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DER FLUCHTALGORITHMUS: und andere SF-Storys
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eBook413 Seiten4 Stunden

DER FLUCHTALGORITHMUS: und andere SF-Storys

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Über dieses E-Book

Die Fiktionen, die in diesem Kurzgeschichten-Band zusammengefasst wurden, stammen von einem Autor, der von sich selbst behauptet, zu gleichen Teilen Sarkastiker, Optimist, Moralist und Misanthrop zu sein.
Ähnlich widersprüchlich reihen sich die … Storys aneinander. Bestimmt wird mancher Leser erstaunt sein, was ihm hier unter dem Label »Science-Fiction« präsentiert wird.
Doch wenn man weiß, dass der Autor der festen Überzeugung ist, dass wir alle in einer schrägen Simulation leben, kreiert von einem zutiefst zynischen Wesen, gewinnen die Geschichten durchaus wieder an Glaubwürdigkeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum8. Sept. 2025
ISBN9783957656810
DER FLUCHTALGORITHMUS: und andere SF-Storys

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    Buchvorschau

    DER FLUCHTALGORITHMUS - Paul Sanker

    Paul Sanker

    Der Fluchtalgorithmus

    und andere SF-Storys

    AndroSF 196

    Paul Sanker

    DER FLUCHTALGORITHMUS

    und andere SF-Storys

    AndroSF 196

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: September 2025

    p.machinery Michael Haitel

    Die Urheberrechtsinhaber behalten sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

    Titelbild: Peggy & Marco Lachmann-Anke: Refugees (Pixabay)

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

    Herstellung: global:epropaganda

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31, 25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

    ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 476 2

    ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 681 0

    Science-Fiction

    Kinder des Mondes

    Ten

    »Liebst du mich, Jan?« Die Klimaanlage machte ein leises, klackerndes Geräusch. Ich muss morgen früh unbedingt die defekte Relaisschaltung austauschen, dachte er. Zärtlich streichelte Rachel seinen Bauch, während sie ihren Kopf an seine Schulter schmiegte. Er schwieg und starrte von ihrem Bett aus durch das Bullaugen-Fenster aus ultraverdichtetem Silicium-Glas hinaus auf die weite Ebene des Südpol-Aitken-Beckens. Bald würden sie gemeinsam den Erduntergang beobachten können. Die Erde: Jan kannte sie nur von den Erzählungen der Alten. Wie es wohl dort war? Eine Welt mit einer Sauerstoffatmosphäre, mit riesigen Ozeanen und unendlich weiten Wäldern. War es tatsächlich so, wie es Hieronymo sie als Kinder gelehrt hatte? Er konnte es kaum glauben. Pflanzen kannte er nur aus dem kleinen Gewächshaus in Sektor C von Berlin. Und dort gediehen bislang nur einige Gemüsesorten und ein paar Obstgehölze, um etwas vitaminhaltige Frischnahrung neben ihrer eintönigen Kost ernten zu können. Die Kolonisten ernährten sich vor allem von Algen und Eiweißfladen, die ebenfalls durch genmutierte Bakterien produziert wurden.

    »Jan?« Rachel hauchte ihm ihre Worte zärtlich ins Ohr. »Kannst du ihn spüren?« Sie legte seine Hand sachte auf ihren Bauch. Er spürte die kräftigen Bewegungen seines Sohnes. Ein Kloß steckte plötzlich in seinem Hals und tiefe Traurigkeit befiel ihn. Dann küsste er Rachel auf die Stirn und hielt sie fest in seinen Armen.

    Nine

    Historisches Archiv des soziokulturellen Instituts, Vereinte Netzwerke Europas, Katalog 2213, Datei 117CF9b. Thema: Persönlicher Blog. Autor: Anonymus 2265. Im Jahre 854 nach Henrik.

    Die Gentechnologie ließ sich nicht aufhalten. Weder durch Wirtschaftskrisen und schon gar nicht durch moralische Bedenken. Wer sollte in diesen Zeiten überhaupt derartige Einwände vorbringen? Welche Instanz?

    Die Kirche hatte genug mit sich selbst zu tun. Missbrauchsskandale weltweit wurden fast täglich durch den Sensations- und Skandaljournalismus vom Grunde des stinkenden Pfuhls des Schweigens an die Oberfläche gespült. Zuletzt wurde mit anklagendem Finger auf den Stellvertreter Petri auf Erden gezeigt, der in seiner Zeit im Priesterseminar ebenfalls nicht die Finger von sündigem Knabenfleisch lassen konnte. Mea culpa.

