.

Jörg Pfennig, Juli 2014
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum15. Aug. 2014
ISBN9783735768124
Der Ohrenkriecher: Ein Roman von Jörg Pfennig
Autor

Jörg Pfennig

Jörg Pfennig hat schon in seinen Ferienaufsätzen ausschweifend fantasiert. Seitdem ist er eine weite Schaffensschleife geflogen. Vom Elektriker, Barkeeper, Raumpfleger, Tramp, Projekt-Ingenieur, Area-Manager, PR-Manager und Marketing-Manager ist er wieder an den Ausgangspunkt des schreibenden Minnesängers zurückgekehrt. Als Ingenieur der Medientechnik interessiert er sich für Sprache, Politik und Fortschritt. Auf seinen Reisen durch Asien begegnete er immer wieder Personen mit außergewöhnlichen Berufen. Zum Beispiel dem des „Professional Ear Cleaners“. Solchen Berufungen folgen die Menschen mit enthusiastischer Hingabe. Durch sie bekam er die Inspiration, einen metaphorischen Bogen zu unserer, teilweise berufsentfremdeten Gesellschaft zu spannen.

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    Buchvorschau

    Der Ohrenkriecher - Jörg Pfennig

    Paradoxon:

    „Die Bürde des Menschen ist unfassbar.

    Könnten wir sie fassen und wie einen Sack abstellen, wären wir entmenschlicht.

    Doch was befindet sich tatsächlich in diesem schweren Sack?

    Das Absolute ist es sicher nicht, denn es hat keine Masse.

    Mitleid kann es auch nicht sein, denn dieses ist ein aggressives Tier, welch sich durch alle Decken frisst.

    Wer ist es denn, die nach Befreiung strampelt?

    Vielleicht ein Dope, das uns verschleiert und betäubt und uns zum Weiterschleppen zwingt."

    (JP, Martius 2014)

    Inhalt

    Die Berufung

    Das Zepter

    Die Heimkehr

    Im Sitzin

    Das Chamäleon

    Die Händlerin

    Der Beruf

    Segnungen und Schweinepriester

    Die Prozedur

    Zwischenzeiten und Zieleinläufe

    Verschlüsselte Dienstanweisungen

    Der Verdienst

    Verbindliche Retouren

    Das Echo

    Fliehende Gefährten

    Rauchende Schatten

    Fruchtende Winde

    Anhang: Personen und Orte

    Erster Akt

    Die Berufung

    Es hat etwas von Hexerei, wenn man ein zweites Mal begegnet. Gezwickt vom Zufall erwacht zuerst der Rückblick. Dann folgt Neugier. Gewahr des einzigartigen Erlebnisses sucht sie für Sekunden den neuen Menschen in bekannter Hülle. Ist die Erinnerung erst einmal aufgeschlagen, entschleiert sie die neue Erscheinung und entreißt dem Gegenüber seinen Fortschritt. Respektlos eigentlich, denn auch Erinnerung ist Trugbild. Modellierbar wie Ton und Identität so flüchtig wie Wasser. Wenn unser Gespür es auflösen könnte würden wir erkennen, wie der Mensch sich schon innerhalb eines Tages mehrmals verändert. Wir wären erstaunt über den ungehemmten Wechsel seiner Körpertemperatur oder die häufigen Sprünge seines Selbstbildes.

    Die Dämpfung unserer Wahrnehmung ermöglicht einerseits die grobe Unterscheidung, andererseits auch, bei längerer Betrachtung des Objektes, einen Zugang zum subjektiven Gleichnis. So sind wir uns alle, unter Vernachlässigung gewisser Individualitäten, im Ozean der Zeit schon einmal begegnet, werden erneut widerfahren und einander erinnern. In unserem Gedächtnis legen sich die Farben, Klänge und Gesichter so transparent übereinander, dass im grellen Durchlicht der Gegenwart alle Porträts ihre Unterscheidbarkeit verlieren. Der Geist malt seine Aquarelle auf Seidenpapier und lässt die Silhouetten ineinanderfließen. So glauben wir in den entfernten Gesichtern der auf uns zu schreitenden bereits lang Gegangene wiederzuerkennen. Meinen, im Richter unseren alten Lehrer zu sehen.

    In der Konkubine begegnet uns die Verflossene wieder neu. So kommt es vor, dass wir der Illusion der ununterscheidbar zweiten Begegnung tatsächlich unterliegen. Ein und der selben Person in ein und dem selben Raum, abermals nach sehr langer Zeit. So wie es Gody Spitzer erging, als er dem unveränderlichen Sergeant Speerschneider im Haus der Berufung erneut gegenüber saß. Die außergewöhnlich ähnliche Konstellation erlebte Gody für viele gedehnte Sekunden als unangenehmes Déjà-vu-Erlebnis.

    Das Zepter

    Er erkannte mich nicht.

    Aufgrund seiner machtvollen Vergesslichkeit begriff ich die Gewissheit, dass auch ich mich nicht wieder erkennen sollte. Einerseits in meiner Erinnerung, andererseits in der Rolle meiner gesellschaftlichen Modularität.

    Der Scheitelspanner legte sich eng um Speerschneiders kahlen Kopf.

    Die schwarze Projektionslinse hatte sich tief in seine linke Augenhöhle gesaugt und lähmte die Mimik einseitig. Agil rollten die aufgedrückten Sensorkugeln über den Kehlkopf und seine Zähne bissen verängstigt auf das Kabel der Gaumenspange. Sein affenartiges Grinsen auf nassen Würgen verriet, dass er sich an diese altbewährte Kommunikationskrücke immer noch nicht gewöhnt hatte.

