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Der Mutter-Tochter-Mörder-Club: Kriminalroman | Cosy Crime mit Witz und starken Frauen | Sommerkrimi 2024 | A Reese Witherspoon Book Club Pick | New York Times Bestseller 2024
Der Mutter-Tochter-Mörder-Club: Kriminalroman | Cosy Crime mit Witz und starken Frauen | Sommerkrimi 2024 | A Reese Witherspoon Book Club Pick | New York Times Bestseller 2024
Der Mutter-Tochter-Mörder-Club: Kriminalroman | Cosy Crime mit Witz und starken Frauen | Sommerkrimi 2024 | A Reese Witherspoon Book Club Pick | New York Times Bestseller 2024
eBook526 Seiten6 Stunden

Der Mutter-Tochter-Mörder-Club: Kriminalroman | Cosy Crime mit Witz und starken Frauen | Sommerkrimi 2024 | A Reese Witherspoon Book Club Pick | New York Times Bestseller 2024

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Über dieses E-Book

Nichts schweißt eine Familie so schnell zusammen wie eine Mordermittlung ...

Die erfolgreiche Geschäftsfrau Lana Rubicon hat viel, worauf sie stolz sein kann: ihre ausgeprägte Intelligenz, ihren tadellosen Geschmack und das Immobilienimperium in L.A., das sie selbst aufgebaut hat. Doch als sie in einem verschlafenen Küstenstädtchen mit ihrer erwachsenen Tochter Beth und ihrer Teenagerenkelin Jack zur Rekonvaleszenz zusammenziehen muss, bleibt Lana nichts anderes übrig, als Otter statt Quadratmeter zu zählen und zu hoffen, dass die Langeweile sie nicht umbringt, bevor es der Krebs tut.

Dann stößt Jack beim Kajakfahren in der Nähe ihres Hauses auf eine Leiche. Jack wird schnell zur Verdächtigen in der Mordermittlung, und die Familie stürzt ins Chaos. Drei Generationen setzen alles daran, den wahren Schuldigen zu finden. Als die Amateurschnüfflerinnen in immer gefährlichere Gefilde vordringen, müssen die eigensinnigen Rubicon-Frauen lernen, das zu tun, wogegen sie sich immer gewehrt haben: sich aufeinander zu verlassen.

»Simon hat ein liebenswertes Trio von einprägsamen Figuren erschaffen.« New York Times Book Review

»Simons schillerndes Debüt bietet alles, was das Herz von Krimifans höher schlagen lässt: realistisch nuancierte Figuren, eine lebendig dargestellte kalifornische Küstenlandschaft als Schauplatz,, ein köstlicher Sinn für Humor und ein perfekt geplanter Mordfall mit genug Ablenkungsmanövern, um auch den erfahrensten Krimileser zu verwirren. Eine aufschlussreiche und oft witzige Analyse von Familiendynamik, verpackt in einem raffiniert gestalteten Cosy-Crime-Roman!« Library Journal

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins eBook
Erscheinungsdatum25. Juni 2024
ISBN9783749906680
Der Mutter-Tochter-Mörder-Club: Kriminalroman | Cosy Crime mit Witz und starken Frauen | Sommerkrimi 2024 | A Reese Witherspoon Book Club Pick | New York Times Bestseller 2024
Autor

Nina Simon

<p>Nina Simon ist ein Multitalent: Sie war NASA-Ingenieurin, Slam-Poetin, Mystery-Game-Designerin und Museumsdirektorin. Sie ist Ashoka-Stipendiatin und Gründerin einer globalen Non-Profit-Organisation, die digitale Tools entwickelt, um Organisationen dabei zu unterstützen, inklusiver und nachhaltiger zu werden. Nina ist außerdem eine gefragte Autorin und Rednerin zum Thema Öffentlichkeitbeteiligung in Museen, Bibliotheken, Parks und Theatern. Über ihre Arbeit wurde bereits im <em>Wall Street Journal</em>, in der <em>New York Times</em>, bei <em>NPR</em> und auf der TEDx-Bühne berichtet. Nina ist in Los Angeles geboren und aufgewachsen und lebt inzwischen mit ihrem Mann und ihrer Tochter in den Bergen von Santa Cruz. »Der Mutter-Tochter-Mörder-Club« ist ihr erster Roman.</p>

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    Buchvorschau

    Der Mutter-Tochter-Mörder-Club - Nina Simon

    Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel

    Mother Daughter Murder Night bei William Morrow, New York.

    © 2023 by Nina Simon

    Deutsche Erstausgabe

    © 2024 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der

    Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

    Published by arrangement with

    HarperCollins Publishers L.L.C., New York

    Covergestaltung von zero-media.net, München

    Coverabbildung von shutterstock / von Svensvector

    E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783749906680

    www.harpercollins.de

    WIDMUNG

    Für meine Mutter,

    die jede Seite dieses Buchs las bis auf diese.

    Sodass sie bescheiden bleiben kann, auch wenn ich die Wahrheit verkünde: Sie ist einfach die Beste.

    PROLOG

    Beth war klar, dass sie nicht zur Arbeit konnte, bevor sie sich nicht um den Kadaver gekümmert hatte.

    Sie holte tief Luft und suchte zusammen, was sie brauchte. Jacke. Stiefel. Gummihandschuhe vom Schrank unter der Spüle. Dann trat sie ins Freie, packte sich die Schaufel, die an ihrem selbst gebauten Pflanztisch lehnte, und blickte hinunter zum Gezeitensumpf. Über der Salzwiese lag dichter Morgennebel, sie konnte kaum etwas sehen. Doch darüber machte sie sich keine Sorgen. Seit fünfzehn Jahren schon kannte sie den Weg über den steilen, mit Gräsern bewachsenen Abhang hinunter bis zum Wasser. Und der Verwesungsgestank wies ihr die genaue Richtung, in die sie gehen musste.

