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Entfesselter Wahn: Psychothriller
Entfesselter Wahn: Psychothriller
Entfesselter Wahn: Psychothriller
eBook281 Seiten3 Stunden

Entfesselter Wahn: Psychothriller

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Über dieses E-Book

Zwei Morde, zwei verstümmelte Leichen! Eine davon verschwindet allerdings wieder spurlos. Ezra Greenwood ist verwirrt. Seine Großmutter hat er selbst umgebracht, aber wer tötete seinen Bruder Jason? Und wo sind dessen sterbliche Überreste abgeblieben? Weshalb steht er außerdem plötzlich im Fokus von mysteriösen Nachrichten, die ihn und seine Familie betreffen? Wer fordert ihn zu einem grausamen Spiel heraus, das er augenscheinlich nicht gewinnen kann?

Bei "Entfesselter Wahn", wird allmählich der Jäger zum Gejagten. Kann Ezra die Botschaften rechtzeitig entschlüsseln, ehe er selbst das Opfer ist oder sein Körper den Kampf gegen die Nervenerkrankung, die aus ihm einen geistesschwachen Krüppel macht, verliert?
SpracheDeutsch
HerausgeberMedimont
Erscheinungsdatum29. Mai 2024
ISBN9783911172677
Entfesselter Wahn: Psychothriller
Autor

Kirstin Allmenröder

Kirstin Inger Allmenröder wurde 1989 in Witten an der Ruhr geboren. Im Jahr 2008 erhielt sie den Kultur- und Förderpreis der Stadt Witten für besondere Leistungen im Bereich Prosa und Lyrik für ihre Gedichtsammlung „Lebendige Widersprüche“. Gemeinsam mit Gabriele Hasmann hat sie mehrere Kriminalromane veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Entfesselter Wahn - Kirstin Allmenröder

    Prolog

    Jeder Gedanke hat etwas Magisches an sich. Seine Form, seine Struktur, seine Beweglichkeit und der Umstand, dass er nicht greifbar ist und derart schnell versickern kann, wie ein Tropfen Wasser in der Wüste – die positiven, wie die negativen, Antworten wie Fragen.

    Und ich möchte wissen: Welchen Sinn hat das irdische Dasein? Wenn alles, was wir erreicht und wofür wir gekämpft haben, innerhalb von Sekunden seine Bedeutung verliert? Wenn das Leben in einem bestimmten Moment mit einem Lidschlag vorbei sein kann?

    Bisher ist mir alles geglückt. Aber ein analytischer Verstand und Durchsetzungskraft allein reichen einfach nicht aus, um am Leben zu bleiben. Wenn es an der Zeit ist, rückt der Tod immer näher und lässt sich auch nicht einschüchtern, er ist unerbittlich, grausam und unbestechlich.

    Ebenso habe ich verstanden, dass es sinnlos ist, mit Ärzten verhandeln zu wollen. Es hat etwas gedauert, aber jetzt akzeptiere ich es und verstehe, dass es keine Hoffnung gibt, an die ich mich klammern kann. Zumindest – und das ist auch gut so – sind in meinem Verstand noch nicht alle Lichter erloschen, so wie das bei manchen anderen Menschen mit dieser Krankheit der Fall ist, und ich bin auch nicht stark körperlich eingeschränkt. Und ehe ich mich vielleicht wirklich nicht mehr bewegen, nicht mehr denken oder sprechen kann, nutze ich die Möglichkeit, selbstbestimmt über mich und mein Handeln zu entscheiden. Somit kann ich auch niemandem außer mir selbst die Schuld für das geben, was passieren wird.

    Wie es sich wohl anfühlt zu sterben? Wie muss es sein, ganz bewusst den letzten Atemzug zu tun? Zu spüren, wie sämtliches Leben aus dem Körper weicht? Bis ich diese Erfahrung mache, bin ich mit mir allein, aber auf diese Gesellschaft würde ich bisweilen ganz gerne verzichten.

    Ich habe manchmal das Gefühl, mich verirrt zu haben, in einem trügerischen Gedankenlabyrinth, ohne Ausweg, ohne Antworten. Dann wieder sind da die Momente, in denen ich genau weiß, was zu tun ist. Und warum.

    Genauso spannend, wie die Frage nach dem Sinn des Lebens, ist es nämlich, zu wissen, wohin wir gehen, wenn wir unsere Augen endgültig schließen. Will man die Wahrheit erfahren, darf man keine Angst vor dem Blick in ihr Gesicht haben, ganz egal, ob es sich dabei um ein gütiges Antlitz oder eine hässliche Fratze handelt. Ich bin bereit, nach ihr zu suchen.

