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Trugbild
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eBook363 Seiten4 Stunden

Trugbild

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Über dieses E-Book

Der Basler Einbrecher Raab will bloss seine Ruhe haben. Doch Nora, die Tochter seiner ehemaligen Partnerin Jo, holt ihn aus seinem selbst gewählten Exil. Verzweifelt bittet sie Raab um Hilfe: Jo wurde entlassen, ist verschwunden und hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Raab glaubt nicht an einen Selbstmord. Schnell stösst er auf rätselhafte Hinweise und eine Spur, die in die Kunstwelt führt. Je tiefer Raab gräbt, desto mehr schmutzige Geheimnisse kommen ans Licht. Und das schreckt skrupellose Gegner auf.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Mai 2024
ISBN9783724527411
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    Buchvorschau

    Trugbild - Rolf von Siebenthal

    1

    Schulterlange hellblonde Haare schimmerten am Waldrand in der Abenddämmerung über einem blauen Pullover und schwarzen Hosen.

    Spinne ich jetzt?

    Raab blinzelte und guckte erneut hin. Tatsächlich! Am Ende der Lichtung, knapp hundert Meter von seinem Küchenfenster entfernt, umklammerte eine Frau mit beiden Händen einen Rucksack vor der Brust und sah sich um. Raab griff nach dem Feldstecher auf dem Geschirrschrank und hielt ihn vor seine Augen. «Shit!»

    Er legte das Fernglas auf das Abtropfgestell neben dem Spülbecken, eilte durch Wohnzimmer und Entrée hinaus in den verwilderten Vorgarten bis zur Eiche neben der Hausecke und legte beide Hände wie einen Trichter um den Mund. «Nora!», rief er und winkte mit den Armen. Wie hatte sie ihn nur aufgespürt?

    Sie grüsste kurz mit einer Hand, blieb jedoch stehen. Mehrfach drehte sie ihren Kopf in Richtung der Kühe, die am unteren Ende der abschüssigen Lichtung grasten. Das Gebimmel ihrer Glocken drang herauf.

    Typisch Stadtkind.

    Raab überstieg das Seil, das ihm als provisorischer Zaun diente, und ging über das Gras auf Nora zu. So introvertiert wie sie war, kam sie doch nie im Leben einfach so zu ihm herauf. Irgendeine Katastrophe musste es gegeben haben. Mit jedem Schritt wuchs seine Besorgnis. Die Neunzehnjährige war die Tochter seiner ehemaligen Partnerin Josefine Lerch. Nora mied den Kontakt zu Menschen, die meiste Zeit verschanzte sie sich in ihrem Zimmer hinter dem Computer.

    Jetzt setzte sie sich vor den Bäumen doch in Bewegung und kam ihm entgegen, kontrollierte aber immer wieder den Abstand zur Kuhherde. Müde sah Nora aus, sie hatte Tannennadeln in den Haaren und Schmutzflecken auf den Kleidern, die Wangen über den hohen Knochen waren zerkratzt.

    «Hey», sagte Raab betont sanft.

    «Hallo, Raab.»

    Er zögerte kurz, doch dann breitete er seine Arme aus, machte noch einen Schritt und legte sie um Noras zierlichen Körper. Vor zwei Jahren hatte Raab die junge Frau nach einer Entführung befreien können, seither pflegten sie einen regelmässigen Austausch per Chat und Mail. Nach einem kurzen Moment löste er sich von ihr. «Wo kommst du denn her?» Noras Mutter Jo war der einzige Mensch, den er jemals hergebracht hatte.

    «Mami hat mir mal erzählt von deinem Haus irgendwo in den Bergen bei Lauwil. Also habe ich mir Karten und Bilder von Google Earth ausgedruckt. Seit gestern laufe ich von einem Gebäude zum nächsten. Ich musste dich unbedingt finden.»