    Sie tauchte in den kühlen Herbstnebel ein und tastete sich zum Ufer hinunter. Die meisten Kadaver, die hier angespült wurden, wurden entweder ins Wasser zurückgezogen oder von Aasfressern beseitigt. Aber dieser Seehund lag schon fast eine Woche hier. Es war ein großer, braun gefleckter mit einem gezackten Loch an der Flanke und hellen Stellen, wo sich die Haut abpellte. Truthahngeier hatten ihm die Augen ausgepickt und eine feuchte Spur mit madigen Eingeweiden über den Strand gezogen. Beth verzog das Gesicht. Als Pflegerin in einem Altenheim war ihr der Tod nicht fremd. Sie hatte ihn in verschiedenen Erscheinungsformen kennengelernt, und mitunter wurde er sogar geschätzt und willkommen geheißen. Aber das hier, diese Ausweidung, war etwas anderes. Sie entfernte sich von der Robbe und suchte ein ruhiges Plätzchen zwischen den Sträuchern. Dort begann sie, zu graben.

    Sie war noch dabei, als Jack angepaddelt kam und sich mit ihrem pinkfarbenen Board einen leuchtenden Pfad durch den Nebel bahnte. Ihre Tochter: braune Haut, dunkler Haarschopf, der ihren Kopf wie eine Wolke umgab, und ein kompakter Körper in einer roten Schwimmweste.

    »Mom?«

    Es war nur eine simple Anrede, doch noch immer wurde ihr davon warm ums Herz.

    »Ich hab beschlossen, die Robbe zu begraben.«

    Jack rümpfte wegen des Gestanks die Nase. »Brauchst du Hilfe?«

    »Eine Plane haben wir, glaube ich, nicht.« Beth richtete sich auf. Sie war größer als ihre Tochter und hellhäutiger. »Aber in Primas Kiste in der Garage könnte eine Tischdecke sein. Bring auch einen Müllsack mit.«

    Jack nickte, hievte geschickt das Paddelboard auf ihren Kopf und trug es den Hügel hinauf.

    Zehn Minuten später kam sie mit einem schimmernd weißen Bündel im Arm zum schmalen Strand heruntergesprungen.

    »Bist du sicher, dass du die nehmen willst? Auf dem Schildchen steht, dass sie aus Italien kommt.« Der Stoff war dick und seidenweich, mit einem raffinierten Muster aus silbrigen Ranken.

    Beth schnaubte. »Wann genau sollten wir denn eine Tischdecke aus Damast brauchen?«

    »Ich dachte … Prima hat sie uns doch geschenkt …«

    »Ganz genau.« Beths Mutter, Lana – oder für Jack »Prima« –, hatte sie noch nie im Elkhorn Slough besucht, schickte ihnen aber jedes Jahr zu Chanukka pompöse Geschenke, die ihr totales Desinteresse und Unverständnis für Beths und Jacks Leben verrieten. »Hilf mir, sie auszubreiten.«

    Sie legten das makellose Tischtuch auf den mit Gräsern durchwachsenen Sand. Beth zog die Gummihandschuhe an und schloss kurz die Augen. Dann rollte sie die tote Robbe mit sicheren, routinierten Bewegungen auf den Stoff – im Laufe der Jahre hatte sie so vielen Patienten ins und aus dem Bett geholfen, dass ihre mit Sommersprossen übersäten Arme ziemlich muskulös waren –, wickelte sie darin ein und zog sie zu dem Loch, das sie gegraben hatte.

    Jack sah von einem Fuß auf den anderen hüpfend zu, während ihre Mutter den Seehund tief unter Sand und Sträuchern vergrub, und stopfte danach die schmutzige Tischdecke in den Müllsack.

    »Also, was den ersten Mittwoch im Oktober betrifft …«, sagte sie.

    Beth hielt den Atem an. Der Tag würde kommen, an dem Jack keine Lust mehr hatte, mit ihrer Mutter einen Hotdog im Hot Diggity zu essen und sich danach eine Raubkopie im Autokino anzusehen, das ein Farmer in Salinas hinter seiner Scheune aufgebaut hatte. Jack war jetzt fünfzehn. Sie hatte einen Job. Schon bald würde sie einen Freund haben, einen Autokredit und ein Leben, das sich nicht mehr um ihr kleines Haus am Elkhorn Slough drehte. Beth wusste, wie gut es sich anfühlte, sich von den Eltern zu lösen und seinen eigenen Weg zu gehen. Aber doch nicht Jack! Zumindest noch nicht.

    »Es ist Sci-Fi-Slasher-Nacht«, sagte Jack grinsend. »Hast du rechtzeitig Feierabend?«

    »Na klar.« Beth schob Sonderschichten im Altenheim, um Geld für Jacks College zurückzulegen, aber niemals würde sie einen ihrer Kinoabende verpassen.

    Jack rannte den Hügel hinauf, um ihre Sachen zu holen und zur Schule zu radeln. Beth jedoch hielt irgendetwas am Strand zurück. Sie blickte auf den frisch aufgehäuften Sand neben ihr und dann auf die Salzwiese, auf der immer noch der Nebel lag. Ihr wurde bewusst, dass sie nach irgendeiner Bewegung Ausschau hielt, einem Kräuseln im Wasser, nach einem Zeugen dieses Begräbnisses.

    Aber das war albern. Beth wischte sich mit dem Ärmel ein bisschen getrockneten Schlamm vom Gesicht und fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, sonnengebleichten Haare. Im Elkhorn Slough gab es keine Trauernden. Und Mörder auch nicht. Nur den Tod, natürlich und brutal, in jeder Minute des Tages. In den schlammigen Tiefen etwa jagten Sandtigerhaie Plattfische. Otter knackten Krebse. Selbst die Algen hier, die leuchtend grün und voller Leben waren, nahmen den anderen Pflanzen die Nährstoffe weg.