    Es folgte der erste Rücktritt eines Papstes in der Kirchengeschichte. Millionen Gläubige verloren Halt und Orientierung und drifteten ab in persönliche Parallelwelten. Die einen wurden Workaholics, andere Esoteriker. Viele blieben konsequent und brachten sich um. Doch die meisten taten das, was sie immer taten. Sie blendeten die Wirklichkeit aus und gingen zur Tagesordnung über.

    Immer höher und weiter, immer besser und schöner hieß die Devise. Versagen, Mittelmaß und Altern wurden nicht mehr akzeptiert. Facelifting, Botox und Liposuktion fanden ihren Weg aus der High Society zum normalen Durchschnittsbürger. Die Wissenschaft machte schier unglaubliche Fortschritte.

    Aus pluripotenten Stammzellen ließen sich im Labor Organe wie Nieren, Herz und Lunge züchten und konnten ihrem Besitzer in einer zunehmend risikoarmen Operation implantiert werden. Dies gelang bald auch mit Gliedmaßen und Nervengewebe. Krebs und Alzheimer stellten die Dauer der Lebenserwartung bald nicht mehr infrage. Die Menschen wurden immer älter und wirkten äußerlich immer jünger. Das Durchschnittsalter lag bei hundertvierzig Jahren, in Einzelfällen konnten aber auch hundertachtzig Jahre erreicht werden.

    Es versteht sich von selbst, dass von diesen kostspieligen Segnungen der Wissenschaft nur die reichen Industrienationen profitierten. An den armen Ländern ging der medizinische Fortschritt vorbei. Immerhin gelang es der Gentechnik, in unbegrenztem Ausmaß eiweißreiche Bakterienkulturen und Algen zu züchten, die den Hunger in der Welt hätten beseitigen können.

    Hätten …, können … wäre da nicht die wachsende Überbevölkerung gewesen.

    Paradoxerweise bestand das Bevölkerungsproblem dank der zunehmenden Langlebigkeit bei den Reichen und Schönen. Und die brauchten nun immer mehr Platz. So entstand der Gedanke, eine Mondkolonie zu errichten. Wer für die Errichtung einer derartigen extraterrestrischen Basis infrage kam, stand auch schon fest …

    Es war klar, dass trotz der Möglichkeit, kranke Organe und Körperteile gentechnisch zu ersetzen, irgendwann dem biologischen Leben ein Ende gesetzt war. Außerdem wurde den Menschen die Pflege und Sorge um den Körper immer lästiger und zu viel.

    In einer Zeit, die schnelllebiger wurde und Kommunikationswege immer kürzer, in der immer mehr geleistet und erlebt werden wollte, da störte der Körper mit seinen hartnäckigen Bedürfnissen nach Nahrung, Säuberung und vor allem Schlaf.

    Während der letzten großen Kriege machte das Militär vor, was mit dem Körper, dem letzten Relikt eines primitiv archaischen Daseins geschehen konnte. Freiwillige stellten sich zur Verfügung, die ihr Gehirn in einen Maschinenkörper einbauen ließen, der dem biologischen Vorgänger in allen Belangen überlegen war. Die Titan-Legierung war robust, stark, schnell und nahezu unverwundbar. Er kannte keinen Schmerz und keinen Hunger.

    Seine optischen Sensoren konnten weit entfernte Objekte besser erfassen als ein Fernglas, auch nachts. Zu Lande und in der Luft konnte er sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als dreihundert Stundenkilometern fortbewegen. Er war das ideale Kampfinstrument.

    Die Armee der Cyborg-Kämpfer war effizient und verursachte keine Kosten für Nahrung, Kleidung, Unterkünfte. Ihre Gehirne brauchten kaum Ruhepausen oder Schlaf.

    Sorgen um neue Rekruten brauchte sich das Oberkommando nicht zu machen. Die Zahl der Freiwilligen war unerschöpflich. Die Aussicht auf ein Jahrhunderte andauerndes langes Leben ohne einen störenden organischen Leib war für viele eine Traumvorstellung, die sich mit Eintritt in die Armee mühelos verwirklichen ließ. Man nannte diese Maschinen-Menschen Veterans, in Anlehnung an die Veteranen der Kriege in Vietnam oder Korea, die nach schweren Verletzungen mit Arm- oder Beinprothesen versorgt wurden oder auf den Rollstuhl angewiesen waren.