    Das passte zu ihr. Nora hatte einige Recherchen für Raab erledigt. Zwar kannte er sich durchaus mit Computern und Datenbanken aus, doch Noras Fähigkeiten überstiegen seine deutlich. «Aber wieso hast du mich denn nicht …?» Er brach ab, die Frage konnte er sich sparen. Seit drei oder vier Tagen hatte er weder das Handy noch den Computer eingeschaltet. «Komm ins Haus, bestimmt hast du Hunger.»

    «Du siehst anders aus.» Sie rührte sich nicht, beäugte mit ihren katzenartigen grünblauen Augen stattdessen sein Gesicht und den kleinen Bauch, der sich unter seinem Hemd abzeichnete.

    Er fuhr sich mit der Hand über den dichten Bart. «Ich weiss, ich sollte mich rasieren … und trainiert habe ich schon eine Weile nicht mehr. Komm.»

    Raab schritt voran, wies mit dem Daumen auf die Kühe unten auf der Lichtung. «Die sind ganz harmlos.»

    «Gehören sie dir?»

    «Nein, meinem Nachbarn. Der Bauer mäht hier zweimal pro Jahr das Gras und danach leisten mir seine Kühe Gesellschaft.»

    «Und dort wohnst du?» Mit dem Arm wies sie auf das Haus, ein altes, verlottertes Gebäude. Risse überzogen die Mauern, Unkraut wucherte darum herum.

    «Keine Sorge, drinnen ist es gemütlich.» Die Bruchbude auf dem abgelegenen Stück Land oberhalb von Lauwil im Baselbiet hatte Raab vor Jahren über eine Treuhandfirma gekauft, damit sein Name nirgends in den Papieren auftauchte. Bei der Renovation hatte er sich grosse Mühe gegeben, das heruntergekommene Äussere zu bewahren.

    Im Entrée stellte Nora den Rucksack auf die Fliesen und streifte die Turnschuhe ab. In Socken trat sie im Wohnzimmer auf den beigen Schurwollteppich. Ihr Blick streifte das Regal aus Kirschbaumholz, die Tablare mit den südamerikanischen Pfeilspitzen, den römischen Münzen, den mittelalterlichen Türschlössern. Sie umkreiste die Bücherstapel auf dem polierten Eichenboden, stellte sich hinter den Ledersessel und legte beide Hände auf die Lehne. «Mami ist verschwunden.» Tränen füllten ihre Augen. «Seit vier Tagen habe ich nichts von ihr gehört.»

    Raab bekam Gänsehaut. Das täte Jo niemals. Nicht freiwillig. Für einen kurzen Moment sortierte er verschiedene Möglichkeiten: Jo hatte eine Auszeit gebraucht, hatte einen neuen Mann kennengelernt, hatte kurzfristig auf Geschäftsreise gehen müssen, weil … Er verwarf alles gleich wieder. Nicht nur lebten Jo und Nora zusammen in einer Wohnung, sie hatten auch eine sehr enge Mutter-Tochter-Beziehung. Es gab kein plausibles Szenario, bei dem Jo einfach abtauchen würde. «Warst du bei der Polizei?»

    «Ja. Sie sagen, sie können nicht viel tun.»

    «Bei Erwachsenen sind sie zurückhaltend. Bei Kindern würden sie sofort eine Suchaktion starten.»

    Mit kreidebleicher Miene nickte Nora, ihre Fingernägel gruben sich in das Leder der Sessellehne, an der sie stand. «Und wegen der Mail …»

    «Was für eine Mail?» Eines Entführers, eines Erpressers? Aber dann würde die Polizei doch etwas unternehmen.

    «Mami hat sie geschrieben.»

    Wie bitte? «Zeig sie mir.»

    Nora holte den Rucksack aus dem Entrée, zog ihren Laptop heraus und stellte ihn auf den Couchtisch. Sie setzte sich im Schneidersitz davor. Nach ein paar Klicks schaute sie hoch. «Sie kommt von einer speziellen Website. Dort können Menschen Nachrichten für Angehörige hinterlegen.» Nora schluckte, Tränen liefen über ihre Wangen. «Verschickt werden die Mails erst nach ihrem Tod.»

