Träne des Todes
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Über dieses E-Book
Als ein weiterer Mordfall die Londoner Gesellschaft erschüttert, bleibt keine Zeit für Trauer, denn die ersten Spuren deuten auf eine Verbindung zu den Tragödien in Lewis' Leben.
Londons brillantester Detektiv muss auf die Hilfe seiner Freunde bauen, wenn er die Schuldigen zur Strecke bringen möchte. Viel Zeit bleibt Lewis nicht, wenn er verhindern will, dass ganz London im Chaos versinkt.
Dabei stellt sich mit jedem Schritt das Gefühl ein, dass sie alle bloß Schachfiguren sind, die sorgsam in Position gebracht werden.
Wie lange, bis ihr Gegner seinen Zug macht?
Und für wen heißt es am Ende »Schachmatt«?
Hinweis: Träne des Todes setzt die Ereignisse aus Band 2 Maske des Mondes fort und sollte im Anschluss gelesen werden.
Stephan R. Bellem
Stephan R. Bellem hat schon früh die Liebe zum geschriebenen Wort entdeckt. Sein erstes Wort war Füller und sein zweites Papier. Er lebt in einem hohen Turm, aus dem er sporadisch durch einen halb durchsichtigen Vorhang auf die Welt hinabblickt und über die Irrungen der Menschen sinniert. Er … Was für ein gestelzter Unsinn! Okay, ich schreibe wahnsinnig gern. Habe mir schon immer gerne Geschichten ausgedacht. 1981 geboren, verbrachte ich meine Kindheit mit Lego, Nintendo und frischer Luft. Witzigerweise habe ich erst als Teenager viel gelesen, aber dann nicht mehr aufgehört. Ich teile – wie man aus der Danksagung weiß – mein Leben mit einer wundervollen Frau, wundervollen Freunden und einer ebenso tollen Familie. Ich liebe Comicverfilmungen, den Herrn der Ringe und so ziemlich alles geekige da draußen. Und ich lasse mich da auch von niemandem beirren. In meiner Freizeit koche ich gerne, verbringe Zeit mit oben genannten wundervollen Menschen, gehe mit der Kamera auf Fotojagd und sammle Ideen für die nächste Geschichte. Kurz, ich kann mich sehr glücklich schätzen. Und dafür bin ich jeden Tag dankbar. Dass ich das tun darf, was ich am meisten liebe.
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Buchvorschau
Träne des Todes - Stephan R. Bellem
TRÄNE DES TODES
DIE FÄLLE DES LEWIS VAN ALLINGTON
BUCH DREI
STEPHAN R. BELLEM
Drachenmond VerlagCopyright © 2024 by
Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
http: www.drachenmond.de
E-Mail: info@drachenmond.de
Lektorat: Nina Bellem
Korrektorat: Lillith Korn
Layout Ebook: Stephan R. Bellem
Umschlagdesign: Alexander Kopainski
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-917-3
Alle Rechte vorbehalten
Hinweis:
Träne des Todes setzt die Ereignisse aus
Band 2 Maske des Mondes fort
und sollte im Anschluss gelesen werden.
INHALT
Montag, 14. Oktober 1895
21:22 Uhr
Dienstag, 15. Oktober 1895
02:53 Uhr
Dienstag, 15. Oktober 1895
11:36 Uhr
Dienstag, 15. Oktober 1895
17:41 Uhr
Dienstag, 15. Oktober 1895
20:05 Uhr
Mittwoch, 16. Oktober 1895
00:17 Uhr
Mittwoch, 16. Oktober 1895
10:32 Uhr
Mittwoch, 16. Oktober 1895
11:59 Uhr
Mittwoch, 16. Oktober 1895
15:37 Uhr
Donnerstag, 17. Oktober 1895
14:07 Uhr
Donnerstag, 17. Oktober 1895
21:48 Uhr
Freitag, 18. Oktober 1895
09:51 Uhr
Freitag, 18. Oktober 1895
12:22 Uhr
Freitag, 18. Oktober 1895
21:56 Uhr
. . . irgendwann zuvor
Samstag, 19. Oktober 1895
00:37 Uhr
Samstag, 19. Oktober 1895
09:22 Uhr
Samstag, 19. Oktober 1895
19:03 Uhr
Samstag, 19. Oktober 1895
21:41 Uhr
Samstag, 19. Oktober 1895
00:39 Uhr
Samstag, 19. Oktober 1895
22:03 Uhr
Sonntag, 20. Oktober 1895
15:44 Uhr
Samstag, 19. Oktober 1895
11:47 Uhr
Montag, 23. Dezember 1895
13:09 Uhr
Nachwort und Danksagung
Montag, 23. Dezember 1895
16:36 Uhr
Drachenpost
Für Mama
Bitte verzeih, dass ich so lange gebraucht habe,
zu verstehen, was du alles für uns getan hast.