    Werde ich mit den Konsequenzen leben können? Habe ich überhaupt eine Wahl? Es ist an der Zeit, das herauszufinden.

    In mir ist alles leise, die Stimme des Gewissens meldet keine Zweifel an. Nur das leise Rattern des Dieselmotors und das Klappern des verrosteten Auspuffs des geliehenen Pick-Ups begleiten mich.

    Als ich endlich das Waldstück erreiche, das ich in den letzten Wochen so oft besucht habe, dass ich mich auch blind darin auskennen würde, parke ich den Wagen. Wie in einer Art Traumsequenz beobachte ich mich selbst. Ruhig ziehe ich meine Handschuhe über die geröteten Fingerknöchel, steige aus dem Fahrzeug und gehe auf die Ladefläche zu. Der Schein des Mondes begleitet mich wie ein Komplize. Entschlossen greife ich nach einem alten Spaten, in dessen Griff ich schon vor langer Zeit einmal meine Initialen geritzt habe. Mit wankenden Beinen und zitternden Händen bewege ich mich vorwärts. Doch dann biege ich seltsam routiniert und mit beinahe euphorischer Erleichterung um die letzte Kurve und stapfe auf das gleißende Licht zu.

    Großmutter liebt diese Festbeleuchtung – nicht nur zu Weihnachten, sondern das ganze Jahr.

    »Sie fühlt sich dann weniger einsam und außerdem sicherer, denn wer würde schon bei einer alten Frau einbrechen, deren Haus strahlt wie ein verdammter 2000-Watt-Scheinwerfer? Oder wie ein Scheiß-UFO, das eben gelandet ist?«

    Bei seinen letzten Worten hat Jason seine fleckigen Zähne gebleckt und hässlich gelacht. Ich rümpfe in Erinnerung daran die Nase und frage mich, wann genau ich auf das Niveau meines Bruders hinabgeglitten bin. Kann ich den Zeitpunkt noch bestimmen, an dem ich realisiert hatte, dass meine bürgerlich-behütete Welt zu klein für mein Vorhaben geworden war? Ja, denn ich werde diesen Augenblick vor exakt 15 Wochen und rund 12 Stunden niemals vergessen.

    Ich pausiere, ehe ich weiter auf das illuminierte Gebäude zuschreite, in dem die Person lebt, die schon bald tot sein wird. Ermordet durch meine Hand. Noch versagen mir meine Muskeln, Organe und andere Körperteile nicht den Dienst, doch sie werden unwillig, wenn ich mich nicht regelmäßig ausruhe. Während ich verschnaufe, flackert kurz so etwas wie Widerwille in irgendeinem Bereich meines Gehirns auf; sicher nicht in dem Teil, der für das analytischlogische Denken zuständig ist, sondern eher in der Zone, die sich mit Emotionen befasst bzw. – zumindest in meinem Fall – dagegen ankämpft.

    Ich raffe mich wieder auf und greife nach dem Spaten, streiche kurz mit der behandschuhten Hand über das speckige Holz, als würde ich ihn mit dieser Geste um Beistand und Unterstützung bei meinem blutigen Vorhaben ersuchen. Noch einmal atme ich tief in die sternenklare Nacht, in der das Zirpen der Grillen nur vom Summen der Hochleistungs-Lichtstrahler begleitet wird, die Luft vor Hitze vibriert und nach würzigen Kräutern schmeckt. Nun ist es soweit – es gibt kein Zurück mehr.

    Kapitel 1

    Sheriff Bradley John Baxter, genannt BJ, und Deputy Avery Stubs stehen inmitten eines Fliegenschwarms, der hartnäckig und aufgeregt summend um sie kreist. Sie blicken mitleidig und zugleich angewidert auf den dicken Mann um die 50, der kreidebleich auf einem Baumstumpf sitzt und alle paar Minuten keuchend und würgend sein Frühstück erbricht. Die warme breiige Masse wird, kaum dass sie auf den Boden geklatscht ist, sofort von den schwarzen Insekten gierig in Beschlag genommen.

    Herbert Winter, ein gebürtiger Deutscher, hat nahe einer Siedlung südlich der Stadt Sedona bei einem Spaziergang im Wald eine grauenhaft zugerichtete Tote gefunden. Noch dazu, als wäre das nicht schon schlimm genug, handelt es sich bei dem zerhackten weiblichen Leichnam um seine Nachbarin Elvira Scott – eine nette, alte Dame, wie Herbert Winter den Männern in Uniform zwischen seinen lautstarken Magenentleerungen immer wieder versichert.