    Das passte überhaupt nicht zu Jo. «Wer benutzt so etwas?»

    Nora hob die schmalen Schultern. «Leute, die ihrer Familie noch etwas mitteilen wollen. Vielleicht, weil sie sich im Leben nie getraut haben …» Ihre Unterlippe zitterte.

    «Und so eine Nachricht soll deine Mutter geschrieben haben?» Raab zog den Ledersessel heran und setzte sich neben Nora. «Lass sehen.»

    Sie drehte den Bildschirm in seine Richtung. Die Mail war am Samstag, dem 9. September, verschickt worden, vor drei Tagen.

    Liebe Nora

    Wenn du diese Mail liest, bin ich nicht mehr am Leben. Es tut mir schrecklich leid! Ich kann nicht ermessen, wie schlimm diese Nachricht für dich sein muss. Bitte verzeih mir den Kummer, den ich dir bereite.

    Es fiel mir nicht immer leicht, eine gute Mutter zu sein. Ich habe zu viel gearbeitet, hätte mir mehr Zeit für dich nehmen sollen. Manchmal regte ich mich über Kleinigkeiten auf, an manchen Tagen hatte ich kein gutes Wort für dich. Es gibt so vieles, das ich bereue. Bitte vergib mir.

    Ich habe Vorkehrungen für dich getroffen. Es ist genug Geld vorhanden, damit du ein paar Jahre lang sorgenfrei leben kannst. Du kannst studieren, eine Ausbildung oder Weltreise machen – was immer dir Spass macht. Geh zu Andreas, dem Anwalt, er hat alle Unterlagen und wird dich unterstützen. Und natürlich ist auch Papi für dich da.

    Ich weiss, dass du deinen Weg gehen und zu einer wunderbaren Frau heranwachsen wirst. Es tut mir unendlich leid, dass ich dich nicht dabei begleiten kann. Du bist der Fixstern in meinem Leben. Mein Stolz und meine Liebe werden dich über den Tod hinaus begleiten.

    Ich liebe dich so sehr.

    Mami

    Stumm starrte Raab auf den Bildschirm. Vor seinem inneren Auge sah er die lebenslustige Jo mit den silbergrauen Haaren, den vielen Sommersprossen, der leicht schiefen Nase und dem grossen Mund. Doch es waren ihre hellwachen, dunkelbraunen Augen gewesen, die ihn von Beginn weg in den Bann gezogen hatten. Vor zehn Monaten hatte er Jo zum letzten Mal gesehen und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht an sie dachte. «Hast du diese Mail der Polizei gezeigt?»

    «Ja, klar.» Nora schniefte und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg.

    Die Schugger mussten von einem Selbstmord ausgehen, deshalb unternahmen sie nichts. Doch Raab kannte Jo besser, nie würde sie sich auf diese Art davonschleichen. Er legte Nora eine Hand auf die Schulter. «Das ist kompletter Bullshit!»

    2

    In Windeseile hatte Nora den ersten Teller und danach auch fast die ganze zweite Portion verdrückt. Sie ass wie ihre Mutter: Gabel um Gabel schaufelte sie Bratkartoffeln und Spiegelei in den Mund, zwischendurch spiesste sie ein paar Bohnen auf. Nach einer Dusche hatten Noras Wangen Farbe angenommen, in seinem blauen Trainingsanzug sass sie am Küchentisch und schien wie verwandelt, seit Raab die Mail als Fälschung bezeichnet hatte. Beim Essen hatte sie ausführlich von ihrer Wanderung von Hof zu Hof erzählt, in der vergangenen Stunde hatte sie mehr geredet als in den ganzen zwei Jahren zuvor. Schliesslich lehnte sie sich im Stuhl zurück. «Ich platze gleich.»