    Möglicherweise verifizierte er Berufungszeugnisse, die ihm auf die Linse projiziert wurden. Stundenlang in dieser Technikfalle zu sitzen quälte ihn sichtlich bis zum Brechreiz. Vermutlich war er der letzte Beamte, der das Wellio-System hasste und es täglich unter tiefen Würgeanfällen verfluchte.

    Er wollte das Kommunikationsmonopol der Regierung zwar nicht in Frage stellen, konnte sich aber mit der Mechanik der Biomagnetfeldtransponder nicht anfreunden. Außerdem strengte es ihn ungemein an, seine wahren Gedanken der Scheitelabtastung zu entziehen, sodass keine Spur seines Egos in das Hunous einsickern konnte. In krankhaftem Wahn befürchtete er, dass das zentrale Speichersystem dazu missbraucht werden könnte Repliken anzufertigen. Er hätte es nicht ertragen, sich irgendwann selbst zu begegnen.

    Mir, Gody Spitzer, waren solche Probleme fremd. Diese den freien Geist einklemmenden Apparate empfand ich als überflüssig. Dennoch faszinierte mich die Vorstellung, mit jemandem und allen grenzenlos in Austausch treten zu können. Für das einfache Volk blieb dazu nur der Botschafter. Meist eine abgehangene Existenz, welche auf einem klapprigen Rekorder die Nachricht aufzeichnete, dem gewünschten Adressaten zutrug und ihm abspielte.

    Die Botschafter waren meist unzuverlässig. Sie benötigten manchmal Wochen bis sie die Person in Pappstadt ausfindig machen konnten und weitere Wochen, um mit der aufgezeichneten Antwort zurückzukehren. Da sie sich selbst für äußerst schlau hielten, spulten sie die gesammelten Mitteilungen immer wieder zurück und versuchten diese in utopische Zusammenhänge zu setzen.

    So trotteten sie versunken mit ihren sprechenden Rekorden auf den Schultern durch die Stadt und verdingten sich in finsteren Ecken auch als Hehler von Gerüchten.

    Die Kommunikation über das Magnio war dagegen wesentlich schneller, aber auch wieder teurer und störanfällig. Die modulierten Feldlinien überschlugen sich häufig und man hörte nur ein von dumpfen Trommeln begleitetes Stimmengewirr.

    Phantasierende Botschafter raunten, dass bald ein gewisses Lichtio für die Regierung bereitstehen solle und somit das Wellio als Technologieschrott endlich auch dem Fußvolk zugute kommen würde. Doch obwohl sich keiner die Funktionsweise des Lichtio zu erklären vermochte war zumindest den Botschaftern klar, dass wenn es tatsächlich solch eine angepriesene Leistungssteigerung gegenüber Wellio darstellte, die mündliche Kommunikation tilgen würde. Denn schon mit Wellio und privilegierten Systemrechten gelang es sehr tief in die Individualitäten einzudringen.

    Gedächtnis und Kommunikation sollten endlich vollständig fusionieren. Diese Einheit führe die Gesellschaft zu feingliedrigster Diversität, eingebettet in einem absoluten Gemeinschaftsverständnis. Aber es war noch ein beschwerlicher Weg, wenn man sich nur die tägliche Beschränktheit des Geistes vergegenwärtigte. Auch wurde die Wahrnehmung der Gesellschaft noch von diffusen Eindrücken bestimmt. Speerschneider war dafür repräsentativ. Sein rechtes Auge war weit aufgerissen und die Pupille ruckelte im Rhythmus der linksäugig projizierten Zeilensprünge. Das freie Ohr zuckte dabei wie der Kopf eines pickenden Huhnes. Die Tonabnehmer holten sich die inneren Stimmen ab. Vom Nacken bis zur Stirn.

    Sergeant Speerscheider gehörte zu jenen Persönlichkeiten, die ihren Kopf gern wie eine Murmel trugen. Rund, kahl, glatt und glänzend. An manch heißem Tage sogar etwas feucht. Und jene Murmel – was die Ästhetik solcher Persönlichkeiten meist ergänzt – musste heute aus dem hohen steifen Kragen einer schwarzen Paradeuniform knospen. So entweihte kopflos verfahrene Eitelkeit auch bei ihm den banalsten Stil. Zu aller Geschmacklosigkeit hatte sein hochpoliertes Ei heute auch noch eine rege Färbung angenommen. Wenn Sergeant Speerschneider einen Applikanten feierlich in den Berufsstand berief, trug er den ganzen Tag einen roten Kopf mit sich herum. Bei Einberufungen seiner selbst blieb die Murmel klein und blass. Dann rollte sie sich schnell in seinen hochkragigen Panzer zurück.

    Als Sergeant war er in den höheren Etagen der Lizenzgeber angelangt.

    Hier im PRÄGRUF, dem Gebäudekomplex für Präger und Berufer, unterlagen ihm jetzt umfassende Entscheidungsbereiche. Mit diesen wählte er die Individuen schon in sehr jungen Jahren aus, um sie durch strenge Prägungsmaßnahmen in ihre Berufungen einzupassen. Perspektiven unterwarf er bedenkenlos seiner Macht. Phantasien erstickte er im Keim. Nervöser Wahn trieb ihn in die Schaffenssucht. Affektierter Ehrgeiz jagte ihn auch heute.