    Deputy Stubs, erst seit zwei Jahren bei der Polizei von Yavapai County in Arizona, hat eifrig seinen Notizblock gezückt, um jede noch so kleine Bemerkung schriftlich festzuhalten.

    »Ein bisschen schrullig war sie schon«, fährt der Zeuge fort, »fürchtete sich ständig vor irgendetwas und hat uns wahnsinnig gemacht mit ihren grellen Scheinwerfern rund um ihr Haus, die das ›Gesindel‹ fernhalten sollten.« Er lächelt matt.

    BJ Baxter räuspert sich. »War in letzter Zeit jemand bei ihr im Haus, den Sie nicht kannten?«, fragt er, während er in seiner Hosentasche nach einem Kaugummi sucht.

    Herbert Winter überlegt kurz und antwortet dann: »Nein, sie hatte nie Besuch. Selbst ihren Sohn habe ich schon lange nicht mehr gesehen.« Er zuckt schwerfällig mit den Schultern und fragt: »Brauchen Sie mich noch? Ich würde gerne nach Hause gehen, meine Frau macht sich bestimmt schon Sorgen.«

    Der Sheriff überlegt kurz und nickt dann.

    »Ihre Daten sind ja notiert. Wir werden uns morgen bei Ihnen melden, um noch einmal Ihre Aussage durchzugehen – damit wir sicher sein können, dass Sie nichts vergessen haben.«

    Herbert Winter erhebt sich schnaufend, wischt sich mit seinen wulstigen Fingern über den Mund, in dessen Winkeln noch Reste von Erbrochenem hängen, und marschiert dann mit schweren Schritten davon.

    Nachdem die beiden Ermittler unauffällig sichergestellt haben, dass der Deutsche außer Hörweite ist, wendet sich Deputy Stubs an Sheriff Baxter.

    »Was ist mit Jason?«, fragt er und zieht fragend eine Augenbraue hoch. »Der lebt doch bei Elvira, oder …?«

    »Keine Ahnung … aber ich werde später hinfahren und nach dem Jungen sehen, wenn ich mit meiner üblichen Runde fertig bin. Vielleicht hat er noch gar nicht bemerkt, dass seine Großmutter nicht nach Hause gekommen ist.«

    Der Deputy nickt nachdenklich.

    »Warum wird einer netten alten Dame der Schädel so tief gespalten, dass das Gehirn austritt, und ihr Leib so lange zerteilt, bis nur mehr ein blutiger Fleischberg übrigbleibt?«, fragt er.

    »Hass, Frust, Wut … oder alles zusammen«, brummt Baxter.

    Stubs seufzt und steckt seinem Chef eine Rechnung mit ausgeblichener Schrift zu, auf deren Rückseite er die Nummer von Herbert Winter notiert hat. Der Sheriff beäugt den dünnen Papierfetzen kritisch.

    »Starbucks?«

    »Ich liebe den Laden, ein bisschen viel Auswahl, aber der White Chocolate Mokka ist der Hit. Würde ich an Ihrer Stelle auch einmal ausprobieren«, erklärt Stubs und verabschiedet sich mit den Worten: »Ich fahre ins Büro … den Papierkram erledigen.«

    Kurz darauf verlässt er den Ort des Geschehens, zusammen mit dem Gerichtsmediziner, der sich bei dem grauenerregenden Zustand der Leiche zu keiner ersten Einschätzung bezüglich des Todeszeitpunkts hat überreden lassen.

    Und nun zurück zu mir: Ezra Greenwood.

    Der heutige Unterricht ist so anders als jener der letzten Tage. Weil ich mich die ganze Zeit frage, wie lange es dauern wird, bis man mich aufgreift und in eine Zelle sperrt, in der ich nicht einmal eine Tür vor der Toilettenschüssel haben werde.

    Meine Hand ist zu einer Faust geballt, in ihr befindet sich ein zerknüllter Zettel. Es ist meine fristlose Kündigung. Ich muss gehen, heute schon, und das so kurz vor Ferienbeginn. Man will mich offenbar so rasch als möglich loswerden. Die angegebenen Scheingründe sind lächerlich, aber ich akzeptiere sie, werde nicht um meinen Verbleib kämpfen, sondern meine Energie für andere Dinge sparen – ich weiß auch schon, für welche.