MONTAG, 14. OKTOBER 1895
21:22 UHR
Als die Feuerwehr auf das Grundstück stürmte, warteten Claire und Inspector Powler bereits vor dem Haus. Lewis suchte hektisch nach Dietrich, doch ein Blick in Claires Gesicht, die in Tränen ausbrach, bestätigte seine schlimmste Befürchtung.
Er drehte sich um und wollte zurück in das brennende Haus rennen, doch Paul hielt ihn zurück. »Du kannst nichts mehr tun, Lewis«, sagte er leise. »Das Feuer ist zu groß. Der Rauch bringt dich um, bevor du ihn findest.«
»Lass mich!« Lewis wehrte sich, schlug um sich und wollte zurück in die Flammen rennen. Dietrich hätte nicht weniger für ihn getan. Zu seinen Füßen saß Chester, steckte den Kopf winselnd zwischen Lewis’ Knie.
Claire kam zu ihnen gelaufen und nahm den Dürrbächler in den Arm. »Alles gut, kleiner Bär. Alles gut.«
Wasserpumpen wurden in Betrieb genommen, doch das Feuer hatte bereits so große Teile des Hauses verschlungen, dass die Löschversuche einem Kampf gegen Windmühlen glichen.
Auch eine Abteilung von Scotland Yard stürmte das Gelände. Allen voran Chief Inspector Miller.
»Meine Herren«, grüßte er sie, wobei er Powler einen strengen Seitenblick zuwarf. »Lord Treville, da Ihr entschieden habt, Euer Haus abzubrennen, darf ich annehmen, dass Ihr die Gastfreundschaft der Londoner Gerichtsbarkeit vorzieht?«
Lewis brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Es fiel ihm unendlich schwer, den Blick von der brennenden Villa zu nehmen, aus Angst, diese letzte Verbindung zu einem seiner besten Freunde zu verlieren. »Ich denke, als unschuldiger Mann kann Lord Treville wohnen, wo immer er möchte.«
»Unschuldig?«
Powler trat neben seinen Vorgesetzten und räusperte sich. »Es gab neue Entwicklungen in dem Fall«, begann er. »Wie sich herausstellte, hat Lord Ashbourne die Morde begangen.«
Millers Augen wurden schmal. »Und wo ist Lord Ashbourne jetzt?«
Lewis deutete auf die brennende Villa. »Hat es vorgezogen, uns nicht mehr zu begleiten.«
»Und das soll ich glauben?« Der Chief Inspector schüttelte den Kopf. »Wie mir scheint, kommt eher noch ein weiterer Mord auf die Liste.« Von der gestrigen Unterwürfigkeit war nicht mehr viel geblieben. Der Chief Inspector war wild entschlossen, heute noch eine Festnahme durchzuführen.