    Der Sarge war so aufgeregt, dass meine Zeugnisse nur oberflächlich von ihm überflogen wurden. Währen diese auf seine Iris projiziert wurden, zwinkerte er verkrampft und sein Schluckreflex gab röcheln von sich.

    Die Murmel nickte ständig vulgär nach vorn. Dabei knirschte das polierte Leder seines wippenden Thrones wie ein furzender Stier.

    Ich dagegen saß ihm in einem mit Kirschholzschnitzereien verziertem Ledersessel gegenüber. Zwischen uns die breite schwere Bastille, die scheinbar genau auf den Schneidepunkt der Diagonalen des Zeremoniensalons ausjustiert war. Die Feder kunstvoll in einen Rehlauf gefasst, stand nur ein langes Schreibgerät frivol auf der monströsen Tischplatte. Gehalten wurde es von einer konservierten Speiseröhre, die mit dynamischen Jagdmotiven in Goldfadenstickereien verziert war. Ein Tintentropfen presste sich aus der breiten Feder über der Fangschale, gequält vor der Entscheidung: ’Tropfe ich, oder Tropfe ich nicht?’.

    Schräglinks vor mir war ein unbepflanztes Aquarium aufgestellt. Darin schwamm, oder besser gesagt, darin klemmte ein großer Barsch. Das über einen Meter große Exemplar hatte ein dunkelblau glänzendes, schwarz gebändertes Schuppenkleid. Ebenso unnatürlich an dieser Zucht war sein leuchtend gelber Bauch. Doch das war nicht das quälendste an dieser Ansicht.

    Das über kahlen Grund schwebende Tier füllte von Kopf bis Schwanzflosse den Glaskasten aus und stieß beim atmen mit den Lippen an die Seitenverglasung. Vermutlich wartete es schon lange darauf die Grenzen seines Universums zu sprengen. Wenn es sich doch nur einmal hätte wenden können, würde es seinem Züchter ins Gewissen blicken. Als lebendes Präparat.

    Durch die bestimmte Sitzposition war jeder Gast gezwungen, sich von diesem Drama ein Bild zu machen. ’War dies eine Metapher auf alle Berufe oder nur wieder ein ungeheuerlicher Zeitvertreib Speerschneiders?’

    Mein Gesicht spiegelte sich auf dem Rücken des Barsches. Der Blick hatte etwas an Leichtigkeit verloren. Das dunkle Haar, die einst so starken Brauen und die genährten Wangen schimmerten verwässert durch das Aquarium. Der so gewohnte ungestüme Neugierblick war heute stumpf. Trotz allem verbarg sich selbst im Spiegelbild ein Morgenlächeln und meine strahlend hellen Bernsteinaugen brachen dieses Glas.

    So überlagerten sich unsere Reflexionen auf ungeklärten Wegen im Gefäß. Meine in Rudimenten noch vorhandene, infantile Zartheit ließ Speerschneiders Mimik zur Fratze einfrieren. Er hatte sich aus der Transmissionzange befreit und genoss für viele stille Minuten die seltene Informationsblockade. Absolute Haarlosigkeit bedeutete bei ihm nicht, sich auch noch einer Genusskahlheit hinzugeben. Seine hellgrauen Augen hatten etwas blechernes, auch weil sie wie Münzen unruhig in den runden Näpfen flackerten. Ebenso gehetzt hoben sich die nach oben geschwungenen Brauen ab. Nur durch einen ewigen Verformungskrampf hatten sie sich braun gefärbt und sahen aus wie bewachsenes Gebiet. Seine Nase entsprach doch eher einer Vase. Die vielen Sprünge darin ließen auf eine gewaltgeprägte Erziehung schließen.

    Auch das sadistisch breite Lächeln auf bläulichen Hundelippen hatte in den Hof geschichtsträchtige Verwerfungen gedrückt.

    Die straffe tiefe Sitzpolsterung verschluckte mich beinahe vollständig und gab bei jeder meiner Bewegungen ein breites, sattes Grollen von sich.

    Über Speerschneiders Kopfknolle hinweg blickte ich durch das großflächige Wandfenster auf einen wolkenlosen Sommerhimmel. Außen ratterte die Fensterputzmaschine auf ihren Führungsschienen nach unten. Um die Fassade stürzende Sturmböen machten ihr das Leben schwer. Sie gurgelte laut und verschluckte sich ständig. Die durchgeschäumten Bürstennäpfe sangen dabei ihr schmatzendes Lied. Röchelnd tauchte der Fensterlecker in das nächste Geschoss ab. Mit seiner hinterhergezogenen Gummilippe betonte er nochmals quietschend seine uneingeschränkte Gewissenhaftigkeit.

    „Ah Jach, Hamm Uff, ... Himm Haa, ... Hm Ach, ... Hm Jass, ..."

    Hieb für Hieb prügelte sich Speerschneider aus der Bewusstlosigkeit.

    „SIE – WOLLEN – ALSO – HEUTE – HIER – ZUM – BADER – GEWEIHT – WER – DEN?"

    Mit stakkatisch abfallender Stimme leitete Speerschneider die Zeremonie ein. Sechs harte Jahre der Ausbildung und zwei erniedrigende Jahre des Praktikums hatte ich, Gody Spitzer, durchgestanden. Jetzt endlich erwartete mich das Diplom zu einen der anerkanntesten Berufsgruppen in Pappstadt.

    Und diese wollte die Stadt der Bader werden.

    Eine Metropole der Kur und der Reinigung, Das klare Herz der Sinne, wie sich die Zunft gern dieses Titels bemächtigte.