    Alles an diesem Ort widert mich an: Die freundliche Heuchelei, die ich aufbringen muss, das Starren in die jungen Gesichter der Schüler, die ihr Leben, im Gegensatz zu mir, noch vor sich haben … Diese Institution war einst meine heile Welt, die in ihr herrschende Struktur hat mir Halt gegeben, mich glücklich gemacht. Jetzt wird mich nichts mehr zufriedenstellen – bis auf die Wahrheit.

    Nehmen wir einmal an, es hätte diese Diagnose vor knapp 16 Wochen nicht gegeben. Nehmen wir einmal weiter an, ich dürfte weiterleben, dann hätte ich wohl Elvira auch dieses Privileg zugestanden und Gnade walten lassen. Glücklich und zufrieden in ihrer eingemotteten Welt voller uralter Erinnerungen und Rosentapeten. Aber, das Leben macht seine eigenen Pläne, und das werde ich jetzt auch tun.

    Mein Arzt rät mir, schon einmal ein Hospiz auszusuchen, falls es schlimmer wird. Falls es schlimmer wird?! Meine Hände zittern, sobald ich nur mit dem Gedanken spiele, sie zu bewegen. Ich bin nicht einmal mehr in der Lage, ein Stück Kreide so lange zu halten, um vernünftig unterrichten zu können. Die geometrischen Figuren, die ich heute an die Tafel zeichnen wollte, glichen viel mehr einem abstrakten Gemälde von Picasso. Wofür sind diese verfluchten Finger noch zu gebrauchen, wenn ich nicht einmal mehr einen Strich aus meinen Gedanken als gerade Linie zu Papier bringen kann?

    Die Pflegeeinrichtungen sind ohnehin alle gleich … wozu sollte ich eine Wahl treffen? Ich kann auch auf den Tag warten, an dem ich sabbernd in mich zusammensacke und mir jemand die Entscheidung abnimmt, wo ich elendig verreckten darf. In einer Umgebung, in der mir säuselnde Krankenschwestern vorgaukeln, alles sei gut, obwohl jeder Atemzug, der meine Lungen verlässt, schlimmer brennt, als die Flammen der Hölle. Oder in einem Zimmer, festgeschnallt auf einer Liege, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschen würde, als mich aus dem Fenster zu stürzen, um meinen Qualen ein schnelles Ende zu bereiten.

    Elvira habe ich dieses Privileg der raschen Erlösung auch nicht zugestanden, ihren Herzschlag nicht schnell gestoppt. Ich ließ sie einige Zeit lang an ihrem mickrigen Dasein hängen, bevor sie ihre Augen für immer schließen durfte. Ob sie gelitten hat? Definitiv!

    Ich sollte anfangen, zu malen, hat der Arzt vorgeschlagen, um meine kognitiven Fähigkeiten aufrecht zu erhalten, um die Hand-Augen-Koordination nicht zu verlieren. Weshalb? Soll ich der kreativste Todkranke und die begabteste Leiche von Arizona werden?

    Mir ist, bis auf wenige Dinge, alles egal! Nur zwei Tatsachen halten mich vorerst bei Verstand und lassen mich noch an meinem Dasein hängen. Erstens: Ich werde sicherlich nicht allein von dieser beschissenen Welt verschwinden. Zweitens: Bevor ich gehe, werde ich wissen, wohin.

    Ist es nicht interessant, dass Bewusstsein und Leben voneinander getrennt sind? Als ich Elvira ihre Gliedmaßen abhackte, verlor sie das eine, aber nicht das andere. Jedenfalls nicht sofort. Heißt das dann aber nicht auch, dass Körper, Geist und Seele ebenfalls zu trennen sind und nicht automatisch gleichzeitig aufhören, zu existieren?

    Die Pausenklingel reißt mich aus meinen Gedanken. Ich verabschiede meine Schüler. Alle verlassen den Raum, nur Victoria nicht. Vicky, wie sie alle nennen, so wie auch ich in der Zeit nach dem Unterricht, scheint auf mich zu warten. Betont unauffällig starrt sie auf die Seiten ihres immer noch geöffneten Geometriebuchs und verabschiedet ihre Freundinnen mit einem kurzen Winken, ohne dabei aufzusehen.

    Mein Bruder ist ganz verrückt nach ihr. Er hat sie schon vor Jahren immer mit dem Fernglas beobachtet, wenn sie aus der Schule kam. Der kranke Mistkerl! Aber, was soll‘s … Für mich, ist sie ohnehin nur Mittel zum Zweck. Ein Puzzlestück mehr zur Komplettierung meines Bildes.