»Es ist die Wahrheit, Sir«, beharrte Powler. »Lord Ashbourne hat uns angegriffen. Wir wären tot, wenn Lord Treville sich nicht heldenhaft dazwischengeworfen hätte. Lord Ashbourne war der Boxer.«
»Und was ist mit dem Kutscher und seinem Sohn?«
Lewis blickte dem Chief Inspector fest in die Augen. Für einen Moment glaubte er, dort etwas zu entdecken, doch der Mann blinzelte, und was immer da gewesen war, hatte sich in Luft aufgelöst. »Sie haben selbst gesagt, dass die beiden Morde ebenfalls auf das Konto des Boxers gehen.«
Chief Inspector Miller knirschte mit den Zähnen. Für einen Augenblick schien er zu überlegen, wie er das Blatt noch wenden konnte, auch wenn Lewis nicht verstand, wohin. Schließlich nickte er und der alte Speichellecker war wieder zurück. »Wunderbar. Lord Treville, Ihr seid unschuldig.«
»Na, wenn Sie das sagen.« Paul starrte mit großen Augen auf seine Villa, die langsam von den Flammen verschluckt wurde. Alles andere schien für ihn keine Bedeutung mehr zu haben.
Lewis stellte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Wir bauen sie wieder auf. London braucht die Trevilla. Und bis dahin wohnst du bei mir.«
Paul zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob ich die Trevilla brauche.« Er sah seinen Freund von der Seite an. »Aber ich würde gern in der Devonshire Street leben.«
Ehe Lewis etwas erwidern konnte, zog Paul ihn in eine feste Umarmung. »Es tut mir leid. Er war ein toller Freund.«
Immer mehr Feuerwehrleute und Freiwillige strömten auf das Grundstück, versuchten mit Eimern voll Wasser, nassen Tüchern und Besen das Feuer zu bekämpfen. Lewis wollte gern glauben, dass Pauls Nachbarn hier waren, um Lord Treville zu helfen.
Er wusste es besser.
Sie wollten lediglich verhindern, dass das Feuer auf die eigenen Häuser übergriff, denn ein Blick auf die Trevilla sagte mehr als deutlich, dass der alte Prachtbau nicht mehr zu retten war.
»Können wir bitte gehen?«, fragte Paul nach einer Weile. »Wenn ich die Leute nicht beim Plündern beobachten muss, kann ich einen Rest Achtung vor ihnen bewahren.«
Claire, Chester und Powler machten bereits den Feuerwehrleuten Platz und gingen langsam Richtung Straße. Aus den Augenwinkeln bemerkte Lewis, dass der junge Inspector einen Arm um Claires Schultern gelegt hatte und sie an sich heranzog. Unter den anderen hatte er eine dunkle Ledermappe geklemmt. Die Fallakten! Powler hat sie noch vor dem Feuer gerettet, schlussfolgerte Lewis.
Er selbst starrte weiterhin auf Pauls Anwesen, das stur den Flammen trotzte, die bereits aus den Fenstern des oberen Stockwerks schlugen. Immer wieder hörte man Fensterglas, das der Hitze nichts mehr entgegensetzen konnte und zerbarst. Ein lautes Krachen – vermutlich ein Dachbalken, den sein eigenes Gewicht zu Fall gebracht hatte. Gerade als Lewis glaubte, der Anblick könne nicht noch schlimmer werden, erschütterte eine laute Explosion das Gemäuer und ließ seine Eingeweide vibrieren.
»Na wunderbar«, sagte Paul mit einem Seufzen. »Mein Hochprozentiger hat das Zeitliche gesegnet, ohne dass ich auch nur den Hauch von Spaß damit gehabt hätte.«
Lewis blickte ihn verwirrt an.
»Mein Schnaps, Lewis. Ich weiß, dieses profane Laster reizt dich nicht mehr, aber manche von uns genießen etwas, das sich Leben nennt.«
»Hältst du das alles für einen Spaß?«
Paul ließ seine Fassade fallen und sein Blick war ein Spiegel von Lewis’ eigenen Gefühlen. »Du weißt, dass ich nicht anders kann. Wenn ich zulasse, dass …« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Können wir bitte gehen? Lass uns dort um liebe Menschen trauern, wo die Erinnerung an sie am stärksten ist.« Sein Blick schweifte suchend umher, bis er sich an eine Person in der Menge heftete. »Am Ende wird noch jemand von brennendem Geröll erschlagen und der gute Chief Inspector gibt mir die Schuld!«
Lewis wollte noch nicht gehen. Er wollte hierbleiben, wollte warten, bis das Gebäude gelöscht wäre – oder komplett verkohlt. Er wollte – nein, er musste ihn dort rausholen, doch mit jedem Augenblick, den er gebannt in die Flammen starrte, wurde eine Stimme in seinem Hinterkopf lauter. Eine Stimme, die ihm befahl, für seine Freunde da zu sein.