    „Ja, ich will. Ich bitte sie ehrfürchtig mich zu weihen, Sergeant Speerschneider."

    Während meiner ungestümen Vorbeuge donnerte das Sesselleder wieder ordinär. Drauf lehnte er sich knarrend zurück, blickte kurz etwas erschrocken und schnellte mir genauso geräuschvoll wieder entgegen.

    „Ihnen ist bekannt, was für eine hohe Stellung diese Aufgabe in der Gesellschaft hat? Auch wenn die Berufsbezeichnung im Volksmund immer noch als – Ohrenkriecher – diffamiert wird?"

    „Ja, dessen bin ich mir bewusst und werde beiden Titeln entsprechend gerecht werden."

    Eine nachdenkliche Pause unterbrach seine begonnenen Ausführungen.

    Er drehte dämlich seine Kugelaugen durch die Luft und zuckte verlegen mit beiden Ohren. Anschließend sprang er fast über seine Festung und zeigte auf mich:

    „DIE REINHEIT!!", schrie er jetzt mit weit aufgeklapptem Kiefer,

    „DIE REINHEIT! SIE IST DAS OBERSTE GEBOT!

    In den Ohrgängen ..., in den Mundhöhlen ..., den Augäpfeln ...

    Ja wenn sie mit ihren Tinkturen in die Nasengänge und andere Ritzen hinaufkriechen ist das wichtigste:

    IHRE REINHEIT!

    Und die Fingerspitzen müssen sauber sein! Und die Nägel drüber auch!"

    Seine fanatische Augen schossen mir einen funkelnden Blitz entgegen.

    „Selbstverständlich …, Sarge...ant. Die Reinheit …, die Reinheit und die Hygiene …, repräsentiere ich …, meine – Mission – bin – ich."

    Sein gezückter Zeigefinger zitterte noch eine Weile vor meiner Nase, dann klappte er ihn ein und wir beide drückten uns laut in die Sessel zurück.

    Jetzt brannte ich noch stärker darauf, die Menschen von den Trübungen ihrer Sinnesorgane zu befreien, deren Verkrustungen zu lösen und ihre Wahrnehmung zu schärfen. Ohrenkriecher, diese Berufung hatte meine Seele durchdrungen.

    Sergeant Speerschneider stülpte sich nun feierlich und vollständig aus. Aufgerichtet streckte er Brust und Schultern, legte den Kopf etwas nach hinten, schritt langsam um seinen Schrein und baute sich, bereit zur Initiationszeremonie, mit ausgestreckten Armen vor mir auf. Ich imitierte zurückhaltend, abgeschwächt, zeitversetzt und weitestgehend unterwürfig.

    Der Sarge war jedoch schon so tief in Zeremonietrance gefallen, dass er das Zepter vergaß.

    Zur Weihe gehörte das Zunft-Zepter. Ein goldschimmerndes Metallrohr, an den Enden mit kugeligen Knäufen verschlossen und verlötet. In ihm befand sich die Lizenzurkunde und die Lappalien zum entsprechenden Beruf. Die Lappalien wurden von der berufsspezifischen Schärpe mit den zwei dazu gehörigen, langen, silbernen Fixiernadeln dargestellt. Je nach Heraldik und Schutzpatron der Berufszunft machten diese immer einen sehr kostbaren Eindruck.

    In meinem Falle erwartete ich den Schmalzlöffel im Muschelwappen als Schärpenstickerei, und das Relief des Junius auf den Nadelköpfen.

    Zur Gleichberechtigung der Zünfte waren an den Zeptern von außen keinerlei Unterscheidungsmerkmale erkennbar.

    Bestimmend räusperte ich mich laut und lange. Speerschneider sah mir erbost zu, wie ich auf seine weit aufgeschlagenen Hände wies. Dann begriff er, pfiff aufgeregt umher und stürzte sich tief hinter seine Bastille. Peinlich gerührt riss er große Schubladen auf und lautes klirren zahlreicher Zunft-Zepter ließ weitere Schreckpusteln auf seiner Murmel erblühen. Gehetzt grub er sich durch die dröhnenden Rohre. Doch keines dieser Ununterscheidbaren wollte als Zepter der Bader in seine Hand fallen.

    Der Alptraum, mich für den falschen Beruf zu initiieren, verzweifelte ihn sichtlich und hörbar. Musternd hüpfte seine errötete Murmel hinter der Tischplatte auf und ab.

    Je eines pro Hand nahm er nun Rohr für Rohr auf und schüttelte es dicht an seinen Ohren. Die Augen rollten gespannt von Rohr zu Rohr und Ohr zu Ohr. Und wieder ein kräftiges Schütteln links und wieder ein blechernes Klappern rechts. Sein Blick blieb oft an meinem fragend kleben. Die Zepter vor der Initiierung zu entsiegeln kam nicht in Frage. Keiner hatte jemals so etwas gewagt. Es würde die Entweihung aller beteiligten nach sich ziehen. Jedoch hielt mich das anhaltend polternde Schauspiel, mit der zum Irrsinn verzerrten Fratze des Sarge, gänzlich zum Narren.