    Nach jedem Kriegseinsatz hatten die Veterans die freie Wahl, was sie mit ihrer Freizeit anfangen wollten. Viele unternahmen mit ihrem Flugantrieb lange Reisen über den gesamten Erdball. Es war ihnen sogar möglich, bis in die Stratosphäre aufzusteigen und wie ein Satellit die Erde zu umkreisen. Doch die meisten zogen das Angebot vor, ihren Cyborg-Körper in eine von Tausenden riesigen Lagerhallen abzustellen und zu deaktivieren, während das Gehirn von einer psychotropen Substanz umspült wurde, um in endlosen süßen Träumen zu versinken.

    Die synthetische Droge erschuf für jeden das individuelle Paradies. Während der eine mit seinem Geist an einem einsamen Karibikstrand lag, durchlebte der nächste nicht enden wollende Orgien im Harem seines Palastes wie in Tausendundeiner Nacht.

    Eight

    Logbuch des Kommandanten des Luna-Projektes Leo 1455, 23. Februar 2299, Mond-Kolonie Clear-Town.

    Die zweite Hohlkugel konnte endlich fertiggestellt werden. Sie bietet Raum für fünfunddreißig neue Siedler, die mit dem nächsten Raumtransporter von der Erde ankommen werden. Wir tauften sie Paris. In Washington, also Kugel 1, wird inzwischen der gesamte Sauerstoff durch Clostridium oxygenus produziert, das genetisch veränderte Botulismus-Bakterium. Nun sind wir dabei, ausreichende Kulturen für Paris zu produzieren, das in spätestens drei Monaten bezugsfertig sein wird. Die Planung sieht vor, dass in den nächsten hundert Erdjahren hundert Hohlkugeln entstehen. Also jedes Jahr eine. In der zweiten Phase unserer Mission sollen die Kugeln über unterirdische Stollensysteme miteinander verbunden werden. Damit wäre Abschnitt 1, der Bereich Clear-Town, vollendet. In ähnlicher Weise würden anschließend weitere Gebiete des Mondes erschlossen. Ein ehrgeiziges Projekt, das Jahrtausende erfordern würde, wenn uns die Erde nicht deutlich mehr Arbeitskräfte und Material liefert. Doch wir haben großes Vertrauen in die Planung und Weitsicht unserer weisen Väter und Mütter unserer Heimatwelt. Und wir sind allesamt stolz darauf, dass wir dazu auserwählt wurden, aus diesem unwirtlichen, lebensfeindlichen Mond eine Heimat für Millionen neuer Siedler zu formen. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst.

    Seven

    Historisches Archiv des soziokulturellen Instituts, Vereinte Netzwerke Europas, Katalog 2213, Datei 117CF9c. Thema: Persönlicher Blog. Autor: Anonymus 2265. Im Jahre 854 nach Henrik.

    Vor allem Bürger aus mittleren und unteren sozialen Bevölkerungsschichten entschlossen sich zu einem Cyborg-Dasein. Die gebildete Oberschicht, Akademiker, Politiker, Künstler und Intellektuelle scheuten in der Regel diesen Weg. Ihnen fehlten als Maschinenwesen Individualität und Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation.

    Zudem häuften sich unangenehme Zwischenfälle, bei denen Veterans einzeln oder in Gruppen aus unerfindlichen Gründen Amok liefen und mit ihren mächtigen integrierten Waffen an öffentlichen Plätzen wie Flughäfen, Bahnhöfen oder in Theatern und Stadien ein Blutbad anrichteten, bevor sie durch Sondereinsatzkommandos unschädlich gemacht werden konnten.

    Es wurde vermutet, dass eine Variante des Alzheimer-Virus für diese unkontrollierbaren Aggressivitätsschübe verantwortlich war, das das alternde Gehirn des Cyborgs befiel, wenn eine Art Ablaufdatum des zerebralen Gewebes erreicht war.

    Psychologen bevorzugten die Theorie, dass die Gehirne in ihren Metallummantelungen vereinsamten und in der unstillbaren Sehnsucht nach körperlicher Nähe und einem realen zwischenmenschlichen Kontakt durchdrehten und in Raserei verfielen.

