Folker und das Lied vom Tod: Der zweite Folker Schmittem-Roman
Von Rich Schwab
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Folker und das Lied vom Tod - Rich Schwab
1
Sonntag, 6. August 2023
Irgendwo da draußen rauschte und summte eine Autobahn.
Seit ein paar Minuten wurde das Geräusch übertönt von dem Rauschen in seinem Kopf. Seit der Mann hinter ihm, der Mann, der hier das Sagen hatte, ihm mit beiden Händen gleichzeitig auf die Ohren geschlagen hatte.
Es war das erste Mal, dass der Hintermann tätlich eingriff; bis dahin hatte er die Drecksarbeit dem Kerl überlassen, der vor Francis stand. Uli hatte Francis den getauft, weil er dem ehemaligen Vereinspräsidenten von Bayern München ein bisschen ähnlich war. Uli hatte, seit sie hier waren, noch kein einziges Wort von sich gegeben, aber so langsam wurde sein Keuchen lauter. Ein Bodybuilder, ein tumber Kirmesschläger, ein Haudrauf ohne Kondition, der Kämpfe bisher wohl mit seinen hundertdreißig Kilo Lebendgewicht, recht langen Armen und schwieligen harten Fäusten eher schnell überstanden hatte.
Francis stellte sich vor, was er mit diesem Eisenbieger anstellen würde, wäre er selbst nicht mit Händen und Füßen an einen eisernen Pfosten gefesselt. Er mochte Uli nicht, genauso wenig wie Bayern München, den ewigen Deutschen Meister, der seine fast unangefochtene Stellung nur einem Haufen Geld zu verdanken hatte. Und den Spielerstars aus aller Welt, die er damit einkaufen konnte.
Und um Geld ging es natürlich auch hier.
»Wir haben Zeit, Bimbo.« Der Mann hinter Francis verpasste ihm mit den Fingerknöcheln eine Kopfnuss, die auf das Gegenteil schließen ließ. Klar, dass er langsam ungeduldig wurde – sie waren jetzt seit schätzungsweise einer Stunde hier, und es war brütend heiß unter dem Wellblechdach dieses Schuppens. Francis hatte kein so großes Problem mit der Hitze, seine Vorfahren hatten in Mosambik gelebt, aber auch ihm rannen Schweißtropfen an seinen Schläfen und an Brust und Rücken herab. Uli hingegen lief der Schweiß in Strömen und verbreitete einen Übelkeit erregenden Geruch, der an ein Büffelgehege erinnerte und mittlerweile den penetranten Duft nach dem teuren Aftershave des Hintermanns überdeckte. Eins von der Sorte, die mit ganzseitigen Anzeigen in Hochglanz-Magazinen als ultimativ männlich angepriesen wurden, weil sie Duftstoffe von Leder, Pferden, Whiskey, Limonen und Stierhoden enthielten.
Aber da war noch ein spezieller Geruch im Atem des Mannes, wenn er Francis etwas ins Ohr raunte, und das ständige Grübeln darüber, was es sein konnte, war eine willkommene Ablenkung von den Schmerzen.
»Aber nicht ewig«, gab der Hintermann zu. Seine Stimme klang gedämpft und hohl, als trüge er eine FFP-Maske. »Erzähl uns einfach, was wir wissen wollen, dann können wir endlich hier raus und uns irgendwo etwas Erfrischendes gönnen. Reden wirst du irgendwann auf jeden Fall.«
Offenbar hatte er irgendein Zeichen gegeben, ein kurzes Nicken vielleicht, das Zucken einer Augenbraue, denn Uli schlug wieder zu. Ein wilder Schwinger in die Magengrube, reichlich Zeit, die Bauchmuskeln anzuspannen.
»Aua«, sagte Francis betont gelangweilt und grinste Uli abschätzig an.
»Himmel, Arsch …!«, zischte der Hintermann.
Das war der Moment, in dem Francis innerlich mit den Fingern schnipste – er hatte es, er kannte den Geruch: Amaretto.