    Er konnte doch nicht im Ernst daran glauben, dass …

    Doch wiederholtes und bestätigendes Schütteln ließ plötzlich ein triumphierendes Gesicht aufgehen. Absurd, aber das passende Geräusch schien erkannt. Dieser illusionäre Moment befreite uns beide so intensiv, das die darauf folgenden Zeremonierituale mir vollkommen aus dem Gedächtnis entschwanden. Wäre dies Speerschneider jemals zu Ohren gekommen, hätte er sich aber nicht mal daran erinnern können, um was es sich dabei konkret handelte. Die Initiationsriten und Weiheformeln waren durch sein langjähriges wirken in einen solchen unbewussten Gestus versickert, dass im eigentlich krönenden Akt sich die gesamte Tragweite Speerschneiders apathischer Attitüde dem gegenüber offenbarte. So behielt ich daraus nur seine vernebelt senile Väterlichkeit. Der Sarge begleitete mich noch bis zur stählernen Ausgangstür. Ein jammerndes Geräusch riss uns aber beide herum.

    Weit hinter seinem Machtschrein öffnete sich ein hoher Spalt in der Wand. Ja, es war eher ein Kinderschluchzen und ich sah wie eine zarte Kraft am Innern der schweren Flügeltür zerrte.

    „Sie gestatten?", und mit einem Klapps auf den Hintern schob mich Sarge hektisch aus seinem Büro.

    Den Klapps machte er zum Ritus jeder Zeremonie. Zuerst redete man ihm deshalb Sexismus nach. Aber als man ihn damit konfrontierte, erbrach er sehr lautstark und stellte seine Neurose klar:

    „Nur bei dem Gedanken daran, sehe ich sie alle verdauen."

    Man ahnte, dass er dabei vermutlich an etwas anderes dachte.

    Dagegen drehten sich meine Gedanken nur um die Instrumentenausgabe.

    Mit diesem Verlangen auf stolzem Blick durchschritt ich das Vorzimmer.

    Die Sekretärinnen ignorierten mich selbstverständlich. Zwölf der Damen saßen konkav um ihre Obersekretärin, die ständig von ihrem Thron herab den Kopf zu einer der unteren neigte. Alle hatte ihre Schädelklammer aufgespannt. Ohren und Augen waren verkapselt. Eine lederne Wulst transcodierte und transferierte die Informationswellen breitbandig und raumübergreifend auf die Hirnrinde. Es herrschte tuschelnde Stille. Einige Debütantinnen schnalzten auf ihre Zungenbeine. Dialoge und Diktate ließen sich jedoch nicht von den Lippen ablesen. Wenn sie empfingen, drehten die Debütantinnen ihren Kopf manchmal etwas in die Richtung der Quelle. Wie Abtastnadeln lauschten sie auf den Kanälen.

    Die altprofilierten harrten dagegen steif in ihren Hohlsesseln. Häufig zuckte die Oberin ihren Kopf zu ihnen hinab und ließ nur damit ihre Kiefer erzittern.

    Doch jetzt öffnete sich erstaunt ihr Mund. Sie legte sacht ihren Handrücken ans Ohr. Lauschend drehte sie ihr verkapseltes Gesicht zur der Wand, hinter der sich Speerschneiders Höhle befand. Danach fuhr sie langsam nickend auf mich zu.

    Witternd beugte sie sich über mich. Zwischen unsere Nasenspitzen wurde ein Dokument geschoben.

    „Das hier möchten sie von IHHHMMM ... noch siegeln und signieren lassen!", pulsierte es leise hinter dem Rüstzeugnis, welches mir Uniform und Instrumente gewähren sollte. Ich schnappte es mir und stieg zurück in sein Refugium.

    Die Burg war verlassen. Lange massive Tafeln hingen von der Decke. Wie schwebende Stellwände verschachtelten sie den Raum. Mit ihren Schatten verzerrten sie die Perspektiven und man interpretierte anwesende Personen hinter ihnen. Urzeitliche Piktogramme waren in den Stein gemeißelt.

    Auf dem polierten Reliefboden zirpten meine Sohlen. Sein Schreibtisch schwebte mir wie eine anschwellende Insel entgegen. Nach einer schwindelerregenden Sekunde drangen furchtbare Geräusche aus dem Nachbarraum zu mir. Peitschenden Stockhieben folgte gepresstes Kinderwinseln. Eine Tonleiter wurde zittrig in ein Piano geschlagen.

    Obwohl ich soeben noch mutig an der großen langen Flügeltür zum Nachbarraum stand, sah ich mich nun hinter seinem Schreibtisch mit Rollsiegel und Feder in der Hand.

    Die Klinke krachte herab und ein verschwitzter roter Kopf schnellte aus der Flügeltür.

    „JA WAS!? – NA GEBEN SIE SCHON HER, MANN!"

    Ich hetzte mit Siegel und Feder zum ihm, während er sich genervt den Hals nach hinten verdrehte. Auf meinem Rücken wurde hastig gerollt und gekritzelt. Der Sarge keuchte dabei entsetzlich. Zwischen Zeugnisübergabe und Türschlag erhaschte ich einen kurzen Wimpernschlag in den Raum, aus dem mich zwei verweinte Mädchenaugen hinter einem Konzertflügel anklagend fokussierten. Danach zerlief der Eindruck dieses kaum wahrgenommenen Augenblickes unter breiter erstickender Stille. Die gerade heftig zugeschlagene Tür gab keine einzige Schwingung von sich. Nur mein Atem schwallte von ihr kalt zurück.

    Verwirrt ergriff ich die Flucht aus dem Verließ und stürzte durch das Vorzimmer. Die Damen zuckten am ganzen Leibe und ihre Zungen trommelten im Chor.