    Wie dem auch sei. Diese immer häufiger auftretenden Vorfälle führten dazu, dass in die Titan-Umfassungen der Cyborg-Hirne ein Sprengsatz eingebaut wurde, der von einer Zentrale aus jederzeit gezündet werden konnte, wenn der Cyborg außer Kontrolle geriet.

    Wie gesagt, verzichtete die Elite der Bevölkerung auch deshalb lieber darauf, ihr Gehirn in eine Maschine verpflanzen zu lassen. Sie zog es vor, durch teure gentechnische Manipulationen ihren Körper so lange wie möglich jung und gesund zu erhalten. Fortpflanzung fand ebenfalls nur noch im Reagenzglas statt, um die Nachkommen möglichst perfekt nach den Vorstellungen ihrer Eltern designen zu können.

    Dennoch entstand in den Jahren 220 bis 295 nach Henrik ein Heer von einer halben Milliarde Cyborgs, die in Zeiten der Kriege und Unruhen jederzeit aktiviert und in den Einsatz geschickt werden konnten. In Friedensphasen wurden sie platzsparend in unterirdischen Katakomben deponiert, in denen sie auf unbestimmte Zeit in ihren Träumen versanken.

    Die Veterans waren aber auch die idealen Kandidaten, auf dem Mond mit seinen unwirtlichen Bedingungen eine Kolonie zu errichten. Die ersten Raketen zum Mond starteten im Jahre 282 n. H.

    Bis zum Jahre 300 n. H. befanden sich hundertachtzig Kolonisten auf dem Mond, allesamt Clear (siehe auch Katalog 2213, Datei 117CF9f). Dazu kamen achthundertfünfzig Veterans für die groben Arbeiten auf der Mondoberfläche. Das besiedelte Areal betrug inzwischen fast sechsunddreißig Quadratkilometer. Auf dieser Fläche standen zehn Hohlkugeln, die jeweils auf einer Rundsäule aus Titan lasteten, durch die jede Kugel in Rotation versetzt werden konnte. Die dadurch entstehende Zentrifugalkraft simulierte im Innern der Kugel ein künstliches Schwerefeld. Energie wurde zum einen durch riesige Sonnenkollektoren erzeugt, zum anderen auch in Kernfusionsreaktoren durch Nutzung des im Mondgestein reichlich vorhandenen Helium-3.

    Six

    Jan war der Anführer der vierundzwanzig Bewohner von Kugel 4, oder Berlin, wie man sie getauft hatte. Er war für fünf Jahre demokratisch gewählt worden mit der Option, noch einmal für fünf weitere Jahre zu kandidieren. Nicht überall hatte man die Hierarchie so festgelegt. Jede Kugel stellte aufgrund ihrer Isolation einen Mikrokosmos für sich dar. In Delhi zum Beispiel hatte sich nach einem blutigen Kampf, bei dem vier Bewohner ums Leben kamen, eine Art Militärdiktatur entwickelt. In Tokio dagegen musste jeder Beschluss eines dreiköpfigen Rates per Bürgerabstimmung bestätigt werden. In Rio herrschte nahezu Anarchie. Die achtunddreißig Bewohner gehörten vier verschiedenen Gruppierungen an, die sich in ihren Entscheidungen gegenseitig blockierten.

    Derweil ging der Raketenbau zwar langsam, aber stetig weiter. Zum Glück ließen sich die Cyborgs nicht durch das babylonische Durcheinander in den zehn Kugeln beeindrucken. Sie kannten ihren Auftrag und wussten, was sie zu tun hatten.

    Auch für die Veterans war das Raumschiff die einzige Möglichkeit, jemals wieder die Erde wiederzusehen. Eine Gruppe von fünf Cyborgs hatte vor einigen Jahren versucht, mit ihrem eigenen Antrieb die Distanz zur Erde zu überwinden. Sie brauchten dafür fast sechzig Tage. Dann verglühten sie in der Atmosphäre.

    Jan hatte so etwas wie eine Freundschaft mit CR34zt, dem Führer der Veterans, geschlossen. Sie unterhielten sich oft miteinander und sprachen über Gott und die Welt. Recht bald stellte Jan fest, dass das Thema Tod eine große Bedeutung für den Cyborg hatte. Es war klar, dass der Veteran labil und im höchsten Maße suizidal gefährdet war.

    Five

    Historisches Archiv des soziokulturellen Instituts, Vereinte Netzwerke Europas, Katalog 2213, Datei 117CF9d. Thema: Persönlicher Blog. Autor: Anonymus 2265. Im Jahre 854 nach Henrik.