    «Sehr gut.» Raab sass ihr gegenüber am Tisch, nippte an einem Tee. «Jetzt müssen wir nochmals über diese Mail reden.»

    «Klar.» Sie schob die Ärmel der viel zu grossen Adidas-Jacke über die Ellenbogen hoch.

    «Du sagst, die Website ist für Menschen, die Nachrichten nach ihrem Tod verschicken wollen. Wie funktioniert das?»

    «Man hinterlegt seine Angaben, zahlt einen Beitrag und fertig. Danach bekommt der Urheber in regelmässigen Abständen eine Mail von der Website. Wenn man innert einer selbst festgelegten Frist darauf antwortet, geschieht nichts. Tut man es nicht, wird die hinterlegte Botschaft an die Angehörigen verschickt.»

    «Also muss nicht unbedingt Jo diese Nachricht geschrieben haben.»

    Nora nagte an ihrer Unterlippe. «Nein.»

    «Wer ist dieser Anwalt, Andreas?»

    «Andreas Hofer, ein Schulfreund von Mami.»

    «Warst du bei ihm?»

    Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. «Ich will nicht … Sobald Andy weiss, dass Mami weg ist, wird er Papi anrufen. Der steht bestimmt am nächsten Tag vor der Tür und will mir sagen, was ich tun muss. Darauf kann ich verzichten.»

    Noras Vater war ein Kollege von Jo bei der Basler Zeitung gewesen, der vor Jahren einen Job bei der Süddeutschen Zeitung ergattert hatte. Nora und Jo waren vorerst in Basel geblieben und hätten ihm nach ein paar Monaten folgen sollen. Doch in der Zwischenzeit hatte er sich in eine Fotografin der deutschen Zeitung verliebt.

    «Du bist volljährig», sagte Raab.

    «Papi wird wollen, dass ich zu ihm nach München ziehe und ewig nerven.»

    «Du hast also nicht mit ihm geredet.»

    «Nein.»

    «Das solltest du aber. Er ist dein Vater und sollte Bescheid wissen.»

    Sie zuckte mit den Schultern.

    Er konnte nachvollziehen, dass sie darauf keine Lust hatte. Er stand auf, griff nach Noras Teller und stellte ihn in das Spülbecken.

    Auf dem Stuhl drehte Nora sich ihm zu. «Wer auch immer diese Mail geschrieben hat, weiss einiges über Mami.»

    «Gab es denn irgendetwas Auffälliges in ihrem Leben in der letzten Zeit? Hatte sie Streit mit jemandem? Oder sorgte ein Artikel für Ärger?» Jo konnte knallhart recherchieren und schreiben.

    Nora starrte ihn mit grossen Augen an. «Verfolgst du denn gar keine Nachrichten mehr?»

    Bei der Explosion einer Tankstelle war Raab im vergangenen November schwer verletzt worden. Er hatte Abstand von der Welt gebraucht und seither wie ein Eremit in den Jurahügeln gelebt. «Habe ich etwas Wichtiges verpasst?»

    «Mami arbeitet gar nicht mehr für die Zeitung. Sie ist entlassen worden.»

    Er starrte sie an. «Wann?»

    «Am Donnerstag sind es drei Wochen.»

    Die Vorstellung, dass eine topseriöse und erfolgreiche Journalistin wie Jo von der Basler Zeitung gefeuert worden sein könnte, fand Raab absurd. «Weshalb?»

    «Es gab einen grossen Skandal wegen eines Artikels.»

    Shit! Und er hatte nichts davon mitbekommen. «Wieso hast du mir denn nichts davon geschrieben?»

    «Weil ich dachte, dass du das weisst. Allerdings habe ich mich schon etwas gewundert, dass du nie nachgefragt hast.»

    Er hatte sich zu sehr abgeschottet. «Worum ging es in dem Artikel?»

    «Ich zeige ihn dir.»