    Im Gewirr von verdrillten Gängen und Fahrstuhlschächten fand ich endlich den richtigen Eingang zum Zeugsaal. Ovale Schalterhäuschen bildeten das Zentrum der Arena. Darum saßen die Anwärter aufsteigend wie das Publikum in einem Rundtheater. Ich schritt ein paar Stufen hinab und sah, wie aus den Dächern der Ausgabehäuschen ratternde Kanister auf Schienen in die Höhe schossen. Hinauf durch Öffnungsschleusen in der steinernen Glockenkuppel. Dort ließ man sie wieder heraus rattern, schwer bestückt und frisch geschmiert.

    Da die Instrumentenausgabe in einem alten, von Patina nur so bröckelnden Amphitheater statt fand, bewahrte sich dieser doch so wichtige Akt nur wenig feierliche Aura. Die zahlreichen Kandidaten auf den Rängen wippten auch dem entsprechend ungeduldig auf und ab. Sie wollten nach dem Schalterdurchlauf so schnell wie möglich über die Treppen nach unten entschwinden.

    Die Fenster der eiförmigen Schalter waren matt, sodass das Innenleben breite Schweife zog. Auf dem Dach jedes der Eier zeigte eine weißglühende Schrifttafel den Namen des nächsten Kandidaten an. Ich verweilte ein wenig auf der Haupttreppe und blickte erwartungsvoll auf die zwölf Eier der Arena. Jetzt wurde mein Name geschaltet.

    Ich galoppierte die Stufen hinab. Verständnislos glotzte die Meute über meinen unverzüglichen Aufruf. Tiefes brummen und fluchen schallte an mir vorbei.

    Vor der Tür meiner Zukunft wartete ich noch einige Sekunden, bis das Drehschild sich im Türblatt von Haltein auf Herein drehte. Langsam trat ich ein und schloss die Tür angemessen leise. Als erstes fielen mir die Glasballons mit öligen Flüssigkeiten auf, welche in Schwenkvorrichtungen von den Decken hingen. Nur sehr kurz wunderte ich mich darüber, denn der strenge Blick der Person am Ende des Raumes zog jeden zur Pflicht. Respektvoll schritt ich zum Ausgabetresen. Nur eine rechts stehende Truhe bremste mich noch einmal aus. Sie war geöffnet, kunstvoll beschlagen und in ihr pulsierte ein pumpender Kreislauf verschiedenfarbige Flüssigkeiten durch gläserne Röhrchen. Diese ständige Wanderung der Säfte faszinierte mich so lange, bis der schlagende Blick mir wieder lautstark gewahr wurde. Nach schnellem Lauf stand ich nun vor dem breiten Ausgabetresen, hinter dem mich ein durchfurchtes Gesicht fordernd ansprach:

    „Zepter! Ausweis! Rüstzeugnis!

    Und nur in dieser Reihenfolge!

    Ich bin ihr Schlüssler!

    Das das mal klar iss, ohne mich läuft hier gar nichts!

    Klar?"

    „Klar."

    „Gut! Na dann, mal sehen."

    Mein Schlüssler musterte alle Utensilien gewissenhaft.

    „Ja, gut, klar, ... na das iss logisch!"

    Das Zepter hielt er vor eine grünliche Strahlenquelle unter dem Tresen und begann mit zusammengekniffenen Augenschlitzen darin zu lesen. Genervt schüttelte er den Kopf, las, und schüttelte wieder. Energischer als Sergeant Speerschneider dies tat.

    „So Herrrrähh ... Ohrenkriecher namens Gody Spitzer , ... stimmt das, Hä?!"

    „Nein."

    „Häh?!"

    „Bader, Herr Schlüssler, Bader werd’ ich sein!"

    „Was, Häääh!!!"

    „Bäh!"

    „SCHNAUTZE! –

    Dann wolln wir sie mal der Behandlung unterziehn."

    Mit gerunzelter Stirn und stechendem Blick gab er mir alles zurück.

    In feurigem Eifer betätigte er nun einen in die Tresenplatte eingearbeiteten Schlüsseltaster. Hinter dem Tresen kletterte ein Kanister nach oben durch die Deckenluke. Stolz funkelnde Augenpaare blickten mich an. Gewiss, der Schlüssler war von seiner Macht besessen. Die Luke verschloss sich wieder und das eiserne Summen der Führungsschiene blieb uns als einzige Unterhaltung. Aufgestemmte Arme, verzerrte Mundwinkel und ineinandergeworfene Brauen stießen mir Hass, umpanzert mit kleingeistiger Eitelkeit entgegen.

    „Nun ..., Herr Schlüssler. So wie es aussieht, sind sie in ihrem Beruf einer der gründlichsten."

    Der Schlüssler wackelte sprungbereit mit den Nasenflügeln und schwieg.

    So kochten wir noch eine lange Minute dahin, während sich zum stechenden Gestank der Tinkturen noch leis ziehende Verdauungsgerüche hinzu gesellten.

    „Ach, wohl sein, mein Schlüssler! – Trotzdem wüsste ich doch zu gern ihren Namen."

    Seine Schiene vibrierte tief durch den Raum und verklang. Ohne den Kampfblick abzuwenden, zog er langsam ein Mikrofon vor seine Lippen und begann etwas unhörbares hineinzuflüstern. Dann klinkte er es wieder ein, wartete, starrte, schnäuzte, leckte sich die aufgesprungenen Lippen nass und fuhr seine dicken Finger wieder über den Schlüsseltaster. Vergnügt sang uns die Schiene ein neues Lied saalabwärts. Meine zukünftigen Instrumente einfahrend klapperte sie in bester Laune. Als der Kanister unten absetzte kehrte noch einmal Stille ein. Der Schlüssler blickte bedrohlich.