    Einen Wendepunkt stellte das Jahr 331 nach Henrik dar. Ein Cyber-Historiker namens Ernesto Finn fand in geheimen Militärarchiven Berichte über ein Computerprogramm, mit dessen Hilfe sich der menschliche Geist in ein Netzwerk einspeisen konnte. Das Programm entstand auf der Grundlage eines Computerspiels namens Kingdom of Fantasy, das von den Spieleentwicklern Peter und Paul Winzig im Jahre 2000 nach Christus – oder nach der neuen Zeitrechnung 9 vor Henrik – auf den Markt kam.

    Zunächst sah es so aus, als ob es sich dabei um ein ganz gewöhnliches Online-Game handelte. Der Spieler schuf sich einen Avatar, mit dem er als Kämpfer oder Magier eine Welt voller Feinde und Monster bereisen konnte, um verschiedene Quests zu lösen, für die es magische Gegenstände als Belohnung gab. Doch schon bald stellte sich heraus, dass dieses Spiel etwas ganz Besonderes war.

    Es handelte sich nämlich um eine intelligente Software, die sich selbstständig weiter programmieren konnte. So entstanden wie von selbst innerhalb des Programms immer neue Landschaften und Fantasiewesen. Den Spielern wurden ständig weitere Aufgaben gestellt, die sie zu lösen hatten. Aber damit noch nicht genug.

    Einzelne neue Programmabschnitte entwickelten sich zu einem Brain-Computer-Interface, kurz BCI. Das bedeutete, dass der Computer mit den Gedanken des Spielers in Verbindung treten konnte. Dies hatte weitreichende Konsequenzen. Zum Beispiel konnte es passieren, dass der Spieler, dessen Avatar im Kampf durch einen Schwerthieb eine Wunde am Arm erlitt, durch seine Gedankenverbindung mit dem PC den Schmerz der Verletzung real am eigenen Körper spüren konnte.

    Sogar die Wunde selbst wurde mit ins Real Life genommen. In vielen Fällen bedeutete somit der Tod des Avatars gleichzeitig den Tod des Spielers. Die Verbindung des Menschen mit dem Computer führte bis zur vollkommenen Verschmelzung, durch die der Geist des Spielers aus seinem Körper trat und den Avatar als neue Hülle nutzte.

    Das heißt, er agierte und lebte im Computer und im Kingdom of Fantasy als Magier oder Paladin weiter. Derweil existierte der biologische Körper wie ein Zombie im Zustand einer Art Wachkoma weiter. Wenn der Player die Zeit vergaß und sich zu lange in der virtuellen Welt vergnügte, konnte es passieren, dass er vor seinem PC verhungerte und verdurstete. Dann gab es kein Zurück mehr und er musste für immer sein virtuelles Leben fortführen.

    Four

    Logbuch des Kommandanten des Luna-Projektes Bruce 87, 23. Februar 2629, Mond-Kolonie Clear-Town.

    Seit zweihundertfünf Jahren besteht mit der Erde kein Kontakt mehr. Die Hoffnung auf weitere Materiallieferungen von unserem Heimatplaneten haben wir längst verloren. Was dort vorgefallen ist und warum die Verbindung abgerissen ist, bleibt rätselhaft. Den ursprünglichen Plan, den Mond zu kolonisieren, indem immer mehr und größere Hohlkugeln errichtet werden, mussten wir aufgeben.

    Seitdem die Sauerstofftanks in den Raumanzügen leer sind, ist es nicht mehr möglich, die Nachbarkugeln zu erreichen. Das bedeutet, dass die einzelnen Besatzungen auf sich alleine gestellt sind.

    Die einzige Möglichkeit besteht darin, dass wir aus den vorhandenen Mitteln ein Raumschiff bauen können, das uns zur Erde zurückbringt.

    Nach vorsichtigen Schätzungen könnte das frühestens in hundertfünfzig Jahren gelingen. Doch bis dahin werden wir nicht mehr leben.

    Besteht zumindest für unsere Nachkommen die Hoffnung, eines Tages die Erde wiederzusehen? Und welche Nachkommen werden das sein?

    Durch die Isolation der einzelnen Hohlkugeln ist der Genpool begrenzt, der zur Vermehrung zur Verfügung steht.