Seine lebenden Freunde.
Als hätte Dietrich ihm diese letzte Aufgabe übertragen.
Er bemerkte Pauls Zittern und legte ihm mitfühlend den Arm um die Schulter, was sein Freund mit einem dankbaren Seufzen erwiderte.
Keiner von ihnen ließ den anderen los, ehe sie die Devonshire Street 17 erreicht hatten.
»Ich … Es tut mir schrecklich leid«, fand Powler als Erster seine Stimme wieder und hielt Claires Hand fest umschlossen, als müsse er sie beschützen. Sie saßen um den Küchentisch, vor jedem von ihnen stand eine Tasse mit heißem Tee, den Claire wortlos zubereitet hatte.
Lewis, der noch immer mit den Tränen kämpfte, war dabei nicht entgangen, dass sie Dietrichs Lieblingssorte, Pfefferminz, gewählt hatte. Er hätte jetzt bestimmt tröstende Worte für sie alle gefunden. Lewis stellte sich vor, dass – wenn er an Dietrichs Stelle gestorben wäre – der Deutsche nun hier sitzen und jedem von ihnen auf seine ganz eigene Art neuen Mut machen würde.
Er blickte in sein Innerstes, suchte nach den richtigen Worten, doch da war nur eine schwarze Leere, die mit jedem Atemzug größer wurde. Er versuchte nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten, war eben genau das jahrelang sein Problem gewesen; sich seinen Gefühlen nicht zu stellen, sie nicht anzunehmen.
Aber da er keine tröstenden Worte fand, zwang er seinen Verstand gewaltsam zur Arbeit. Zu viele Fragen waren noch ungeklärt. Zu viele Fragen, deren Antworten er finden musste.
Die erste saß direkt am Tisch.
»Chesters Zustand scheint Sie nicht sonderlich zu verunsichern, Inspector.« Er blinzelte die Tränen beiseite und blickte Powler fest in die Augen, wollte keinen Moment der Reaktion des Mannes verpassen. »Dürfte ich erfahren, wieso?«
Der Inspector wich seinem Blick aus, senkte schamerfüllt die Lider. »Ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen«, sagte er dann mit leiser Stimme. Er drehte den Kopf und sah Claire von der Seite an, die ihm ihre Hand entzog, als hätte sie sich an ihm verbrannt. »Zu Ihnen allen.«
Paul stellte seine Teetasse geräuschvoll auf den Untersetzer. »Ist es die Art Unehrlichkeit, die sich mit Worten aus der Welt schaffen lässt, oder müssen wir uns jetzt duellieren, weil in Wahrheit Sie der Mörder sind?« Er schielte zum Messerblock auf dem Küchenschrank. »Ich hoffe Ersteres, mein Bedarf an Handgreiflichkeiten ist für die nächsten Jahre gedeckt.«
Powler versuchte, erneut Claires Hand zu ergreifen, doch als sie sich ihm wieder entzog, gab er mit resigniertem Seufzen auf und blickte stattdessen Lewis an. »Es war kein Zufall, dass ich mich für Ihre Fälle interessiere … dass ich mich für Sie interessiere.«
Lewis hob überrascht die Augenbrauen. »Wie darf ich das verstehen?«
Powler räusperte sich verlegen. »Durch Herrn Dietrich erfuhr ich, dass es in anderen Ländern durchaus Menschen gibt, die sich mit Phänomenen und Bedrohungen beschäftigen, die jenseits unserer Vorstellung liegen. Er bedauerte einmal ganz offen den Mangel eines BÜROs im Königreich, wie er es nannte. Aber das heißt nicht, dass es hier und speziell bei Scotland Yard nicht Leute gibt, die erkannt haben, dass wir eine solche Abteilung dringend brauchen.«
»Aber wie konnten Sie wissen, dass ich –«
»Wusste ich nicht!«, fiel Powler ihm ins Wort. »Ich hatte einfach die Hoffnung, Londons brillantesten Ermittler für die Sache gewinnen zu können.« Er deutete auf Chester. »Und als ich erkannte, wer Mr Chadwick Witherstream in Wahrheit ist, war ich mir sicher, dass Sie mir helfen würden.«
»Woher wussten Sie von der Behörde für Übernatürliches, Realitätsverzerrung und Okkultes?« Man konnte deutlich sehen, dass Paul es genoss, den vollen Namen der Geheimorganisation zu nennen, für die Dietrich in Deutschland gearbeitet hatte. »Wenn ich es richtig verstanden habe, dann waren nur wir eingeweiht.« Er machte eine Handbewegung, die alle am Tisch, mit Ausnahme von Powler, mit einschloss.