    „Das iss hier keine Schießbude, Junge! Ich kann dich noch auffliegen lassen ..., wenn ich will!"

    So senkte ich beschämt den Blick. Dies sollte sein Machtgefühl stärken.

    Aus der Sendung zog er langsam den Instrumentenkoffer heraus. Dieser strahlte mich mit seinem starken, hellbraunen Leder regelrecht an. Der Schlüssler öffnete ihn sogleich. Dies kam eher einem entfalten gleich, denn wenn Deckel und Seitenwände aufgeklappt waren, stellte sich der Koffer als geräumiges Schränkchen auf. Die mit dunkelbraunen Samt ausgeschlagenen Etuis, Fächer und Kassetten positionierten sich in einer logischen Bedienreihenfolge.

    Nach Systematik sprangen einem die Instrumente entgegen. Seitlich rollte sich eine abnehmbare blaue Matte aus, welche leere Senkfächer mit Schnappverschlüssen enthielt.

    Der Schlüssler packte die Instrumente aus, legte sie in die Fächer der Matte und predigte dazu beschwörend:

    „Ohrlanzetten, Hohlglastupfer, Augennäpfe, Bogenpipetten, Nasenbalg, Steinzieher, Schleimschieber, Rachengaser, Handsprinkler, Rückenzerstäuber, Filzknollen, Seidenpanthullen, Mundspatel, Maulhaken, Mundspiegel, Rachenspreizer, Lippenfalter, Sequenzierer, Inkubator, fünfzehner Gleitwurm, achter Gleitwurm, teleskopische Windeschlange ..."

    Der Schlüssler schwoll blau an, keuchte, machte aber konzentriert weiter.

    „... Augenhäkchen, Augenspiegel, Hammernadel, Spülabsorber, Schichtfräse, Mandelschlinge, Lanzette, Punktierer, Andrucklöffel, Klemme, Stanze, Beutel, Zange, Trieb und Öse.

    Das sind die siebenunddreißig Knebel, deine Grundausstattung. Den Gerätekoffer für Spezialanwendungen bekommst du von mir noch nachgeschickt." Es dauerte bis er jedes Instrument sorgsam aus den Etuis nahm und andachtsvoll vor mir aufbahrte. Jede seiner Bewegungen wurde mit solch Gefühl und Präzision durchgeführt, dass es ihn selbst in den Schein des Bekehrenden stellte.

    Sein Gesicht erfuhr dabei eine Entspannung, welche einer plötzlichen Verjüngung gleich kam. Ich schämte mich jetzt über meine lästernden Anspielungen, denn er nahm seine Berufung tatsächlich sehr ernst.

    Ihm kam es auf den Kern seiner Profession an. Nur das lästige, bürokratische Drumherum behandelte er mit der entsprechenden Respektlosigkeit. So verstand er es dem gegenüber, den Akt der Übergabe für mich zur Empfängnis auszugestalten. Als alle Instrumente ausgebreitet waren und sie sich ihrer Funktion und Größe nach ästhetisch ausgerichtet hatten, empfand ich tatsächlich das erste mal ein Gefühl der Weihe. Es war ein edles Besteck. Perlmutschäfte mit Goldfassungen blitzten trocken und rein. Messing, Chrom und Glas funkelten gespannt auf ihre Zukunft. Wie gepriesene Heilige lagen sie in der weichen Matte aus königsblauem Pannesamt. Jedes Werkzeug hatte darin sein eigenes gepolstertes Häuschen. Diese verschließbaren Täschchen waren so angeordnet, dass man bei entsprechender Faltreihenfolge ein ergonomisches Werkzeugwickel erhielt.

    Die praktischen Gurte halfen, es um die Hüfte zu schnallen. Somit ließ es sich leichter aus dem Bauch heraus arbeiten. Dies alles wurde mir emsig vom Schlüssler mehrmals demonstriert. Es war leicht zu erlernen, wie die vielen Instrumente den entsprechenden Futteralen zuzuordnen sind. Die Formen der Instrumente waren in den Futteralen ausgeprägt. Die Faltung des Wickels war schwieriger einzuprägen. Es gab nur eine einzige Reihenfolge, mit der man alle Futterale sicher arretieren konnte und das angeschnallte Wickel seine sinnvolle Zugriffspraxis erfüllte. Der lederne Koffer hatte jedoch wieder sein eigenes System zur Positionierung der Instrumente.

    „Sieh her und begreife! Das wird jetzt das berühmte Knebelrätsel.", mahnte der Schlüssler und eignete mir auch dieses langsam an.

    Geduldig zeigte mir der Meister das Einsetzten der 37 Einzelindividuen in Koffer und Wickel. Dann wieder mehrmals das geordnete verschränken der Etuis in diese. Ich versuchte mich irgendwie dankbar zu zeigen, auch um die vorangegangenen Patzer auszubügeln:

    „Ihre Geschicklichkeit lässt einen Meister dahinter erkennen."