    Beth hob ein mondförmiges Stück Meerglas vom Strand auf und legte es vorsichtig auf den Sandhügel. Vor ihr ließ sich ein Pelikan wie eine Bombe ins Wasser fallen und tauchte mit einem zappelnden Fisch im Schnabel wieder auf. Seltsamerweise musste Beth bei dem Anblick an ihre Mutter denken: an Lanas aggressive Schönheit, ihre Scharfzüngigkeit, ihre ewige Gier, das Leben mit Haut und Haaren zu verschlingen.

    Ihre Mutter hatte den Elkhorn Slough nie besucht. Und nie war hier jemand ermordet worden.

    Aber es gab für alles ein erstes Mal.

    KAPITEL EINS

    Dreihundert Meilen weiter südlich lag Lana Rubicon auf dem dunklen Schieferboden ihrer Küche und fragte sich, wie sie hier gelandet war.

    Ihr Interesse war nicht philosophischer Natur. Sie wollte nicht wissen, wie sie auf diesen Planeten gekommen war oder welcher ihrer griechischen Vorfahren sie mit ihrer knitterfreien olivfarbenen Haut gesegnet hatte. Sie wollte nur wissen, wieso sie zusammengebrochen war, wieso sie sich an einem Mittwoch um sieben Uhr morgens sturzbetrunken fühlte und ob sie es noch zu ihrem Treffen mit den Investoren um acht Uhr schaffen konnte.

    Langsam und vorsichtig drehte sie ihren Kopf hin und her, um sich zu orientieren. Links von ihr in der Eingangshalle warteten ihre Aktentasche und ihre Pumps aus Schlangenleder. Rechts von ihr stand die Tür des Edelstahlkühlschranks weit offen, und die Mineralwasserflaschen und Fertigsalate wurden von einer Gloriole angestrahlt, als kämen sie direkt aus dem Himmel und nicht von Gelsons Lieferservice. Vom Sockel des Kühlschranks bis zu Lanas Kopf zog sich eine dickflüssige Spur über den Boden. Lana tastete über das platt gedrückte Haar an ihrer Schläfe und sah sich ihre Hand an. Ihre Fingernägel mit den weißen Spitzen waren rosa und klebrig.

    Kein Blut. Joghurt.

    Lana nahm es als Zeichen, dass der Tag nur besser werden konnte.

    Nach fünf vergeblichen Versuchen, allein wieder aufzustehen, zog Lana ihr Handy aus der Jackentasche. Einen Moment schwankte sie, wen sie anrufen sollte. Ihre Tochter war eine medizinische Fachkraft, das konnte nützlich sein. Aber Beth war fünf Stunden entfernt, und bei ihrem eigenen Kind würde Lana nicht um Hilfe betteln.

    Also drückte sie auf die oberste Nummer ihrer Favoritenliste.

    Schon beim ersten Klingeln nahm ihre Assistentin ab. »Ich weiß, tut mir leid, ich bin um Viertel nach sieben im Büro. Irgendein Idiot hat am Hügel beim Getty schon wieder Feuer gelegt, und die 405 ist …«

    »Janie, Sie müssen für mich …« Lana kniff leicht die Augen zusammen und starrte zur Decke. Was musste Janie? Sie vom Boden aufkratzen? Den Lauf der Welt anhalten? »Sie müssen alle Termine für heute Morgen canceln.«

    »Aber die Investoren für die Hacienda Lofts …«

    »Sagen Sie ihnen, wir würden noch sechzig Wohneinheiten hinzufügen. Sehr aufregend. Müssen die Pläne überarbeiten. Champagner für alle.«

    »Aber …«

    »Erledigen Sie das. Ich komme später.«

    Ganz kurz schloss Lana die Augen und genoss die Kühle der Fliesen an ihrer Wange. Dann nahm sie erneut ihr Handy und wählte den Notruf.

    Lana schätzte sich glücklich, dass sie zum ersten Mal in den siebenundfünfzig Jahren ihres Lebens auf einer Krankenliege in eine Klinik gerollt wurde. Sie wusste, dass sie selbst in diesem Zustand rettenswert aussah. Ein maßgeschneidertes Kostüm in Anthrazit umschmeichelte ihren schlanken Körper. Sie hatte ihr Haar noch nicht zu einem Knoten zurückgebunden, sodass es jetzt in pflaumenbraunen Wellen über ihren Rücken floss – durchsetzt mit Erdbeerjoghurt. Als der Pfleger sie in eine riesige weiße Röhre schob, hielt sie Augenkontakt mit ihm, damit er ja sein Bestes gab.

    Nachdem es ihr gelungen war, das laute Klopfen der Maschine auszublenden, fand Lana das MRT seltsam entspannend. Hier gab es keine E-Mails von Architekten mit fadenscheinigen Begründungen, wieso die Pläne nicht rechtzeitig fertig waren. Keine Anrufe von ihrer Freundin Gloria, die über den neuesten Versager jammerte, der ihr das Herz gebrochen hatte. So musste sich der Tod anfühlen. Niemand wollte was von einem.

    Nachdem Lana wieder aus der Röhre aufgetaucht war, handelte sie ein Einzelzimmer für sich aus, das allerdings keine Fenster hatte. Ihre Assistentin schickte ihr die Unterlagen für drei Projekte, zwei Vertragsentwürfe, einen roten Stift, schwarze Pumps, einen Salat mit Räucherlachs und eine Flasche Sprite. Lana war schon versucht, dem Mädchen eine Nachricht zu schicken, in der sie es ermahnte, wie wichtig es war, auf Details zu achten – war es wirklich zu viel verlangt, sich zu merken, dass sie ausschließlich Cola light trank? –, da schraubte sie die dubiose Flasche auf und roch daran. Janie hatte sie mit Chardonnay gefüllt. Lana trank einen Schluck. Gar nicht so übel.