Der Inspector senkte erneut den Blick. »Ich fürchte, Herr Dietrich war auch nicht vollkommen ehrlich mit Ihnen.«
»Sie kannten Dietrich?«, fragte Lewis ein wenig überrascht. »Also, ich meine, Sie kannten seine Geschichte?«
Powler schüttelte energisch den Kopf. »O Gott, Nein! Ich wusste so gut wie gar nichts über den Mann. Es war …« Er richtete den Blick in die Ferne, während er in seinen Erinnerungen kramte. »Es waren Andeutungen, die er machte, Bemerkungen, die mir erlaubten, meinen Vermutungen nachzugehen, anstatt sie als Spinnerei abzutun. Eines Tages fragte ich ihn, ob da mehr sei als die Dinge, die unsere Augen wahrnehmen. Er erzählte mir, dass es in Deutschland das BÜRO gebe, und das nicht ohne Grund. Er sagte nie, dass er Teil davon war, oder was genau es damit auf sich hatte. Doch dieser Wink reichte aus, um mein Leben in eine neue Richtung zu lenken.«
Lewis spürte ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfen. Wie viele Leben hast du so tief berührt, Dietrich? Wie viele Menschen auf einen neuen Pfad gesetzt? Er atmete tief aus und schüttelte dabei den Kopf. »Und das alles klang für Sie nie zu unglaublich?«
Der Inspector zuckte mit den Schultern. »Wenn man sein ganzes Leben nach Antworten auf verbotene Fragen sucht, ist man bereit, nach den dünnsten Strohhalmen zu greifen.«
»Ihr ganzes Leben?«, fragte Paul und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Wie meinen Sie das?«
Powler stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und wrang die Hände. »Meine Mutter starb, als ich noch ein kleiner Junge war.« Er machte eine Pause, schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Als ich zum Inspector befördert wurde, sah ich sie zum letzten Mal. An jenem Tag verabschiedete sie sich endgültig von mir.«
»Ihre Mutter war ein Geist?« Paul machte große Augen und auch Claire bedachte Powler von der Seite mit einem Blick, den Lewis unmöglich deuten konnte. Er lag irgendwo zwischen Mitgefühl, Unglaube und Enttäuschung.
Alter Schmerz verzerrte das Gesicht des Inspectors. »Für mich war sie mehr als das«, sagte er tonlos.
Von allen Anwesenden reagierte Chester als Erstes. Der Dürrbächler erhob sich mit leisem Winseln und legte seinen Kopf schwer auf Powlers Schenkel. Der Hund blickte dem jungen Mann von unten ins Gesicht und hechelte aufmunternd, als ihre Blicke sich trafen.