    Nora holte ihren Laptop aus dem Wohnzimmer, stellte ihn auf den Küchentisch vor Raab und rief die Website der BaZ auf. Nach ein paar Klicks durch das Archiv hatte sie eine Frontseite als PDF auf dem Bildschirm. Sie stammte vom 5. August. Sie vergrösserte einen Artikel und richtete sich auf. «Das ist die Kurzversion.»

    Basler Regierungsrat unter Bestechungsverdacht.

    Das Foto unter dem Titel zeigte Regierungsrat Daniel Kaiser, der im schicken Anzug das Bau- und Verkehrsdepartement am Münsterplatz verliess.

    Der Basler Baudirektor Daniel Kaiser traf sich im März und April dieses Jahres mindestens drei Mal mit einer exklusiven Escortdame in einem Fünfsternehotel am Titisee im Schwarzwald. Dies bestätigt die 25-jährige Larissa M., die für den Zürcher Callgirlservice City Girls arbeitet. Kunden bezahlen für ihre Dienste bis zu 2200 Franken pro Nacht. Doch die Rechnung beglich nicht der verheiratete Basler Baudirektor. Aus zuverlässiger Quelle hat diese Zeitung erfahren, dass ein Zürcher Architekturbüro dafür aufkam. Es hatte den Wettbewerb um den Neubau des Basler Staatsarchivs gewonnen. Das Kostendach für das Projekt beläuft sich auf 190 Millionen Franken.

    Bericht Seite 35.

    Kaiser, ausgerechnet! Der Korrupteste von allen. Bei einem Einbruch ins Privathaus des Basler Politikers hatte Raab vor zwei Jahren dessen Tresor leer geräumt. Kaiser wusste das und hatte Rache geschworen. Weil Raab darin aber gestohlene Kunstobjekte gefunden und alles mit Fotos dokumentiert hatte, waren Kaiser die Hände gebunden. Dass der Regierungsrat regelmässigen Umgang mit Prostituierten pflegte, wusste Raab. «Was stimmt nicht mit Jos Artikel?»

    «Die Leute behaupten: alles.» Nora verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Geschirrspüler. «Drei Tage nach der Veröffentlichung hat diese Larissa im Blick behauptet, dass alles erfunden sei. Für die Lügengeschichte habe Mami ihr fünftausend Franken bezahlt. Medien in der ganzen Schweiz haben sich wie Geier daraufgestürzt, Mami wurde online und am Telefon beschimpft, die Zeitung musste sich schliesslich entschuldigen. Und dann haben sie Mami rausgeworfen.»

    «Wow.» Es fühlte sich an wie ein Faustschlag in die Magengrube. Jo war eine Vollblutjournalistin, der Beruf bedeutete ihr die Welt. Nach dem Rausschmiss musste sie verzweifelt gewesen sein. Womöglich hatte sie tatsächlich nur noch einen Ausweg gesehen … Nein, nicht Jo! Raab rief sich ihre Lebenslust in Erinnerung und ihre unendliche Liebe für Nora. Klar wäre sie am Boden gewesen. Aber nie im Leben hätte sie sich deswegen umgebracht. Ausserdem hätte sie sich bestimmt abgesichert bei ihrer Recherche, sie war doch keine Anfängerin. Also würde sie nachforschen und zum Gegenangriff übergehen. So tickte Jo. Raab deutete auf den Monitor. «Kennst du den Hintergrund der Story? Woher hatte sie den Tipp?»

    «Sie wollte nicht mit mir darüber reden.»

    «Hat es sie sehr mitgenommen?»

    «Es war schlimm.» Nora hob den Kopf und blickte ihm in die Augen. «Du weisst, wie wichtig Mami der Job war. Aber sie lag nicht einfach tagelang im Bett und heulte. Sie machte viele Spaziergänge. Und dann, vor etwa zehn Tagen, raffte sie sich wieder auf, sass stundenlang am Computer und telefonierte viel.»

    «Sie wollte herausfinden, wer sie hereingelegt hatte.»