Uli verpasste ihm, mit verkniffenen Lippen, frustriert einen Tritt ans Schienbein. Francis dachte an Muhammad Ali und die unmenschlichen Prügel, die der in Kinshasa sieben Runden lang ertragen hatte, bevor er in der achten das Blatt wendete und George Foreman auf die Bretter schickte. Er dachte aber auch an Milzrisse und sich in Lungenflügel bohrende gebrochene Rippen und fragte sich, wie lange er diese Tortur aushalten konnte. Ein wenig Hoffnung machte ihm, dass Uli ihn noch kein einziges Mal ins Gesicht oder überhaupt an den Kopf geschlagen hatte – das ließ die Vermutung zu, dass er das Verhör überleben und ohne sichtbare Spuren von Verletzungen seinen Job wieder aufnehmen sollte.
Aber es war eben nur eine Vermutung.
Beunruhigend hinzu kam, dass sie ihm die Füße mit seiner Krawatte und die Hände mit seinem eigenen Gürtel an den Pfosten gefesselt hatten – seine Hose hing ihm auf den Knöcheln, was ihm durchaus ein unangenehmes Gefühl von Verletzlichkeit gab.
Hinter ihm ertönte die Fanfare von The Final Countdown – Hintermanns Handy.
»Ja …?«, meldete der sich und ging ein paar Schritte abseits. »Moment, ich muss mal eben nach draußen.« Noch einige Schritte, dann öffnete sich quietschend eine Tür, ließ gleißendes Sonnenlicht und das Summen der Autobahn herein und schlug gleich wieder zu.
Uli holte eine Schachtel Marlboro und ein Feuerzeug aus der Brusttasche seines schweißgetränkten Hemdes und zündete sich eine Zigarette an. Er warf einen kurzen, kontrollierenden Blick auf Francis und wandte sich dann ab, ging hinüber zu einer Art Werkbank, vor der ein schwerer hölzerner Hocker lag, und hob ihn auf. Pustete Staub von der Sitzfläche und schob den Hocker an die Werkbank heran, damit er sich dort anlehnen und aufstützen konnte. Francis nutzte die Gelegenheit, stemmte die Füße in den Boden und lehnte sich gegen den Pfosten, der ihm bis zu den Schulterblättern reichte. Unter ihm knirschte es – der Pfosten bewegte sich in dem morschen Zementboden. Francis beugte sich vor, simulierte einen heftigen Hustenanfall, packte dabei hinter seinem Rücken das rostige Metall mit beiden Händen und zerrte daran. Noch ein Zentimeter oder zwei.
Uli blickte nur kurz auf, gönnte ihm ein schadenfrohes Grinsen, zog an seiner Zigarette, trat die Kippe auf dem Boden aus und schloss dann die Augen, den Kopf in die Hand gestützt. Francis lehnte sich wieder zurück und drückte. Und wäre beinahe hintenübergefallen – der Pfosten, dessen Sinn und Zweck hier mitten im Raum sich ihm immer noch nicht erschlossen hatte, gab nach, als sei er nur drei Fingerbreit tief einzementiert worden.
Uli schaute hoch und runzelte die Stirn. Aber er konnte nichts Verdächtiges erkennen.
»Stimmt es eigentlich«, sagte Francis im Plauderton, »dass der Schniedel schrumpft, wenn man zu viele Anabolika schluckt?«
»Schnauze!«, brummte Uli.
»Ich kenne einen Bodybuilder«, fuhr Francis ungerührt fort, »der bringt bei Frauen nicht mehr zustande als ein Elfjähriger. Der kriegt nur noch einen hoch, wenn er Leute verhaut.«
»Du sollst die Schnauze halten!« Uli stand auf und machte zwei Schritte auf ihn zu.