    Die Bewohner der einzelnen Kugeln leben auf engem Raum beisammen. Viele neue Generationen wurden bereits in Clear-Town geboren. Wir sind stolz auf unsere Kinder des Mondes, die wir über alles lieben. Wir genießen unser Glück, Eltern sein zu dürfen und unsere Kinder aufwachsen zu sehen, zumal wir ursprünglich von Clear abstammen, geklonten, im Reagenzglas erzeugten Wesen, einzig zu dem Zweck geschaffen, eine Mond-Kolonie zu gründen.

    Aber auch Angst und Traurigkeit befallen uns, wenn wir an das ungewisse Schicksal der Folgegenerationen denken. Bieten wir ihnen mit ihrer Geburt ein menschenwürdiges Leben oder folgen wir nur unserem Egoismus und triebhaften Drang nach Reproduktion? Und ein weiteres Problem gewinnt immer mehr an Bedeutung. Mit Sorge beobachten die Ältesten in allen Hohlkugeln, dass bereits Liebesbeziehungen zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades zum Normalfall geworden sind. Nun ist der erste Fall bekannt geworden, wo der Bruder seine Schwester geschwängert hat. Bei dem kleinen Genpool innerhalb der in sich isolierten Kugeln ist es trotz Kontrolle durch die älteren Generationen nicht zu vermeiden, dass bald alle Bewohner miteinander verwandt sind.

    Mit Entsetzen haben wir gehört, dass der Diktator in Delhi mit seinen drei Töchtern regelmäßigen Inzest betreibt und ebenfalls bereits Kinder aus dieser Beziehung entstanden sind.

    Ganz anders stellt sich die Situation dagegen in Genf dar. Dort leben nur noch acht Personen, davon zwei Schwestern im gebärfähigen Alter. Die drei noch zeugungsfähigen Männer sind der Bruder und zwei Cousins ersten Grades.

    Alle sind dort übereingekommen, unter diesen Umständen keine weiteren inzüchtigen Nachkommen zu produzieren. Welcher Weg ist der richtige? Ich vertrete weiterhin die Überzeugung, dass das Leben immer eine Chance verdient hat. Auch in einer verzweifelten Situation wie in Clear-Town. Vor allem, solange es noch Hoffnung gibt. Hoffnung auf eine Rückkehr zur Erde.

    Three

    Historisches Archiv des soziokulturellen Instituts, Vereinte Netzwerke Europas, Katalog 2213, Datei 117CF9e. Thema: Persönlicher Blog. Autor: Anonymus 2265. Im Jahre 854 nach Henrik.

    Dem ersten Menschen, dem es gelang, seinen Geist vollständig in die virtuelle Welt des Kingdom of Fantasy zu integrieren, war ein junger Mann namens Henrik Wanker. Allerdings handelte es sich dabei mehr um eine Art Unfall. Dennoch gilt bis heute Wanker als der Pionier der körperlichen Entstofflichung, dem es gelang, als reines Geist-Energie-Wesen zu existieren. Somit war Henrik Wanker der erste Essential.

    Genauere Informationen zum Leben und Wirken von Henrik Wanker sind zu finden in Kat. 2213, Dat. 65Nx33, Hist. Arch. unter: Der Tod aus einer anderen Welt von Paul Sanker aus dem Jahre 2 nach Henrik oder 2010 der alten Zeitrechnung.

    Nach diesem Ereignis wurde das Online-Spiel im Jahre 1 nach Henrik jedoch zunächst schleunigst aus dem Verkehr gezogen und dessen Software verschwand in den Geheimarchiven des Militärs, bis im Jahre 331 n. H. Ernesto Finn auf diese fast vergessenen Unterlagen stieß.

    Schnell erkannte man, dass dieses noch recht primitive Programm der erste Schritt in Richtung ewiges Leben in Jugend und Schönheit war. Vor allem stellte es die Lösung des Problems dar, wie man endlich den lästigen Körper aus Fleisch und Blut loswerden konnte. Die Zeiten, dass man wie die Veterans sein Gehirn wie eine Ölsardine in eine Metallkiste deponieren musste, waren endlich vorbei.

    Man schuf zunächst viele einzelne Netzwerke, in denen Landschaften und Umgebungen kreiert wurden, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der User gerecht wurden. So gab es paradiesische Inselwelten, in denen man traumhafte Strände genießen konnte, Urwaldlandschaften, die erforscht werden konnten oder mittelalterliche Szenarien, in denen Drachen besiegt oder die Kreuzzüge neu erlebt werden konnten.