    «Denke ich auch. Mami gibt nicht auf. Aber ich hätte sie besser unterstützen müssen. Nicht bloss einkaufen gehen, kochen, putzen und so. Stattdessen war ich einfach nur froh, dass es ihr wieder besser ging. Jetzt mache ich mir grosse Vorwürfe deswegen.»

    «Bestimmt hätte sie mit dir geredet, wenn sie deine Hilfe gebraucht hätte. Doch vermutlich war sie noch nicht so weit.»

    Nora senkte den Kopf und spannte die Kiefermuskeln an. «Denkst du, dass jemand Mami entführt hat?»

    «Davon gehen wir erst einmal aus.» Oder jemand hatte ihr Schlimmeres angetan. «Wir machen uns jetzt an die Arbeit. Weisst du etwas über dieses Callgirl, diese Larissa? Das ist bestimmt nicht ihr richtiger Name.»

    «Nein.»

    «Der erste Job für dich. Im Recherchieren bist du spitze. Find heraus, wie sie heisst, wo Larissa wohnt. Einfach alles über sie. Danach werde ich mich mal mit der Dame unterhalten.»

    «Okay.» Nora setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch, straffte die Schultern und zog den Laptop zu sich her.

    «Wir müssen kontrollieren, ob es Abhebungen vom Bankkonto deiner Mutter gab. Hast du Zugang dazu?»

    Sie spitzte die Lippen. «Vielleicht. Mamis Laptop liegt noch zu Hause und sie verwendet fast immer das gleiche Passwort.»

    «Okay, besorg die Bankauszüge. Wie sieht es mit dem Handy aus? Hat sie immer noch ein Swisscom-Abo?»

    Nora nickte.

    «Falls du in das Konto kommst, dann lad die Anrufliste der letzten dreissig Tage herunter.» Raab überlegte einen Moment. «Nein, mach drei Monate daraus. Hat sie immer noch das iPhone? Hast du versucht, es zu orten?»

    «Ja, aber bei Apple verwendet sie ein anderes Passwort. Das kenne ich nicht. Die Polizei hat nachgeforscht. Ein Herr Meier vom Polizeiposten im Gundeli kam vorgestern kurz bei mir zu Hause vorbei und sagte, dass Mamis Handy am Freitagnachmittag das letzte Signal aus dem Schützenmattpark gesendet habe.»

    Also hatte es Jo oder sonst jemand dort ausgeschaltet. «Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?»

    «Am Freitag, beim Mittagessen. So um halb zwei sagte Mami, dass sie noch ein paar Besorgungen mache in der Stadt. Sie nahm den Regenschirm und die Einkaufstasche mit, schien ganz normal.»

    «Was wollte sie auf der Schützenmatte?»

    Nora hob die Schultern.

    «Hat dieser Meier gesagt, was die Polizei unternimmt?»

    «Sie würden weiter nach Mami suchen. Aber ich glaube, das sind nur leere Worte.»

    «Wie kommst du darauf?»

    «Er war sehr höflich. Aber er hat einen Flyer auf dem Esstisch liegen lassen. Von einem Verein für Angehörige von Suizidopfern. Für ihn scheint es kein richtiger Fall zu sein.»

    «Ich werde mal mit ihm reden.» Obwohl es als goldene Regel in seinem Gewerbe galt, jeden Kontakt zur Polizei zu meiden. «Wie ging es Jo in den letzten Monaten? Hatte sie irgendwelche Probleme über den Job hinaus?»

    Nora faltete die Hände und senkte den Blick. «Nach eurer Trennung ging es Mami nicht gut. Vermutlich arbeitete sie deswegen so viel in der Redaktion. Aber ich glaube nicht, dass sie mit sonst etwas oder jemandem Schwierigkeiten hatte. Sonst hätte sie es mir erzählt.» Sie verschränkte die Arme und gab ein kurzes, verzweifeltes Schluchzen von sich. Wieder liefen Nora Tränen über das Gesicht. «Bitte hilf mir, sie zu finden. Bitte bring Mami zurück zu mir.»