    Als man ihr am Nachmittag erklärte, man würde noch auf Testergebnisse warten, und empfahl, zur Beobachtung über Nacht dazubleiben, gab Lana nach. Schließlich war ein Bett so gut wie das andere. Na ja, nicht ganz, doch ihr widerstrebte die Vorstellung, am nächsten Tag Arbeitsstunden zu verschwenden, weil sie sich durch den Berufsverkehr von L. A. zurück zum Krankenhaus quälen musste, nur um sich von einem Arzt mit zwei unterschiedlichen Socken eine Predigt anzuhören, dass sie besser auf sich aufpassen sollte. Sehr wahrscheinlich würde sie früh am nächsten Morgen mitgeteilt bekommen, dass sie alle Tests mit Bravour bestanden hätte und nach Hause fahren könnte, um schnell zu duschen und es noch rechtzeitig zu ihrem Geschäftsessen mit den Hypothekenmaklern zu schaffen.

    Den Abend verbrachte Lana damit, in ihrem Krankenhausbett Bebauungspläne abzuzeichnen. Wenn die Schwestern nach ihr schauten, lächelte sie, um besser bedient zu werden, hielt sich aber nicht mit Plaudereien auf. Sie piksten und untersuchten sie, während Lana arbeitete. Im Büro wusste niemand, wo sie war. Dazu gab es keinen Grund.

    Der nächste Tag fing gar nicht gut an. Lana wachte früh mit benebeltem Hirn und einem Ausschlag von der gestärkten Krankenhauswäsche auf. Um halb acht rief sie ungeduldig eine Schwester und drängte sie, jemanden zu holen, der etwas zu sagen hatte. Der Arzt, der dann auftauchte, war groß, mager und ganz und gar nicht hilfreich. Die Tests seien noch nicht abgeschlossen. Nein, Lana könne nicht gehen und später telefonisch die Ergebnisse erfragen. Nein, es gebe keine Laptops für Patienten. Ja, sie würde einfach warten müssen.

    Lana zählte die Wasserflecken an der Decke und machte Listen von Aufgaben, die sie erledigen wollte, sobald sie wieder im Büro war. Sie wollte eine Cola light. Sie wollte ihr eigenes Bad. Sie wollte hier raus.

    Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ein neuer Arzt herein, ein Mann mittleren Alters mit zerzausten Haaren und abgewetzten weißen Sneakern. Er zog einen wackligen Wagen vom Flur herein, dessen Räder schrill quietschten.

    »Mrs. Rubicon?«

    »Miss.« Lana hockte mit Blazer und Pumps auf dem Besucherstuhl und tippte wild in ihr Handy. Sie schaute nicht mal auf.

    »Ich hab hier ein paar Bilder vom MRT und CT, die wir gestern bei Ihnen angefertigt haben.«

    »Könnten Sie sich auf das Wesentliche beschränken?« Ohne ihr Tippen zu unterbrechen, unterzog Lana ihn einer kurzen Musterung. »Ich muss wohin. Besser gesagt musste, schon vor drei Stunden.«

    »Das werden Sie bestimmt sehen wollen, Ma’am.«

    Der Arzt rollte den Wagen mit dem Computer zu Lanas Stuhl und öffnete klickend ein paar Dateien. Dann schob er den Monitor zu ihr und trat beiseite.

    Es war schon seltsam, den eigenen Kopf auf dem Bildschirm eines fremden Computers zu sehen. Die Bilder waren schwarz und grau, mit dünnen weißen Linien, die Lanas Schädel, ihre Augenhöhlen und den Ansatz ihrer Wirbelsäule markierten. Lana stand auf, stellte sich neben den Arzt und beugte sich so dicht wie möglich zum Bildschirm. Mit der Maus zeigte der Arzt ihr vier verschiedene Ansichten ihres Kopfs: von oben, vorne, hinten und im Profil. Lana versuchte, seinen zuckenden Bewegungen zu folgen, und sah die graue Hirnmasse in der Dunkelheit rotieren, auf der Suche nach einem festen Fundament.

    Als der Arzt zufrieden war, drückte er auf einen Knopf, und die graue Masse wurde bunt. An der Rückseite ihres Schädels sah man dicht nebeneinander drei Flecke in leuchtendem Orange, die von pinkfarbenen Höfen umgeben waren.

    »Was ist das denn?«, fragte sie.

    »Der Grund, warum Sie hier sind«, erwiderte er. »Hatten Sie in letzter Zeit öfter Kopfschmerzen? Eine verschwommene Sicht? Wortfindungsstörungen?«

    Eine winzige Nadel der Furcht bohrte sich durch Lanas Selbstvertrauen. Aber mit ihr stimmte alles. Sie war die fitteste, aktivste Frau in der Schar ihrer Freundinnen. Die alle Single waren. Alle berufstätig. Die alle schwachköpfige Ex-Männer überlebt hatten, ohne dass es ihrem Bankkonto oder ihrer Würde geschadet hätte. Lana war stilettoscharf. Lana stand in der Blüte ihres Lebens.

    Zumindest bis gestern Morgen.