    Möglich waren auch Reisen mit Lichtgeschwindigkeit durch ein virtuelles Weltall hin zu fernen Planeten und Zivilisationen. Die Fantasie der Programmdesigner kannte keine Grenzen.

    Allerdings mussten sie nur einen Basiscode anlegen, den göttlichen Funken sozusagen. Das intelligente Programm entwickelte sich von selbst immer weiter. Die Evolution fand von alleine statt.

    Immer mehr Menschen speisten ihren Geist in riesige Netzwerke ein und blieben immer länger in ihrer persönlichen virtuellen Welt. Schon bald verzichteten die Ersten vollkommen auf eine Rückkehr in ihre biologische Hülle und ließen sie entsorgen. Man nannte solche reinen Geisteswesen die Essentials.

    Der größte Vorteil dieses schmerzlosen Weges der Entstofflichung war, dass die Möglichkeit der interspirituellen Kommunikation bestehen blieb. Nichts war einfacher, als mit seinem Avatar die persönliche Welt eines Freundes oder Bekannten zu besuchen, wenn dieser es zuließ. Das war der eigentlich revolutionäre Fortschritt gegenüber den Veterans, die einsam in ihren Metallhülsen dahinvegetierten.

    Plötzlich wurde damit aber auch das aufwendige und teure Mondprojekt überflüssig. Das Problem der Überbevölkerung war gelöst. Wer brauchte da noch den langweiligen, unwirtlichen Erdtrabanten? Also wurden schlagartig weitere Material-Lieferungen eingestellt. Warum sollte man sich weiter um einen nutzlosen Haufen Clear und Veterans kümmern?

    Innerhalb der nächsten hundert Jahre war mehr als die Hälfte der Menschheit digitalisiert, nach weiteren hundert Jahren sank die globale Bevölkerungszahl auf unter fünfhundert Millionen Individuen. Die Krone der Schöpfung machte durch Beseitigung seines Körpers auf der Erde wieder Platz für die übrige Natur, die so lange Zeit durch ihn missachtet und geschunden worden war. Die Umweltverschmutzung stellte kein Problem mehr dar. Auto- und Flugreisen wurden überflüssig. Alle Bedürfnisse und Wünsche konnten virtuell befriedigt, alle Ziele problemlos in Nullzeit erreicht werden.

    Dennoch ging es nicht ganz ohne Unterstützung aus der äußeren, realen Welt. Jemand hatte dafür Sorge zu tragen, dass Hardware und die Netzwerke gewartet wurden. Die Energieversorgung musste gewährleistet werden. Doch vor allem mussten die virtuellen Existenzen bewacht und geschützt werden.

    Schon bald, nachdem die ersten Millionen Essentials entstanden waren, tauchten radikale Fanatiker und religiöse Gruppen auf, die lautstark gegen die Entmaterialisierung der Menschen protestierten. Sie propagierten, dass es widernatürlich und Sünde sei, den Körper – ein Geschenk Gottes – zu verlassen.

    Einer Gruppe in Frankreich gelang es, ein Netzwerk, in dem hundert Millionen Essentials eingespeist waren, für eine Stunde von der Stromversorgung zu trennen. Dies kam einem Massenmord von noch nie da gewesenem Ausmaß gleich.

    Two

    Jan und Rachel waren von Kindesbeinen an unzertrennlich. Alles heckten die beiden gemeinsam aus und immer hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Sie teilten sich gegenseitig ihre geheimsten Gedanken mit. Immer wusste der eine ganz genau, was der andere dachte und fühlte. Es war halt so, wie es oft war, bei Zwillingsgeschwistern.

    Und eines Tages gestand Rachel ihrem Bruder Jan ihre tiefe, bedingungslose Liebe ein. Und Jan erkannte, dass er ebenso fühlte. Natürlich blieb ihren Eltern die enge zärtliche Verbundenheit ihrer Kinder nicht verborgen. Dazu teilten sich zu viele Menschen einen zu engen Raum. Doch was sollten Mutter und Vater tun, die im Übrigen selbst Cousin und Cousin ersten Grades waren?

    Eine Trennung der beiden war unmöglich.