»Oh, hab ich einen wunden Punkt getroffen? Tut mir leid, Schatz.«
›Schatz‹ war wohl zu viel – der Schläger stürmte die restlichen vier Schritte vor und holte zu einer Ohrfeige aus. Da fiel ihm offenbar ein, dass das Gesicht des Gefangenen tabu war. Er hielt kurz inne. Grinste, kam noch näher und packte Francis’ Unterhose, mit allem, was darin war. Francis grinste zurück, donnerte ihm die Stirn auf das Nasenbein und hörte es brechen. Mit Schwung warf er sich nach hinten, der Fuß des Pfostens brach aus dem lockeren Zement, Francis landete hart mit dem Hinterkopf auf dem Boden und hätte sich fast die Finger unter dem Eisenpfosten gebrochen. Benommen beeilte er sich, seine mit der Krawatte gefesselten Füße über das Pfostenende zu schieben, musste aber sekundenlang strampeln, bis es ihm gelang. Er sah zu Uli hinüber, doch der lag auf dem staubigen Beton und rührte sich nicht. Francis kam auf die Beine, hockte sich wieder hin und schob fieberhaft seine Hände mit dem Gürtel nach unten, bis endlich der Pfosten aus der gelockerten Fessel kippte und mit metallischem Scheppern zu Boden fiel. So laut, dass man es draußen kaum überhören konnte.
Er schaute zur Tür hinüber – zu weit weg – und hechtete hinter die Werkbank, schürfte sich die nackten Knie und das Gesicht auf, weil seine Hände immer noch hinter dem Rücken gefesselt waren, als die Tür auch schon aufgerissen wurde.
»Verdammt!«, stieß der Hintermann hervor, als er die Szenerie überblickte – kein Gefangener mehr da, kein Marterpfahl, sein Schläger reglos am Boden …
Die Tür schlug wieder zu, rasche Schritte entfernten sich. Francis sprang auf, verlor wertvolle Zeit, um seine Hände aus der Gürtelfessel zu befreien und sich die Hose hochzuziehen. Er rannte zur Tür, riss sie auf – und sah einen schwarzen Audi mit Kölner Kennzeichen mit qualmenden Reifen davonrasen. Ein, zwei Schritte weiter stand er auf einem offenbar aufgegebenen Gewerbegelände, weit und breit waren weder andere Menschen noch irgendein Fahrzeug zu sehen. Hinter einem mit Pappeln bewachsenen Erdwall rauschte unablässig und ungerührt der Verkehr auf der Autobahn.
»Na, dann wollen wir mal die Rollen tauschen, Ulichen«, murmelte er, ging zurück zur Schuppentür und öffnete sie. Geblendet vom grellen Sonnenlicht draußen sah er die Faust, die ihn unter dem Auge traf, nicht einmal kommen. Wieder landete er auf dem Rücken. Und kassierte zwei Tritte in die Rippen, bevor er sich schnell zur Seite wälzen und wieder aufrappeln konnte. Dann reichte ein Stüber mit dem Handballen unter die gebrochene Nase seines Gegners – Uli fiel um wie ein Schwein nach dem Bolzenschuss.
Und auch er würde nie wieder aufstehen – der Stoß hatte ihm wohl Splitter des Nasenbeins ins Gehirn getrieben, vermutete Francis.
Er zog den schweren Leichnam mit Mühe in den Schuppen zurück, untersuchte Ulis Kleidung, fand nichts, was ihm irgendwie weiterhelfen könnte, und dachte: DNA …! Schwitzend zog er dem Toten sämtliche Kleidungsstücke aus und verschnürte sie zu einem Bündel. Dann sah er sich erst in dem Schuppen und danach in einigen der anderen verlassenen Gebäude um. Nach einer halben Stunde hatte er Unmengen von Graffiti, etliche mehr oder weniger leere Farbspraydosen, eine klapprige hölzerne Karre mit platten Reifen, einen vor sich hin rostenden, aber noch halb vollen Benzinkanister und in einem der Schuppen die Grube einer Autowerkstatt gefunden. Dorthin brachte er all seine brauchbaren Funde, zuletzt, mit Hilfe der Karre, mühselig den toten Uli. Drehte eine weitere Runde und sammelte alles, was er an Papier, Pappe und trockenem Holz fand, warf es mitsamt den Spraydosen in die Grube und kippte zum Schluss Uli und die Karre obendrauf.