    »Diese bunten Flecke sind Tumore«, erklärte Dr. Abgewetzte Sneaker. »Sie bewirken Schwellungen, sodass der Teil Ihres Gehirns, der Gleichgewicht und Grobmotorik kontrolliert, nicht mehr genügend durchblutet wird. Deshalb sind Sie umgekippt.«

    »Tumore?«

    Er nickte. »Die müssen raus. So schnell wie möglich.«

    Lana ließ sich wieder auf den harten Besucherstuhl sinken. Sie richtete die Spitzen ihrer Pumps parallel zueinander aus und hielt sich so gerade, dass ihre Muskeln zuckten.

    »Ich habe Hirnkrebs.«

    »Möglicherweise. Hoffentlich.«

    »Hoffentlich?« Ihr drohte die Stimme zu versagen.

    »Manchmal entsteht der Krebs anderswo im Körper und bildet Metastasen im Hirn. Dann wäre er schlimmer, weiter fortgeschritten. Sobald wir die Tumore entfernt haben, führen wir eine Biopsie durch, um zu bestätigen, dass sie der Krebsherd sind. Und wir machen einen Scan von Ihrem gesamten Körper, um zu sehen, ob es weitere Tumore gibt.«

    Sie konzentrierte sich auf seine rissigen Lippen, um ihn allein mit ihrem Willen zu zwingen, das Gesagte zurückzunehmen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Als Lana zehn Jahre zuvor Brustkrebs gehabt hatte, war das keine große Sache gewesen. Stadium 0. Für die OP war Beth zwar gekommen, doch den Rest hatte sie allein bewältigt. Nach ein paar Bestrahlungen und einer Brustrekonstruktion, die sie nutzte, um sie ein bisschen anheben zu lassen, konnte sie schon wieder zurück zur Arbeit.

    Und jetzt sah dieser Arzt sie an, als wäre sie ein verletztes Vögelchen.

    »Verstehen Sie, was ich gerade gesagt habe?«

    »Ich muss meine Tochter anrufen«, erwiderte sie nur.

    KAPITEL ZWEI

    Beth trank einen Schluck von ihrem lauwarmen Kaffee und starrte grübelnd auf ihr Handy. Drei verpasste Anrufe von ihrer Mutter. Und eine Voicemail, in der sie knapp um Hilfe bat. Das war alarmierend, und Lanas Stimme noch mehr. War sie betrunken? Oder von Grippe benebelt? Die Stakkatonachrichten ihrer Mutter klangen sonst immer ganz anders, waren stets eine Mischung aus Prahlerei und Entrüstung, mit einem guten Schuss Schuldzuweisung noch dazu. Aber die hier hörte sich anders an. Kaum zu erkennen. Lanas Stimme klang verloren, fast Mitleid erregend.

    Beth überließ Amber den Stationsempfang und verließ Bayshore Oaks durch den Seiteneingang. Sie lächelte dem jungen Mann, der an seinem Auto herumfummelte, beruhigend zu. Es machte ihn sichtlich nervös, das Altenheim zu besuchen. Dann bog sie um eine Ecke und betrat das Wäldchen aus Monterey-Kiefern. Dort holte sie tief Luft und wählte die Nummer ihrer Mutter.

    »Ma?«

    »Beth, endlich!« Lana hatte die Stimme zu einem eindringlichen Flüstern gesenkt. »Arbeitest du noch für diesen Hirnchirurgen? Den mit den großen Zähnen?«

    »Den mit dem Nobelpreis? Du weißt doch, dass ich vor zwei Jahren bei ihm gekündigt habe, um mehr Zeit mit …«

    »Beth, hör mir zu! Man hat mir gesagt, ich hätte Tumore. Mehrere. In meinem Gehirn. Deshalb brauche ich sofort eine Operation. Aber du solltest mal die Schuhe sehen, mit denen dieser Arzt herumläuft! Ich meine, wie kann er da erwarten, dass man ihn ernst nimmt?«

    Beths mattes Lächeln gefror. »Moment mal. Ganz langsam. Wo bist du? Geht es dir gut?«

    »Abgesehen davon, dass ich von einem Radiologen als Geisel gefangen gehalten werde, der sich nicht mal die Haare kämmt, geht es mir gut. Ich bin in der City-of-Angels-Klinik, und angeblich darf ich mich nicht selbst entlassen. Weil sich jemand um mich kümmern müsste. Ich muss aber in eine bessere Klinik. In eine mit echten Ärzten in anständigen Anzügen. Also …«

    Die unausgesprochene Frage hing in der Luft.

    Beth konnte sich nicht erinnern, dass Lana sie jemals um Hilfe gebeten hätte. Ihre Aufmerksamkeit verlangt? Na klar. Ihre Billigung erwartet? Ständig. Aber ihre Hilfe gebraucht? Ihr Fachwissen anerkannt? Wäre Beth nicht so besorgt gewesen, hätte sie diesen Tag mit einem goldenen Sternchen im Kalender markiert.

    »Ma, ich komme natürlich.«

    Schweigen. Dabei schwieg Lana nie. Ganz kurz stellte sich Beth ihre Mutter in einem Krankenhausbett vor. Allein, vielleicht sogar ängstlich. Aber es fiel ihr schwer.

    Mit ihrer zuversichtlichsten Stimme sagte Beth: »Dr. K. ist im Ruhestand. Aber ich kenne die Oberschwester der Neurologie in Stanford. Das ist eine der besten neurologischen Abteilungen im ganzen Land. Ich rufe sie an.«

    »Können wir es nicht an der UCLA machen?«

    Da war die Primadonna wieder, mit der sie aufgewachsen war. Beth wusste, es war nutzlos, ihre Mutter daran zu erinnern, dass auch sie ein Leben, einen Job und ein Kind hatte. Stattdessen antwortete sie in der Sprache, die Lana verstand.