    Elektrisiert blickte er mir tief ins Gesicht. Seine Augen wurden plötzlich feucht und das Kinn fing an zu zittern. Lautlos stieg er nun in den gelb schimmernden Hinterraum hinab. Verlassene Stille ließ mich entspannen und neugierig umsehen. Ein eigenartiger Raumeindruck drängte sich mir auf. Das ovale Schiff war indirekt beleuchtet. Durch die milchige Deckentäfelung lief weißes Licht die Wände hinab. Diese waren durchgehend mit Regalen verbaut. Die linke Seite hatte offene Fächer, in denen die defekten Instrumente mit deren Einsatzgeschichten lagerten. Schwere Tresore waren an der rechten Wand abgestellt. Ihre massiven Stellräder blinkten in weichen Halbtönen elektronisch verschlüsselte Lichtsignale in den Raum. Dieser Rhythmus wurde von den aufschlagenden Sohlen des Schlüsslers aufgenommen. Dort wo der ölige Zeugwart verschwunden war, trat jetzt ein leuchtender Weihpriester heraus.

    In eine weiß glänzende Robe gekleidet, erschien er nun vollständig verwandelt aus einer strahlenden Dimension. So feierlich wie er die Stufen hinauf strömte, hielt nur die silberne Siegelkette um seinen Hals ihn als einzig noch verbleibende weltliche Masse auf den Boden zurück. Sie verhinderte, dass er nicht als gasförmiges Medium entwich. Bis er endlich vor mir zur Ruhe kam, klirrte das Gehänge schwer auf seiner Brust. Die kelchartige Lederkappe auf seinem Kopf, ein großes Wedel zur Linken und mein Zepter zur Rechten machten ihn zum Zunftmeister. Wir beide standen uns jetzt vor dem Tresen gegenüber und die eindeutige Symbolik der Wappen auf seiner Schärpe bestätigten meine Bestimmung.

    „Nun werde ich weihen. Dich und Es."

    Die Tresore summten in Resonanz mit den Schwingungen seiner schweren Stimme. Obwohl es keinerlei Anlass dazu gab, zwang mich sein Schein in die Kniee. Verständnisvoll blickte er auf mich herab. Er schwenkte jetzt das Wedel über mich und die Instrumente. Es war ein schwarzer Schweif, welcher einen tierischen Geruch um sich verströmte.

    „So werde eins mit deiner Klientel und schöpfe aus der Reinheit klaren Saft."

    Er schlug jetzt mehrmals den Schweif auf mein Haupt, bis er ihn auf meinem Scheitel ablegte und das dicke Haar meinen ganzen Kopf wie eine Kapuze umschloss.

    Es klopfte und wir beide schreckten auf. Durch die Eingangstür schob sich ein zerzauster Kopf. Sein Hals wurde immer länger und man erkannte die rot glänzenden Schlangenlinien an seinem breiten Uniformkragen.

    Es war ein äußerst verzweifelter Gastrator.

    „Herr Schlüssler! Sehn sie diese Sauerei!?

    Meine Zunge hat sich schon nach zwei Sitzungen verzogen und verkrampft."

    Er hielt jetzt sein defektes Werkzeug hoch ausgestreckt in den Raum. An einem Handkolben mit verschiedenen Steuerhebeln hing eine schleimige, lange Silikonzunge. Sie rollte sich auf dem Boden aus, wälzte sich in ständiger Konvulsion und fiel in zappelndes Zittern.

    „So kann ich doch nicht arbeiten! Meine Kunden erleiden noch innere Verletzungen!"

    Fassungslos blickte ich durch meine aufgesetzte Haargardine, dem Schlüssler rutschte die Kappe derb aufs Nasenbein, dem Gastrator klappte der Kiefer weit auf. Er begriff sofort und entfernte sich ehrfurchtsvoll. Seine Zunge klatschte noch wehrhaft gegen das Türblatt, wurde aber erbarmungslos aus dem Raum gezerrt.

    Verdutzt zog der Schlüssler sich die Kappe zurecht und mir den Skalp ab.

    „Jetzt, BAAAHHHDER . . . , zeige dich der Weihe würdig!"

    Er stampfte um den Tresen, packte sorgsam ein letztes mal die geweihten Instrumente in den Koffer, übergab ihn mir mit dem Zepter und wies mir den Weg nach draußen.

    Als ich benommen am Türknauf zerrte rief er laut und streng:

    „HALT! GODY! HALT!

    Du hast die Öle vergessen!"

    Zielgerichtet drehte er sich schnell zu einem der Tresore, drehte schnurrend das Stellrad, öffnete fauchend die Tür, holte einen großes Zylindergefäß hervor und übergab es mir.

    „DIE ÖLTROMMEL!

    Heute nennt man sie Tinkturzylinder.

    Du kennst die Anwendung der Rezepte und Tinkturen?

    Gut, dann mach dich an die Arbeit!"

    Ein letztes mal sah ich ihn mit gefalteten Händen und zusammengepressten Lippen. Sorgenvoll nickend gab er mir zu verstehen:

    „So unbefangen möcht’ ich noch mal sein."

    Die Heimkehr

    Die schmiedeeiserne Treppe geleitete mich den Weg hinab. Viele der Berufenen holte ich dabei ein. Sie wurden ständig vom ausprobieren oder untersuchen ihrer Werkzeuge aufgehalten.

    Ein Lizenzierter war von der Zeremonie so erschöpft, dass er auf den Stufen zusammen sank und sich zweifelnd das von Scharnieren und Drähten überzogene Werkzeugpaar ansah. Er blickte unsicher auf seine neuen Hände. Da er sie noch nicht so recht zu handhaben verstand, schnupperte er neugierig an ihnen. Mit diesen Instrumenten war er jetzt endlich Kanaljäger. Ein angesehener Beruf. Wenn auch manchmal etwas schmutzig im Zugriff. Doch

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