Schließlich kletterte er auf das Dach des höchsten Schuppens, was nicht einfach war mit einem von all den Schlägen schmerzenden Leib und einem zugeschwollenen Auge, und sah sich um. Im Westen die Autobahn, hinter der langsam die Sonne versank. Im Osten, hinter abgeernteten Getreidefeldern, vielleicht zwei Kilometer entfernt, ein neues Gewerbegebiet. Im Norden ein Wäldchen. Im Süden begann, in etwa fünfhundert Metern Entfernung, ein riesiges Maisfeld. Er würde schnell sein müssen.
Wieder in der alten Autowerkstatt übergoss er alles in der Grube mit Benzin, zündete es mit Ulis Feuerzeug an und rannte los. Auf das Maisfeld zu und hinein. Zwischen den ersten der über zwei Meter hoch wachsenden Pflanzen schaute er kurz zurück – dichte schwarze Rauchwolken krochen aus sämtlichen Öffnungen der Werkstatt und stiegen steil und weithin sichtbar in den wolkenlosen Himmel. Es würde nicht lange dauern, bis irgendjemand kommen und nachsehen würde. Vielleicht hätte er warten sollen, bis die Sonne vollständig untergegangen war. Zu spät. Er rannte weiter und hoffte, dass das Feuer ausreichte, alle Spuren, die zu ihm führen könnten, zu vernichten.
2
Montag, 7. August
Voll der Griff ins Klo.
Folker Schmittem saß auf seinem Schreibtischdrehstuhl, in der Mitte des fast leeren Zimmers, und drehte sich in Zeitlupe um sich selbst.
Wand eins: grau. Raufaser, aber ein totes, glanzloses Betongrau. Im rechten Drittel ein weißer Türrahmen. »Die Türen stehen im Keller«, hatte Jens, der Vormieter, gesagt. Jens war nämlich ein freier Geist, wie er mehrmals betonte. Deshalb hatte er im Mai seine Caro ziehen lassen, ohne zu klammern. Und seitdem keine Miete mehr gezahlt. Und deshalb mochte er auch keine Türen in der Wohnung. Und keine Farben.
Wand zwei: grau. Mittendrin, exakt mittig horizontal wie vertikal, ein etwas hellerer rechteckiger Fleck mit einer Kantenlänge von 250 mal 150 Zentimetern Länge. Da hatte ein Bogen Papier gehangen, auf dem Jens den Plot seines Großen Deutschen Gegenwartsromans aufgezeichnet hatte. Die Plots, genauer gesagt, denn für einen endgültigen hatte er sich nie entscheiden können. Was wiederum der Grund dafür war, dass er auch noch keine Zeile geschrieben hatte, und das seit vier Jahren. Wahrscheinlich hatte die gute Caro keinen Bock mehr, ihn noch länger mit durchzuschleppen …
Wand drei: grau. Ganz rechts in Hüfthöhe ein diffuser Achtzehn-Zoll-Fleck, wo ein alter Röhrenfernseher zu dicht an der Wand gestanden hatte.
Wand vier: grau. Mittendrin ein großes Fenster und eine Balkontür, weiß gerahmt. Dahinter ein brusthohes schmiedeeisernes Gitter – es gab keinen Balkon. Es sei denn, man wollte einen etwa vier Meter breiten und dreißig Zentimeter tiefen aus der Hauswand ragenden vergitterten Betonstreifen als solchen bezeichnen. Dabei hätte man, wäre es einer gewesen, so schön dort draußen sitzen und über den Hinterhof voller Abfallcontainer, Fahrräder und Sperrmüll die Aussicht auf die an diversen Stellen bröckelnde Backstein- und Glasbausteinfassade des Hinterhauses genießen können. Wenn man sich nicht an den Dünsten störte, die aus dem pausenlos summenden Lüftungsrohr der Dönerbude im Erdgeschoss drangen. Unter der Fensterbank ein Heizkörper mit zweiundzwanzig Rippen.
Immerhin dreißig Quadratmeter. Platz genug für eine Matratze, einen kleinen Schreibtisch samt Drehstuhl, ein Billy-Regal, einen Kleiderständer und zwei Gitarren, sollte man meinen.