    »Ma, hier geht’s um Hirnchirurgie. Also muss ich dir das Beste besorgen.«

    »Stanford?«

    »Stanford. Ich kümmere mich drum.«

    »Warte. Da kommt gerade jemand.«

    Beth überprüfte ihre Aufgaben für den Rest des Tages. Noch zwei Patienten, allerdings nichts Kompliziertes: Checken der Vitalwerte, Baden und Plaudern. Das würde Amber sicher für sie übernehmen. Jack hatte sie schon per SMS um die Erlaubnis gebeten, nach der Schule zu einem Fußballspiel zu gehen und bei ihrer besten Freundin Kayla zu übernachten. Perfekt. Also konnte Beth nach L. A. fahren, ihre Mutter holen und sie am nächsten Morgen in Stanford anmelden.

    Lanas Stimme drang durchs Handy. »Also gut, Stanford. Aber ich bleibe in einem Hotel.«

    »Ma, du kannst dich nicht allein von einer Operation am Gehirn erholen.«

    »Aber auch nicht in einem Schuppen, der jede Minute in einem Schlammloch versinken kann.«

    Beth schloss die Augen und widerstand dem Drang, ihr Handy wegzuschleudern. »Es ist zwar nicht deine Wohnung und auch nicht L. A., aber es ist nett. Versprochen.«

    Erneut trat eine lange Pause ein, in der Lana, so vermutete Beth, innerlich aufzählte, in welchen Aspekten das schäbige Haus ihrer Tochter und das nahe gelegene Provinznest nicht mal ihren Mindestanforderungen genügten.

    »Erkundigst du dich bitte, wann du heute entlassen werden kannst?«, fragte Beth.

    »Ich soll erst noch mit einem Onkologen reden, aber danach kann ich gehen.«

    »Ist gut. Warte auf mich. Sammle so viele Informationen, wie du kannst. In fünf Stunden bin ich da.«

    In ihrem alten Camry bretterte Beth den Highway hinunter und hielt nur einmal kurz an, um zu tanken und sich einen Energy-Riegel und einen überdimensionalen kalten Kaffee mit Eiswürfeln zu kaufen. Während sie fuhr, rasten ihre Gedanken und wurden immer mal wieder vom Summen des Handys unterbrochen, das Nachrichten ihrer Mutter anzeigte.

    Tumore in Hirn, Lunge, vielleicht Darm. Stadium 4, mindestens. Nicht gut.

    Dr. popelt in der Nase. HOL MICH HIER RAUS!

    Fahr bitte bei meiner Wohnung vorbei. Brauche Laptop, gute Jeans, schwarzes Oberteil (macht schlank)

    Wenn ich sterbe, kriegt Gloria mein Auto.

    Nach einer Stunde voller Textnachrichten entschied Beth, dass sie weder einen Unfall noch einen Herzinfarkt erleiden wollte, und warf ihr Handy in das Handschuhfach, um sich auf die Straße und ihre immer noch wild umherwirbelnden Gedanken zu konzentrieren.

    Beth war medizinische Notfälle gewohnt. Als ausgebildete Krankenschwester war sie zu mehr als einem gerufen worden. Aber ihre Patienten waren alt, gebrechlich und in den meisten Fällen nett. Sie befanden sich im Zustand verzweifelter Hoffnung, wo ein Tag dann gut war, wenn er nicht allzu viele Schmerzen mit sich brachte.

    Lana war da ganz anders. Krank war für sie ein Unwort. Beth schätzte, dass sie den Krebs so betrachtete wie alles andere: als eine Reihe von Hindernissen, die mit dem Bulldozer beiseitegeschafft wurden. Genauso hatte sie es vor zehn Jahren mit ihrem Brustkrebsalarm gehalten. Jene Krise hatte sich im Nachhinein als Segen erwiesen, als Schubs des Schicksals, der Lana und Beth zwang, nach fünf Jahren Funkstille wieder miteinander zu sprechen. Seitdem hatten sie eine fragile Beziehung aufgebaut, die aus alljährlichen Passahbesuchen in L. A. und spärlichen, unbehaglichen Telefonaten bestand, wo sie sich an ungefährliche Themen wie Lanas Arbeit oder Jacks Schulnoten hielten.

    Aber die Informationen aus diesen wirren Nachrichten klangen alles andere als ungefährlich. Und der Umstand, dass Lana sie angerufen hatte, um Hilfe gebeten und sogar zugestimmt hatte, zum Elkhorn Slough zu kommen: Das war geradezu Furcht einflößend.

    Fünf vollgestopfte Koffer, eine Kiste Akten und Unterlagen und zwei Latte macchiato mit dreifachem Espresso später fuhren die Rubicon-Frauen Richtung Norden. Während Beth am Steuer saß, erledigte Lana Anrufe, wies ihre Freundin Gloria an, ihre Pflanzen zu gießen, ihren Nachbarn Ervin, ihre Post aufzuheben, und ihre Assistentin Janie, alles andere zu übernehmen.

    »Betrachte es als Chance, zu wachsen«, erklärte Lana, als sie ihr eine lange Liste mit Anweisungen diktiert hatte.

    Als Janie nachhakte, was sie denn ihren Kunden sagen sollte, senkte Lana den Blick auf ihre schwarzen, offenen Satinpumps, als suchte sie dort nach Inspiration. Sie registrierte, dass der tiefblaue Lack auf ihren Fußnägeln abblätterte.

    »Sag ihnen, es geht um eine Operation am Fuß. Sehr kompliziert. Ich brauche einen Spezialisten. In einer anderen Stadt. In sechs Wochen bin ich wieder im Büro.«

    Beth warf ihrer Mutter einen Blick zu.