    Raab stand vom Stuhl auf und kniete sich neben sie. Er legte seinen Arm um Nora. «Wir werden das gemeinsam durchziehen, du und ich. Wir sind ein super Team. Und wir werden Jo finden.»

    Das war er Jo schuldig.

    3

    Raab erwachte mit einem Ruck. Einen Moment lang lag er verwirrt im Bett, die Hände schweissnass, sein Herz raste. Doch dann tauchten aus den Schatten des Schlafzimmers vertraute Möbel auf. Und als er draussen die Kuhglocken bimmeln hörte, beruhigte sich sein Puls.

    Mit den Fingern fuhr er sich über den Schädel. Der Verband war schon seit Monaten weg, aber unter den kurzen Haaren konnte er die Narbe fühlen: dicke Knoten aus hartem Fleisch. Es war das markanteste Überbleibsel vom Angriff bei der Tankstelle in Reigoldswil, als ein Mafiaarschloch ihn hatte umbringen wollen. Neben einer Hirnprellung und einem Schädelriss hatte Raab Rippenbrüche, Verbrennungen und kleinere Schnittwunden davongetragen. Die körperlichen Schmerzen waren mittlerweile fast verheilt, auch wenn ihn ab und zu üble Kopfschmerzen plagten. Schlimmer war, dass er in regelmässigen Abständen in Albträumen wieder durchlebte, wie er inmitten von Feuer und Rauch in einem zerbeulten Auto gefangen gewesen war.

    Raab griff nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch. 4.10 Uhr. Er starrte gegen die Holzbalken unter der Zimmerdecke und fragte sich, ob es bloss Wunschdenken war, dass er Jo keinen Selbstmord zutraute. Weil er nicht über die Trennung von ihr hinweggekommen war. Im vergangenen November hatten sie sich … Nein, nicht getrennt. Jo hatte ihn abserviert. Obwohl sie ihn liebte, wie sie ihm damals in ihrer Küche versichert hatte. Jo war nicht mehr klargekommen damit, dass er von Einbrüchen lebte und mit der Tatsache, dass er eben kein Spiesserleben mit Pensionskasse und Sonntagsbrunch führen wollte. Danach hätte er es sich einfach machen und ihr die ganze Schuld an der Trennung zuschieben können. Hätte Schwamm drüber, die Nächste sagen können – wie früher auch.

    Doch das wäre eine Lüge gewesen. Sein Job hatte auch Jo in Gefahr gebracht: Denn die Mafiaidioten hatten im vergangenen November nicht nur ihn, sondern auch sie als seine Freundin attackiert. Weil sie ihn nicht in die Finger bekommen hatten. Nicht zuletzt aus Sorge um Noras Sicherheit hatte Jo Schluss gemacht. Das konnte er ihr nicht mal verübeln.

    Raab schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Durch das Fenster konnte er Sterne am Himmel sehen in dieser klaren, kalten Septembernacht. Er zog Jeans und ein Sweatshirt über. Ob Nora noch wach war? Bis gegen zwei Uhr hatte er sie im Büro nebenan herumtapsen hören. Er trat hinaus in den Flur. Die Bürotür stand einen Spalt offen, doch drinnen brannte kein Licht. Er schob seinen Kopf hindurch. Nora lag in seinem Schlafsack auf der Isomatte, ein Teil seiner Ausrüstung für Nachteinsätze. Sie atmete lang und tief. Leise schloss er die Tür.

    Im Wohnzimmer machte Raab Licht, zerknüllte Zeitungspapier, legte es in den Kaminofen, stapelte dünne Holzscheite darauf und entfachte ein Feuer.