Das alles – außer dem Stuhl – stand aber noch in der Küche.
Folker seufzte, erhob sich und ging über den schwarzen Noppenfußboden durch den türlosen Durchgang hinüber.
Zwanzig Quadratmeter. Schwarzer Noppenfußboden, graue Wände auch hier. Keine Küchenmöbel außer einer überraschend sauberen Spüle mit weißem Unterschrank. Dahinter ein weißes Fliesenband, sogar ohne Pril-Enten-Sticker. Nein, einen Herd hätten sie nie gehabt, hatte Jens erklärt, sie hätten sich ihr Abendessen immer bei Berek geholt, dem Geschäftsführer des türkischen Imbisses unten. Und nein, Heißgetränke seien eh nicht gut für den mindset, schon gar nicht den eines Autors; Caro und er hätten ausschließlich handwarmes Leitungswasser mit Bio-Zitronenscheiben getrunken. Folker hatte, obwohl neugierig, begonnen, dankbar zu sein, dass er Caro gar nicht kennenlernen musste.
An der freien Wand der Küche waren seine Besitztümer aufgetürmt – seine Handvoll Möbel, vier Umzugskartons und zwei Gitarrenfutterale samt Instrumenten.
Die Küche hatte kein Fenster, dafür in einer Ecke einen vertikalen Heizkörper bis zur Decke, mit drei Rippen, und mitten in der Decke gab es eine halbrunde Zwei-Quadratmeter-Kuppel aus gelblichem Plastik, durch die man aber mehr Taubendreck als Tageslicht sah. Ein weiterer Durchgang führte in einen winzigen Flur, der an einer massiven, natürlich grauen Wohnungstür endete. Vom Flur aus kam man in ein ebenso winziges graues Bad mit Toilette und Duschkabine. Die Wohnungstür war einer der Gründe gewesen, den Mietvertrag zu unterschreiben: Hier würde Folker rund um die Uhr Gitarre spielen und singen können, ohne irgendjemanden zu stören. Über ihm wohnten etliche Lagen Teerpappe und die Tauben, unter ihm produzierte der Imbiss selber reichlich Krach, und an den Seiten trennten die Bude außerdem die Brandmauern von den Nachbarhäusern.
Ein anderer Grund war die Miete – gerade mal dreihundert Euro wollte der alte Eul haben, und als Folker sich bereit erklärte, die Müllcontainer an den Abholtagen auf die Straße zu fahren, wurden es noch fünfzig Euro weniger. Zweihundertfünfzig Ocken kalt für eine Bude in der Kurfürstenstraße, also zwei Fußminuten zum Chlodwigplatz und drei zur Sansibar, das war ein absolutes Schnäppchen.
Trotzdem würde es sich wahrscheinlich als Griff ins Klo entpuppen – jetzt im Sommer knallte die Sonne auf das Flachdach und heizte die Zimmer auf mindestens dreißig Grad auf, im Winter würden die Heizkörper wohl eher die Dachpappe wellen als die Wohnung warm genug halten, und die Nebenkosten würden höher sein als die Miete.
Tja, ’n bisschen Verlust ist immer … Folker seufzte noch einmal, schnappte sich seine Matratze und schleppte sie in den größeren Raum. Das musste vorerst reichen – er würde in den nächsten Nächten sowieso erst einmal ausprobieren müssen, wo im Zimmer der beste Schlafplatz war.
Er zog sein Handy aus der Hosentasche und sah nach der Uhrzeit. 15:29 – vielleicht doch ein kleines bisschen früh für einen Dämmerschoppen zur Feier des Umzugs. Mit einem dritten Seufzer entschied er sich, zumindest den Karton mit den drei fetten Ausrufezeichen zu öffnen, und packte Bettwäsche, die kleine Kompaktanlage, zwei Steckdosenleisten und ein paar Bücher und CDs aus.