    »Was?«, wehrte Lana ab, nachdem sie aufgelegt hatte. »Man hat mir gesagt, ich hätte vielleicht noch mehr Tumore. Könnte doch einer im Fuß sein.«

    »Sechs Wochen, Ma?«

    »Scheint mir mehr als genug, um die OPs hinter mich zu bringen, einen Behandlungsplan aufzustellen, wieder nach Hause zu fahren und all diese Unannehmlichkeiten zu vergessen. Außerdem würden wir ohnehin nicht länger in einem Haus miteinander überleben.«

    Nach zwei Stunden im Schneckentempo durch den Verkehr von L. A. hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Beths Camry schnaufte gerade einen mit Zitrusbäumen gesäumten Bergpass hinauf, als sich die ersten Sterne zeigten. Bei den Weinbergen schloss Lana die Augen, und Beth fuhr schweigend weiter und betrachtete die geschwungenen Hügel, die sich zur tintenschwarzen Monterey Bay öffneten. Selbst in der Dunkelheit machte sich der Ozean bemerkbar, warf sich rauschend gegen Felsen und sprühte Nebel und Salzwasser über die Brücke, die das Meer von Erdbeerfeldern trennte.

    Beths Haus hockte zwischen Ozean und Farmland auf einem winzigen Abschnitt aus Kies und Sand über dem Elkhorn Slough. Beth liebte es, wie die Salzwiesen sich mit den Gezeiten veränderten, wie das Wasser sich hob und senkte wie der Brustkorb eines atmenden Geliebten. Als sie vor fünfzehn Jahren hierhergezogen war, hatte sie Elkhorn nur als vorübergehende Zuflucht betrachtet. Aber mittlerweile genoss sie den Morgennebel und die wilde Natur, die weich war, wo Los Angeles hart war, schroff, wo die Stadt glatt war. Als Beth mit ihrer Mutter zur Haustür ging, widerstand sie dem Drang, auf die selbst gebauten Pflanzkästen aus Treibholz zu weisen, die sie mit Sukkulenten bestückt hatte, und den von ihr geflochtenen Kranz aus Farn. Sie führte Lana in Jacks Zimmer und wappnete sich innerlich gegen das Urteil ihrer Mutter über die gebrauchten Möbel, die abgelaufenen Dielen und den torfigen Geruch des Marschlands, der zu ihnen heraufwehte.

    In jener Nacht verlor Lana kein Wort über Inneneinrichtung oder Schlamm. Lana sagte überhaupt nichts. Ihre Miene war grimmig entschlossen, ihr Mund zu einem schmalen Strich zusammengekniffen. Beth öffnete die Tür zu Jacks Zimmer, winkte Lana zum Bett und half ihr, die Schuhe auszuziehen. Es verstörte Beth, dass ihre Mutter so gefügig war. Aber es machte die Sache auch einfacher.

    Kaum war Lana eingeschlafen, begann Beth, Gefallen einzufordern. Ihre Freundin aus der Neurologie von Stanford hatte für sie bereits den Kontakt zum besten Hirnchirurgen hergestellt, und der hatte sich bereit erklärt, sie am nächsten Tag für ein Vorgespräch einzuschieben. Eine alte Kollegin aus der Onkologie wollte versuchen, jemanden zu finden, der sich noch mal die Bilder ansah. Selbst der Typ, mit dem sie im letzten Jahr liiert war, ein bärtiger Rettungssanitäter aus Big Sur, bot seine Hilfe an. Beth war froh, so viele Jahre Überstunden gemacht zu haben, so oft für andere eingesprungen zu sein und Hausbesuche für einen Arzt übernommen zu haben, wann immer er sie darum bat. Schließlich hatte man nur eine Mutter. Selbst wenn sie eine Nervensäge war wie Lana.

    KAPITEL DREI

    4. Februar (siebzehn Wochen später)

    Ein Schrei vor dem Fenster ließ Lana auffahren. Sie war jetzt seit vier Monaten am Elkhorn Slough, lange genug also, um die Geräusche und Laute der Tiere zu kennen, die hier die Nacht erfüllten. Doch nicht annähernd lang genug, um nicht von ihnen geweckt zu werden. Sie hörte noch einen Schrei, dann ein Rascheln. Da unten war ein Raubtier auf der Jagd.

    Lana machte Licht und schob die unzähligen Pillendöschen beiseite, um an ihr Fernglas zu kommen. Es war halb zwei morgens. Eine weitere schlaflose Nacht, die sie den Wundern der modernen Medizin verdankte. Finster starrte Lana auf das halb volle Smoothie-Glas auf der Kommode und musste würgen, als ihr der kalkige Geruch von Blaubeerschaum in die Nase drang. Niemand hatte sie gewarnt, was die Chemotherapie mit ihren fünf Sinnen anrichten würde: Jetzt konnte sie ein verwesendes Tier aus einer Meile Entfernung riechen, aber nicht das Geringste schmecken. Was sie sich auch in den Mund steckte, gerann zu feuchter Wolle, die ihr zäh und eklig in der Kehle stecken blieb.

    Es gab vieles am Krebs, auf das sie nicht vorbereitet gewesen war. Die Hirn-OPs waren gut gelaufen. Aber dann eröffneten ihr die Stanford-Ärzte in ihren Zweireihern, dass man die kleine Tumorenarmee in ihrem linken Lungenflügel nicht herausschneiden konnte. Dies war kein kurzer Flirt mit dem Tod, über den man auf Cocktailpartys lachen konnte. Dies entwickelte sich zu einer Langzeitbeziehung, die weit weniger glamourös war.