    Jason wird sich jetzt wohl eine andere Bleibe suchen müssen. Alleine kann er das Haus nicht halten. Er hat nie etwas aus seinem Leben gemacht, und das wird sich auch nicht mehr ändern.

    Elvira nahm ihn vor Jahren liebevoll bei sich auf, als wir unseren Eltern, zwei beschissenen Junkies, die geistig nie über die 1960er Jahre hinausgekommen sind, egal wurden. Mich hat sie schon immer gehasst und mir auch nie angeboten, bei ihr zu wohnen. Ihr Goldjunge war und blieb Jason. Während ich mich alleine durchgeschlagen habe und Nebenjobs annahm, um irgendwie über die Runden zu kommen, führte er ein leichtes Leben. Bis heute …

    Meiner Mutter Susan haben die Drogen letztes Jahr das Leben gekostet. Ein absehbares Schicksal. Mein Vater wohnt in einem winzigen Apartment in der Nähe des Flughafens und wacht vermutlich noch immer, jeden Tag aufs Neue, in seinem Erbrochenen auf. Bis der mitbekommt, dass seine Mutter nicht mehr lebt, gibt er selbst den Löffel ab. Und anstatt, dass er mit einem schmerzhaften Leiden bestraft wird, für Jasons und meinen besch…eidenen Start ins Leben, werde ich krank … Aber wahrscheinlich bezahlt er mit seiner Sucht ohnehin schon genug für seine Sünden.

    Als Vicky und ich endlich alleine im Raum sind, schlägt sie ihr Buch zu, verstaut es in ihrer schwarzen Louis Vuitton-Tasche und zieht einen roten Lippenstift aus einem kleinen Seiteneinfach, das kaum sichtbar unter dutzenden Strasssteinen verborgen liegt. Ihre Augen flirten mit mir, während sie die Farbe aufträgt. Wieso sollte ich nicht noch einmal Spaß haben? Ihr Lehrer bin ich ja ab heute nicht mehr …

    Selbstsicher gehe ich auf die junge Frau zu und reiße sie derart abrupt an ihrem Handgelenk hoch, dass ihr der Lippenstift entgleitet. Ellipsenförmig trudelt er über den Fußboden. Sie sieht mich mit einem kessen Schmollmund an. Ihr Vertrauen habe ich bereits, der Rest wird ein Kinderspiel! Als hätte sie eine Dummheit begangen, zerre ich sie hinter mir über den Flur. Niemand stellt sich mir in den Weg, nicht einmal Vicky selbst hält mich auf. Sie könnte sich wehren, davonlaufen, aber das kommt ihr nicht einmal annähernd in den Sinn.

    Die Schule, in dem immer noch der Charme der 1980er-Jahre hängt, ist mittlerweile wie leergefegt. Mit eiligen Schritten gelangen wir zu den Toiletten im dritten Stock. Ein Geruchsgemisch aus Urin und Putzmittel schlägt uns entgegen, als ich mit einem gekonnten Tritt die Tür aufstoße.

    Ich packe Vicky an den Hüften und setze sie auf den Waschtisch, der beinahe die ganze Wand entlang verläuft. Meine Hände wandern unter ihr Shirt, meine Zunge dringt beinahe aggressiv in ihren Mund ein. Wie ein Lichtblitz durchzuckt mich kurz die Frage, was wohl passiert, wenn uns jetzt jemand erwischt? Ist aber auch schon egal!

    Eine schlimmere Konsequenz als den Tod muss ich nicht fürchten, und Vicky ebenfalls nicht – auch wenn ihr verfrühtes Ableben zu diesem Zeitpunkt lästig wäre. Vicky wird mir noch behilflich sein. Wir werden der Antwort nach dem ewigen Leben gemeinsam auf die Spur kommen. Schließlich habe ich ihr bei der Suche danach bereits einen Platz in der ersten Reihe reserviert.

    Kapitel 2

    Warum mich dieses Mädchen so sehr will, weiß ich selbst nicht. Mit verschmiertem Lippenstift verlässt Vicky die Toi lette als Erste. Der hellblau gekachelte Raum riecht noch nach ihrem Parfüm. Durch sie und ihre Leidenschaft für mich, fühle ich mich wenigstens noch lebendig.