Und stieß auf das Päckchen, das er auf seinem Kopfkissen gefunden hatte, nachdem Jutta und Kai ›in Urlaub‹ gefahren waren. Er hatte es immer noch nicht übers Herz gebracht, das schuhkartongroße Ding zu öffnen.
»›In Urlaub‹ …«, brummte er, während er die Musikanlage aufbaute. »Scheiße, verdammte.«
Ende April vor vier Jahren waren sie abgereist, ohne jegliche Abschiedsszene, sie waren einfach fort gewesen, als er eines Abends von seinem Putzjob im Wasserwerk Hochkirchen heimgekommen war. Tagelang war er durch die verlassene Wohnung getigert und hatte sich seinem Leiden hingegeben; einmal hatte er sogar eine Nacht in Juttas Bett verbracht, aber da hatte ihn dermaßen das heulende Elend gepackt, dass er schon im Morgengrauen geflohen war und ihr Schlafzimmer nie wieder betreten hatte. Am Ende der zweiten Woche hatte er, in Erwartung ihrer Rückkehr, die Ärmel hochgekrempelt und die ganze Bude auf Hochglanz gebracht – aber niemand kam. Auch nach drei Wochen nicht. Am Ende der vierten tauchte schließlich der Vermieter auf und teilte ihm mit, dass Jutta a) die Wohnung zum ersten August gekündigt und b) vier potenzielle Nachmieter benannt hatte, von denen c) einer nun der neue Mieter sei, der aber d) gern bereits am fünfzehnten Juli mit der Renovierung beginnen würde. Und da es Jutta ja eigentlich gar nicht gestattet gewesen sei, überhaupt einen Untermieter aufzunehmen …
Folker hatte Glück, seine Sachen durfte er in Sansis Keller unterstellen, und sein alter Freund Jimmi hatte zufällig gerade mal wieder Sehnsucht nach London und war froh, jemanden zu haben, der zwei, drei Wochen seine Hütte in der Eifel hüten würde. Dann hatte er noch mehr Glück, weil Jimmi auf der Insel die Liebe seines Lebens fand, einen Engländer, mit dem er nun erst mal nach Berkshire ziehen würde, wo Chris ein hübsches kleines Häuschen besaß. Allerdings gab es dort auch hübsche Nachbarn. Nein, sagte Jimmi, er rede natürlich nicht von Engländern – im Haus nebenan wohnte ein Clan von nicht nur heftig kiffenden, sondern auch mit Crack dealenden Jamaikanern. Und als Jimmi nach einigen Monaten feststellen musste, dass sein Chris im großen Stil in das Geschäft eingestiegen war, packte er enttäuscht seine Koffer. Und brauchte daraufhin seine Eifelhütte wieder.
Und hier hockte Folker nun, zurück in der Kölner Südstadt, in seiner neuen, eigenen Wohnung, nachdem er über ein Jahr lang mal hier, mal dort als Gast untergekommen war, und konnte sich nicht entscheiden, welche Musik er auflegen sollte. Album für Album legte er beiseite, weil er wusste, dass er spätestens nach acht Takten wieder den Blues kriegen und anfangen zu heulen würde. Selbst ein Jahr später noch. Sein Bierdurst verschärfte sich.
»Ich brauch ’nen Kühlschrank!«, rief er in den hallenden Raum. Nicht nur das – eine Kochgelegenheit würde er auch brauchen. Einen Schrank für Geschirr, das er nicht hatte, und für Vorräte, die er sich noch zulegen müsste. Aber er hatte schon reichlich Mühe gehabt, die drei Monate Kaution zusammenzukratzen, und jetzt Schulden bei einem halben Dutzend Leuten. Mit anderen Worten: Er war mehr als pleite, an Auftritte war so kurz nach diesen beschissenen Corona-Zeiten noch nicht zu denken, und er wagte gar nicht erst, sich mit Gedanken an die Septembermiete zu befassen.
»Na, dann woll’n wir doch mal testen, wie’s hier so ist mit der Nachbarschaft und Musik«, knurrte er, legte Bitches Brew ein und drehte die Anlage auf.
»So, was hörst du?«, hatte Jutta ihn einmal erstaunt gefragt.