    Die Chemotherapie raubte all ihre Energie – und ihre Haare, die ihr büschelweise im Kamm hängen blieben, bis sie an einem Nachmittag voller Wein und Tränen nach dem Elektrorasierer griff. Und dann verlor sie ihre Arbeit. Ihr Zweihundert-Apartments-Projekt in Westchester ging an eine Idiotin aus Beverly Hills, die einen Nackthund in ihrer Handtasche dabeihatte. Eine dreißigjährige Thronräuberin, die auch drinnen verspiegelte Sonnenbrillen trug, stahl ihr die Hacienda-Lofts. Gott sei Dank behielt Lana ihre Krankenversicherung, doch alles andere nahm man ihr weg. Anfangs war ihre Assistentin Janie noch sehr empört und überbrachte ihr jeden neuen Schlag mit schriller, atemloser Stimme, als würde jemand die künstlichen Fingernägel des Mädchens persönlich an einen Telefonmast nageln. Doch Lana brachte schon kaum die Energie auf, die Geschichte über ihre angebliche Fußoperation aufrechtzuerhalten. Da konnte sie nun wirklich nicht die Hölle gegen eine weitere Jungmaklerin heraufbeschwören, die ihr ihren Platz an der Spitze von L. A.s Geschäftsimmobilienmarkt stehlen wollte. Genau einen Tag vor Thanksgiving rief Janie an, um ihr mitzuteilen, dass sie woanders eine Chance, zu wachsen, gefunden hatte. Lana war überrascht, dass sie das gar nicht kümmerte. Sie legte einfach wortlos auf.

    Das neue Jahr läutete Lana ohne Haare, ohne Arbeit und ohne klare Antwort auf die Frage ein, wann alles überstanden sein würde. »Es ist zu früh, das zu sagen«, wiederholten die Ärzte ein ums andere Mal, als wäre sie eine Kristallkugel, die Krankheiten anzeigte. Nach drei Monaten Chemotherapie sollte in zwei Wochen die zweite Runde Scans seit Beginn der Behandlung durchgeführt werden. Bald würde sie wissen, ob es ihr besser ging oder ob sie für immer im Hinterzimmer der Strandhütte ihrer Tochter festsitzen würde.

    Wie ein Todesurteil. So fühlte es sich an. Sogar an guten Tagen hatte Lana nichts zu tun und niemanden, mit dem sie das teilen konnte. Beth war auf der Arbeit. Jack war in der Schule oder paddeln. Lana hatte nicht mal das dritte Carepaket von Gloria geöffnet, wahrscheinlich war auch das wieder nur mit nutzlosen Kinkerlitzchen wie Liebesromanen und Bergkristallen gefüllt. So beobachtete sie, wie das Leben vor ihrem Fenster weiterging: wie Fischreiher auf den Sandbänken jagten, Otter ihre flaumigen Jungen an die Brust drückten und Kajakfahrer durch die Gezeiten pflügten. Sie fühlte sich wie eine Außenstehende, die für eine Rolle vorsprach, die sie gar nicht haben wollte. Niemand bat sie um ihre Unterschrift. Niemand fragte sie nach ihrer Meinung. Ihr Leben war bedeutungslos. Das war fast so deprimierend wie der Krebs.

    Zwei Uhr morgens, und sie schlief immer noch nicht. Die Schreie waren verstummt, aber vom Strand drangen weiterhin quietschende und raschelnde Geräusche zu ihr hoch. Lana zog die Jalousien hoch und schaute auf der Suche nach der Quelle durchs Fernglas.

    Der Vollmond über den Salzwiesen tauchte die ganze Welt in Grau: dünne Wolken, körnige Felder, rasch dahinströmendes Wasser. Das Mondlicht tanzte auf dessen Oberfläche, aus der Seehunde auftauchten, und Krebse jagten in den feuchten Sandflächen, die den schmalen Strand unterhalb des Hauses säumten. Obwohl Strand ein zu großer Begriff war für den dürftigen Streifen aus Kies, Algen und verrottenden Quallen, der sich von Beths mickrigem Wohnviertel bis zu dem alten Kraftwerk und dem Jachthafen erstreckte. Zweimal am Tag wurde das Ufer von einem Strudel aus Fluss- und Meereswasser verschluckt und dann bei Ebbe wieder ausgespuckt – zusammen mit Treibholz, alten Autoreifen und allem möglichen Kram, den der Pazifische Ozean nicht mehr wollte.

    Lana überschaute mit dem Fernglas den Strand. Am hinteren Ende sah sie, wie etwas mit pelzigen Pfoten und glühenden Augen Sand in die Luft scharrte. Ihr schreiender Nachtmahr war ein Rotluchs, der mit einem schlaffen Nagetier im Maul hektisch ein Loch grub. Um dort ungestört seine Beute zu verspeisen? Oder um sie für später zu lagern? Wie auch immer, sie hoffte nur, er würde mal aufhören, solchen Krawall zu veranstalten.

    Lana ließ das Fernglas sinken und blickte übers Wasser. Nur Schlamm und Getier, wohin sie auch schaute. Sie vermisste ihre Wohnung in Santa Monica, wo die einzigen nächtlichen Geräusche von Autos stammten und die Tierwelt ausschließlich aus hypoallergenen Zuchthunden bestand. Das Leben in Los Angeles verstand sie, es war ein wimmelnder Bienenkorb, durch den sie sich ihren Weg ins Zentrum bahnte, als Königin – oder zumindest nicht als Drohne. Aber der Elkhorn Slough war etwas ganz anderes, er gehörte dunklen, verborgenen Kreaturen.

    Ein Flackern am hinteren Ende des Marschlands riss Lana aus ihren Gedanken. Ein kleiner Lichtkreis, schwach und gelb, zuckte wild durchs Gestrüpp. Lana hob das Fernglas an die Augen und fuhr langsam den Landstrich ab, hin und her und wieder zurück. Schließlich entdeckte sie die Quelle: ein Mensch mit einer Taschenlampe, der über einen schmalen Pfad Richtung Nordufer stapfte. Der Mann –

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