»Das entschuldigt noch immer nicht, dass du mich geschlagen hast«, sagte Powler mit gespielter Strenge, die unter seinem ehrlichen Lächeln mehr als aufgesetzt wirkte. Chester schnaubte verächtlich und wollte sich bereits grummelnd zurückziehen, doch da begann der Inspector, ihn hinter den Ohren zu kraulen. »Danke.«
Lewis blickte auf seine Taschenuhr. Es war bereits weit nach Mitternacht. »Inspector, Sie sind eingeladen, die Nacht in meinem Gästezimmer zu verbringen.« Powler wollte schon kopfschüttelnd ablehnen, daher fügte Lewis rasch hinzu: »Ich habe noch einige Fragen, die wir beim Frühstück klären können.« Er warf Claire einen raschen Blick zu und sie deutete ein Kopfnicken an. »Außerdem glaube ich, dass ich nicht der Einzige bin, der sich mit Ihnen unterhalten will.« Lewis stand auf und klopfte Paul auf die Schulter. »Kommst du mit ins Arbeitszimmer? Ich muss dir etwas zeigen.«
»Sag, Lewis«, begann Lord Treville, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, »wenn der Inspector heute Nacht hier schläft … wie viele Gästezimmer hat dieses Haus? Muss ich mir den Raum erst mit Chester und nun mit Inspector Powler teilen?«
Lewis schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Mist! Das hatte ich vergessen.« Er dachte kurz über eine Alternative nach, ehe er achselzuckend aufgab. »Lassen wir dem Inspector seine Privatsphäre. Du schläfst bei mir.«
»Ja, weil er dein ältester Freund ist.« Paul kicherte. »Als wir uns das letzte Mal ein Bett geteilt haben, waren wir noch an der Uni.«
»Und wir hätten es uns nicht teilen müssen, wenn du den beiden Damen nicht den ganzen Abend von obskuren Fruchtbarkeitsritualen vorgeschwärmt hättest. Sogar ich hatte plötzlich Angst, schwanger zu werden!«
Paul hob eine Augenbraue und bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. »Oh ja, meine Geschichten waren das Problem.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Paul baute sich vor ihm auf und schritt im Zimmer auf und ab, als würde er dem hohen Gericht eine Beweiskette vortragen. »Warst nicht du es, der den beiden lang und breit von den Überfällen auf junge Frauen im Jahr davor erzählt hat?«
Lewis zuckte mit den Schultern. »Die Zeitungen waren voll davon.«
»Und warst nicht du es, der den Damen versicherte, dass es unmöglich ein Einzeltäter sein konnte, sondern vermutlich zwei Männer gewesen waren?«
»Was sich später auch bestätigte …«
Paul unterbrach ihn brüsk und deutete anklagend mit dem Finger auf ihn: »Und hast du nicht gesagt, dass die jungen Frauen vermutlich auf ähnliche Weise in den Tod geführt wurden, wie unsere Gäste? Verführt von zwei charmanten jungen Männern?«
Lewis kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Ich dachte, wenn sie sich ein wenig fürchten, würden sie eher unter unsere Bettdecken huschen«, gab er zu.
»Furcht?!« Paul starrte ihn entsetzt an. »In welcher Welt, Lewis? In welcher Welt?« Er warf die Hände in die Luft. »Herrgott, weißt du eigentlich irgendetwas über Frauen?«
Er schnaubte lächelnd, dann fiel sein Blick auf den leeren Beistelltisch am Kamin und der heitere Moment war verflogen. Er rieb sich die Nasenwurzel und atmete tief durch.
»Wie hältst du durch?«, fragte Paul und scheiterte dabei kläglich an dem Versuch, seine Besorgnis zu überspielen.
»Es … Es muss gehen«, antwortete Lewis matt, ehe ihm bewusst wurde, mit wem er sprach. »O Gott, Paul, es tut mir leid. Dein Haus! Ich sollte dir diese Frage stellen!«
Lord Treville machte eine wegwerfende Handbewegung. »Steine, Holz und hässliche Gemälde. Je länger ich darüber nachdenke, desto besser fühle ich mich.«
Lewis blickte ihn stirnrunzelnd an.