»Ich wünschte, ich könnte so spielen«, hatte er gesagt. »Das ist eins der fantastischsten Alben, die je aufgenommen wurden! Ein Meilenstein der Musikgeschichte!«
Sie hatte kopfschüttelnd sein Zimmer verlassen und die Tür geschlossen. Ja, sie hatte wahrscheinlich recht: Sie und er passten gar nicht zusammen.
Er hockte sich auf die Fensterbank, ließ diese so außergewöhnliche Band durch das Zimmer dröhnen und drehte, wog und beäugte das Päckchen in seinen Händen. ›Für Folker‹, mit lila Edding, in ihrer so angemessen runden weichen, weiblichen Handschrift. Juttas Abschiedsgeschenk. Festes braunes Packpapier, an allen Sollreißstellen gründlich mit Klebeband versiegelt. Er schüttelte es. Keine verräterischen Geräusche. In diesem Moment schon gar nicht, dafür sorgte Miles Davis mit seinen Kumpels.
Wie lange willst du da noch drumherum schleichen? Gerade beginnt ein neuer Lebensabschnitt für dich – also wann, wenn nicht jetzt?
Er knibbelte mit dem Fingernagel eine Ecke vom Klebeband ab, zog daran und riss das ganze Papier auseinander, ließ es auf den Boden fallen. In eine Plastiktüte eingewickelt tatsächlich ein Schuhkarton. Hausschuhe Größe neununddreißig, die gefütterten schwarzen mit dem hohen Schaft, die sie im Winter immer getragen hatte. Sonderpreis – neunundzwanzigneunzig.
Auch der Deckel war mit Klebeband fixiert. Weg damit.
Als Folker ihn abnahm, fiel ihm die Kinnlade herab. Obenauf ein gelber Briefumschlag. Wieder ›Für Folker‹. Und darunter Unmengen von Geldscheinen. Er tastete an mehreren Stellen in dem Papierhaufen herum – nichts als Geld, Geld, Geld. Echtes Geld.
Wenn ich jetzt nicht sofort ein Bier bekomme, kriege ich einen dreistündigen Schreikrampf! Er nahm einen Zwanziger aus dem Karton, legte den Umschlag wieder auf den Rest, stülpte den Deckel darauf und sah sich suchend im Zimmer um. Das wäre der Filmgag des Jahres: Junger Mann wird unverhofft reich, geht sich schnell ein Feierbier holen, kommt nach fünf Minuten zurück – und die Wohnungstür ist aufgebrochen und die Kohle verschwunden …!
Er nahm das Kopfkissen von der Matratze, öffnete den Reißverschluss und kippte den Inhalt des Kartons in den Kissenbezug. Warf den Karton in eine Ecke, schnappte sich die Plastiktüte, rannte hinunter in den Dönerladen, kaufte zehn Flaschen Kölsch und zwei Bulgurklöße und hastete wieder hoch in den ersten Stock. Dort öffnete er ein Bier mithilfe seines Feuerzeugs und trank die Flasche in zwei köstlichen langen Zügen halb leer. Seufzte genießerisch, nahm Bier und Kopfkissen mit in die fensterlose Küche, setzte sich auf den Boden, schüttelte das Geld aus dem Kissen und zählte es.
Als die Pulle leer war, hatte er elf Stapel um sich herum verteilt, jeder tausend Euro wert. Elftausend Ocken …! Ich fass es nicht …!
Er öffnete erst die zweite Flasche, dann den Briefumschlag.
Mein lieber Folker, nein, eigentlich sollte ich schreiben: Mein allerliebster Folker …
Er stöhnte auf und wühlte in dem Umzugskarton herum, fand – wusst’ ich’s doch! – ein halbleeres Päckchen krümelig-trockenen Tabak, drehte sich erst einmal eine Zigarette, trank noch einen guten Schluck und benutzte die leere erste Flasche als Aschenbecher. Ich weiß ja nicht, wann und wo Du dieses Paket öffnest, wann und wo Du diesen Brief liest – ich traue Dir durchaus zu, dass Du es erst mal