    In der Küche füllte er ein Glas mit kalter Milch und gab zwei Löffel Ovomaltine dazu – das Frühstück seiner Kindheit. In der Fensterscheibe betrachtete er sein Spiegelbild. Früher hatte Raab oft zu hören bekommen, dass er mit den kühlen blauen Augen, den kohlrabenschwarzen Haaren, dem markanten Kinn, der schmalen Nase und dem bräunlichen Teint jünger aussehe als seine vierundfünfzig Jahre. Es mochte auch daran gelegen haben, dass er seinen Körper mit regelmässigem Training gut in Schuss gehalten hatte. Doch in den vergangenen Monaten hatte er sich gehen lassen.

    Damit muss jetzt Schluss sein.

    Mit dem Glas in der Hand setzte er sich in den Sessel vor dem Ofen, in dem das Holz knisterte. Um ihn herum auf dem Eichenparkett stapelten sich Bücher, die er in den letzten Monaten gelesen hatte: Biografien über Bundesrat Emil Frey und B. B. King, die Trilogie von Hilary Mantel über Thomas Cromwell, historische Bände über Pharaonen, Troja und das alte Rom. Er hatte es genossen, einfach in den Tag hineinzuleben – für eine Weile zumindest. Doch je länger seine Auszeit gedauert hatte, desto mehr hatte Raab sich Gedanken über seine Zukunft gemacht. Es waren nicht nur die Verletzungen, die ihn plagten; er war nun mal kein gelenkiger und flinker Jungspund mehr.

    Er trank einen Schluck Ovo, beobachtete die Flammen, lauschte dem Knistern.

    Fast noch beängstigender fand Raab die Tatsache, dass er gar keine Lust hatte, neue Projekte auszubrüten und in die Tat umzusetzen. Falls er derart unmotiviert an die Arbeit ginge, würde er früher oder später erwischt. Garantiert! Zwar hatte er knapp vierhunderttausend Franken in verschiedenen Schliessfächern gebunkert, damit käme er lange Zeit ohne Einbrüche über die Runden. Doch er wollte nicht für den Rest seines Lebens Biografien lesen.

    Er griff nach dem Handy auf dem Beistelltisch und schaltete es ein. Um zwanzig nach zwei hatte ihm Nora eine Nachricht geschickt:

    Ich habe die Datenbank von City Girls mit SQL-Injection knacken können. Ganz schön gruselig, diese Website. Und mieser Datenschutz. Larissa heisst Olivia Messerli. Sie wohnt an der Erlinsbacherstrasse in Aarau.

    Raab schmunzelte. Er hatte keine Ahnung, was SQL-Injection bedeutete, doch nur das Ergebnis zählte. Zwar hatte er Jo einst zugesichert, dass er Nora nie um illegale Recherchen bäte. Doch jetzt hatten sich die Prioritäten verschoben.

    Am Tisch neben dem Kamin fuhr er seinen Computer hoch. Die Website von City Girls verfügte über ein sorgfältig gestaltetes Design mit professionellen Fotos. Rund dreissig Frauen boten ihre Dienste an, sie waren zwischen zwanzig und Mitte dreissig Jahre alt, trugen elegante Kleider. Sie nannten sich Sofia, Mabelle, Amira oder Stella und waren im Hauptberuf angeblich als Studentin, Immobilienmaklerin, Architektin oder Krankenschwester unterwegs. Laut der Eigenwerbung von City Girls betrachteten sie den Job als kleines erotisches Abenteuer, das sie neben ihrem Studium oder Beruf ausüben.

    So ein Scheiss!

    Raab klickte auf das Foto von Larissa alias Olivia Messerli. Er gelangte zur Bildergalerie der jungen Frau mit geraden schwarzen Haaren, die bis über ihre Schultern reichten. Sie hatte zart gewölbte Augenbrauen, eine kleine Nase, schön geschwungene Lippen. Photoshop konnte zwar einiges kaschieren, doch Olivia war zweifellos eine gut aussehende Frau. Sie posierte im Abendkleid, im teuren Spitzenbustier und im Tanga in

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