»Jetzt bin ich frei. Kein alter Familiensitz, der mich in dieses Korsett zwängt, das mir schon lange nicht mehr passt, verstehst du?« Er machte einen Schritt auf die Tafel zu, an der Lewis die Meldungen, Beweise und Spuren der von ihm untersuchten Kriminalfälle sammelte. »Ich sollte mir auch so eine Tafel zulegen«, meinte Paul in Gedanken. »Dann sammle ich erst einmal alle Ideen, die mir für meine Zukunft in den Sinn kommen.«
»Ich kann noch immer nicht glauben, was alles geschehen ist«, sagte Lewis kopfschüttelnd und ließ sich in einen der Sessel am Kamin fallen. Das Leder ächzte unter der plötzlichen Belastung und er schob sich tief in die Sitzkissen. »Mein Hund wird zu einem Menschen, nachdem ihn ein Werwolf beißt …«
»… dessen Morde man mir anzuhängen versucht …«, warf Paul ein.
»… Dietrich …« Lewis’ spürte die Trauer erneut in sich aufsteigen und kämpfte mit den Tränen. Plötzlich ergriff eine Hand die seine und gab ihm den Halt, den er gerade zu verlieren drohte.
»Earl und Georgie.« Auch Pauls Stimme klang brüchig.
Für eine Weile saßen sie stumm nebeneinander und starrten unter Tränen in das lodernde Kaminfeuer. Es bedurfte keiner Worte, um ihren Schmerz zu teilen und sich gleichzeitig gegenseitig Kraft zu spenden.
»So, was halten wir von Powler?«, beendete Paul ihr Schweigen.
»Du traust ihm nicht?«
»Einem Mann, der dich monatelang über seine wahren Absichten im Dunkeln gelassen hat? Mitnichten!«
Lewis klopfte ihm versöhnlich auf die Schulter. »Ja, er hat gelogen. Aber trotz allem vertraue ich ihm. Dietrich hat ihm vertraut.«
»Valider Punkt. Fürs Erste.« Er blickte sich im Raum um, als würde er etwas suchen. »Die Statue passt nicht in dein Arbeitszimmer«, bemerkte er beiläufig.
Lewis zwang sich, das Kunstwerk erneut anzusehen.
Die kniende nackte Frau, deren aufgerissener und grotesk verzerrter Mund ihm entgegenzuschreien schien, dass er sie von ihrem Leid erlösen sollte. Gleichzeitig hielt die Tonfigur schützend die rechte Hand vor ihren schwangeren Bauch, als wolle sie jeglichen Schaden von dem Ungeborenen abhalten. Nichts an der Darstellung schien richtig. Jedes einzelne Detail, wie die linke Hand, die stolz ein Bündel Ähren präsentierte, war für sich allein eine geläufige Darstellung heidnischer Kulte, doch alle zusammen ergaben eine regelrechte Kakophonie an Bildern.
»Sie passt nicht in mein Haus«, murmelte Lewis unhörbar. Laut sagte er: »Wir sollten sie neben die Garderobe stellen, dann haben alle was davon.«
Plötzlich wandte Paul ihm den Kopf zu und blickte ihm fest in die Augen. »Sei bitte ehrlich zu mir. Mit dem Feuer und all dem Chaos … wie wahrscheinlich ist es, dort noch Hinweise auf George und Earls wahren Mörder zu finden?«
Lewis hätte ihm gerne mehr Mut gemacht, doch er konnte ihn nicht belügen. »Ich fürchte, wir sind allein auf das angewiesen, was in Scotland Yards Akten steht.«
»Also nichts.«
»Es tut mir leid.«
Paul stand ruckartig auf und ging im Zimmer auf und ab. »Aber wir müssen doch irgendetwas tun können!« Er kam zum Sessel zurück, drehte ihn herum und starrte Lewis auffordernd an. »Du wirst das nicht zulassen, oder? Dass ihr Mörder davonkommt?«
Lewis legte ihm beruhigend die rechte Hand auf den Unterarm. »Natürlich nicht.« Er deutete auf die Ledermappe auf seinem Schreibtisch, die mit allerlei Papier gefüllt und von einem dünnen Band verschlossen war. »Darin sind alle Spuren und Hinweise auf die Morde des Werwolfs gesammelt«, setzte er an.