    Unser Stöhnen ist längst verhallt. Zufrieden wasche ich mir ihren Duft ab, reibe meine Finger mit der billigen Schulseife, bis sie ganz rot sind, und hebe danach eher unbeabsichtigt den Kopf zu dem in der Mitte gesprungenen Spiegel empor. Im durch das dreckige Fenster fallenden grauen Tageslicht erkenne ich eine trostlose Gestalt. Mein helles Haar und die braunen Augen haben ihren Glanz verloren, meine Wangen sind eingefallen. Wenn ich lang genug auf die reflektierende Fläche vor mir blicke, sehe ich den Schädel eines Skeletts, dessen blanke Knochen von einer wächsern wirkenden Haut überzogen sind, die sich hinter den Ohren bereits abzulösen beginnt. Ich bin von einem einst recht attraktiven Mann zu einer todkranken hässlichen Kreatur geworden – zumindest meiner Einschätzung nach. Mit Mitte 30 sehe ich schon beinahe so abgefuckt aus wie Dad, den die Sucht ausgeleiert hat, bis nur noch eine blutleere Hülle mit bläulich-grauer Haut übrig geblieben ist. In seinem teilnahmslosen Gesicht befinden sich zwei schwarze, tiefe seelenlose Löcher inmitten rot geränderter Augäpfel, eine Nase mit vom Koks halbzerfressener Scheidewand und ein zahnloser Mund, in dem eine bräunlich verfärbte, pelzige Zunge unablässig von einer Seite zur anderen rollt.

    Ich wende mich angeekelt ab und beschließe, keinen einzigen Gedanken mehr an mein und auch sein Aussehen zu verschwenden.

    Heute sollte mein letzter Tag als Lehrer an dieser Schule sein. Einer Schule, die vorwiegend von sozial benachteiligten oder lernschwachen Kindern und Jugendlichen besucht wird. Vicky ist hingegen nur dämlich. Sie hat einen reifen Körper für eine 17-Jährige, jedoch nicht genug Grips, um ihn gewinnbringend einzusetzen. Stattdessen bot sie ihn seit jeher exklusiv mir an. Nun habe ich mir endlich genommen, was sie mir mit ihrem Verhalten versprochen hat – weil ich mittlerweile missratener bin, als der Sohn einer Zehndollarnutte, und unberechenbarer, als ein geprügelter Straßenköter. Um Noten konnte es ihr nicht mehr gehen, Geld spielte ebenfalls keine Rolle. Ist sie womöglich verliebt in mich? Nun, ich muss nicht alles hinterfragen. Es ist mir eigentlich auch egal.

    Heiser lache ich auf, als mir bewusst wird, dass ich ab sofort arbeitslos bin … vermutlich kann ich aber ohnehin nie wieder einen Beruf ausüben bei dem desolaten Zustand, in dem ich mich befinde. Wer würde mich außerdem einstellen wollen? Einen ungesund aussehenden, abgemagerten Mathematiklehrer, der keinen Satz ohne mitschwingendem Sarkasmus zustande bringt und dem die Desillusion aus jeder Pore quillt? Nein, seien wir ehrlich … ich bin wie ausgemustertes Inventar: Zum Wegwerfen zu schade wird es in eine Ecke gestellt und dort vergessen.

    Einzig Jason steht mir bei – allerdings auch nur deshalb, weil er mir noch einige Aufgaben übertragen will, bevor ich abkratze. Schließlich habe ich nichts mehr zu verlieren. Der erste Punkt auf seiner Liste lautete: Elvira beseitigen, »denn du bist so viel klüger als ich, dich werden sie nicht erwischen. Und falls doch …« Der Rest blieb unausgesprochen, doch er meinte, dass ich die paar Monate bis zu meinem Tod auch im Gefängnis verbringen könnte, wohingegen er noch sein ganzes Leben vor sich hätte.

    Ich habe nicht gefragt, warum er von mir verlangte, unsere Großmutter zu töten. Sie war nicht reich und hinterlässt nichts, außer ihrem kleinen Häuschen, das mein Bruder ohne sie jedoch gar nicht finanzieren kann. Vielleicht will er es verkaufen und mit den paar Kröten neu anfangen.

    Was er allerdings nicht ahnen kann: Auch ich habe eine Liste!

    Das Zerstückeln der Leiche war meine Idee. Zuerst schlug ich Elvira von hinten mit dem Spaten bewusstlos, als sie in ihrem Fernsehsessel saß und sich eine dumme Talkshow anschaute. Ich musste mich dann enorm beherrschen, um ihr nicht gleich an Ort und Stelle den Schädel zu spalten. Doch das wäre

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