    One

    Historisches Archiv des soziokulturellen Instituts, Vereinte Netzwerke Europas, Katalog 2213, Datei 117CF9f. Thema: Persönlicher Blog. Autor: Anonymus 2265. Im Jahre 854 nach Henrik

    Von da ab wurden die Netzwerk-Server in unterirdischen Bunkeranlagen, ehemaligen U-Bahn-Systemen und Bergwerksstollen untergebracht und von Tausenden Veterans bewacht. Da man den Cyborgs aufgrund ihrer bekannten Fehleranfälligkeit und der Gefahr von weiteren plötzlichen Amokhandlungen nicht trauen durfte, wurden sie von Freiwilligen kontrolliert, die das Oberkommando innehatten. Man nannte diese Freiwilligen Clear.

    Die Clear stellten die Verbindung zwischen der virtuellen Welt der Essentials und der realen Welt auf der Erde dar. Gleichzeitig kontrollierten sie die Veterans. Sie lebten ihr körperliches Dasein in verschwenderischem Luxus. Es fehlte ihnen an nichts – nur an der Unsterblichkeit. Dies war der Grund, warum immer weniger Menschen bereit waren, den Essentials zu dienen. Wozu auch, wenn man selbst ganz leicht zum Essential werden konnte?

    Also entschloss man sich, passende »Freiwillige« zu klonen. Sie erhielten perfektes Erbgut, damit sie ihre ihnen zugedachten Aufgaben zur Zufriedenheit erfüllen konnten. So entstanden Computer-Spezialisten, Ingenieure und Energietechniker, aber auch Soldaten und Offiziere, die die Cyborg-Armee kommandierten. Diese neue Generation von Clear wurde von Kindesbeinen an so konditioniert, dass ihr einziger Lebenszweck sei, den herrschenden, gottgleichen Essentials zu dienen.

    Es entstand ein neues Kastensystem auf der Erde: An der Spitze standen die Essentials als reine, vollkommene Geistwesen. Darunter kamen ihre Diener, die Clear. Diese wiederum befehligten die riesige Armee der Veterans. Doch es gab darunter noch eine weitere Stufe in der Hierarchie, die zum Problem werden sollte …

    Nicht alle Menschen waren bereit, den Weg in die virtuelle Existenz zu gehen, wie eben religiöse Fanatiker und radikale Spinner. Es kam noch hinzu, dass einige Randgruppen der Bevölkerung das Privileg der Entmaterialisierung verweigert wurde. Dazu gehörten Schwerstkriminelle, Obdachlose und Geisteskranke. Die Gesellschaft beschloss, diese Zeitgenossen von Stund an zu ignorieren, und überließ sie unbeachtet wie Tiere ihrem Schicksal. Darum nannte man sie auch Pets.

    Die Pets bevölkerten zunächst weiter die zunehmend verlassenen und verfallenden Städte. Später, als Strom- und Wasserversorgung versagten und die ersten Gebäude wegen wachsender Verfallserscheinungen in sich zusammenstürzten, besiedelten sie die Urwälder, die sich immer größere Bereiche der Erdoberfläche zurückeroberten.

    Die Pets fanden sich zu unterschiedlich großen Gruppen oder Horden zusammen und lebten vorwiegend von der Jagd. Es entstand eine neusteinzeitliche Kultur, die im Laufe der Jahrhunderte ihre Vergangenheit allmählich vergaß.

    Genauso, wie die Erde und die Essentials die Mondkolonisten vergaßen …

    Zero

    Logbuch des Kommandanten von Berlin, Jan 6554, 6. Februar 2863, Mond-Kolonie Clear-Town.

    Unsere Bevölkerungszahl ist auf zweihundertzweiundfünfzig angewachsen. Die Anzahl der Personen pro Kugel ist allerdings sehr heterogen. In Delhi wohnen fünfundvierzig Menschen, während in Tokio nach der verheerenden Explosion des Kernreaktors im letzten Jahr nur noch drei Personen leben.

    Die Fortschritte an unserem Raumschiff gehen nur langsam voran. Inzwischen existieren nur noch achtunddreißig Cyborgs. Der größte Teil der übrigen Veterans beging im Laufe der Zeit Selbstmord, indem sie mit ihren Laserwaffen ihr Gehirn zerstörten. Hundert Veterans dagegen beschleunigten ihre Triebwerke wie auf ein geheimes Kommando auf vollen Schub, um auf ewig ins All fortzudriften.

    Nach Einschätzung unserer beiden

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