»Nur hat der Werwolf Earl und George nicht getötet«, fuhr Paul dazwischen.
»Stimmt. Aber wer auch immer die beiden auf dem Gewissen hat, wusste von Ashbourne.« Lewis blickte dem Freund fest in die Augen. »Es gibt einen Zusammenhang zwischen Asbourne, dem Kult und den Morden. Und wir werden ihn finden.«
Paul verharrte noch einen Moment, schien gedankenverloren ins prasselnde Kaminfeuer zu starren, ehe er kraftlos in den freien Sessel sank. »So hatte ich mir meine Tage nicht vorgestellt.«
Lewis drehte den eigenen Sessel wieder zum Kamin. Er vermutete, dass auf Pauls Aussage noch eine Erklärung folgen würde, und nahm einen tiefen Schluck Tee, um Lord Treville die Zeit zu geben, seine Gedanken zu sortieren.
Schließlich sah der Freund ihm wieder in die Augen. »Mein Lebenswandel, weißt du?« Er schnaubte verächtlich. »Es ging um Spaß. Immer nur um Spaß, Lewis. Ich hätte nie gedacht, dass meine … Laster einmal anderen schaden könnten.«
»Ashbourne hat die beiden nicht umgebracht«, gab Lewis erneut zu bedenken.
Paul zuckte mit den Schultern. »Aber hätte er davor zurückgeschreckt?« Er machte eine ausladende Geste. »Oder hätte er gezögert, dich zu töten?« Ein tiefer Schluck leerte seine Teetasse. »Nein, mein Freund, meine Zügellosigkeit hat uns alle in Gefahr gebracht.«
Lewis wollte davon nichts hören. Er wusste, auf welchen Pfad solche Gedanken führten. Einen, auf dem man sich die Schuld und das Leid der Welt auf die eigenen Schultern lud. Wie er bestimmt seine Hand auf Pauls Schulter legte, erkannte er plötzlich Dietrichs Geist in sich. Der Deutsche hatte den Pfad stets klar vor Lewis’ Füßen gesehen. Hatte versucht, ihn davon abzubringen. Viel zu lange habe ich dir nicht zugehört, dachte Lewis traurig. »Es ist nicht deine Schuld, Paul«, sagte er ruhig, aber mit Nachdruck, zwang Lord Treville, ihm wieder in die Augen zu blicken. »Wir sind nicht verantwortlich für die Taten anderer, verstehst du?«
»Aber–«
»Sophia hätte Harry einfach verlassen können, aber sie wollte sein Geld«, hielt Lewis dagegen. Gerade wollte Paul widersprechen, doch Lewis schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich bitte dich, du weißt, dass ich recht habe. Und Harry? Der hätte seine Frau verstoßen können. Es wäre nicht die erste Gespielin gewesen, die er ausgetauscht hätte. Niemand hat ihn gezwungen, Menschen zu töten, das hat er ganz allein entschieden.«
»Bei dir klingt es so einfach.«
»Ist es auch«, sagte er mit einem Kopfnicken. »Wir machen es uns nur immer kompliziert.« Er deutete zum Schreibtisch, wo die heutige Tageszeitung lag. Das London Journal. Früher hatte Lewis es nie gelesen, doch seit den Ereignissen um Kate hatte er das Gefühl, es der jungen Frau schuldig zu sein. Zudem mochte er John Barnes, der das Blatt als Chefredakteur leitete – zumindest bis heute. »Barnes hat seinen Hut genommen und das Journal verlassen. Und warum? Weil er sich selbst die Schuld an Kates Tod gibt.«
»Manche Menschen wollen eben Verantwortung übernehmen«, wagte Paul noch einen Vorstoß.
»Verantwortung?!« Lewis stand auf und ging die zwei Schritte zum Schreibtisch, nahm die Zeitung und knallte sie Paul auf den Schoß. »Selbstmitleidige Menschen übernehmen gerne Verantwortung, doch nie für das eigene Handeln, sondern gleich für die ganze Welt. Für all die Missgeschicke, die um sie herum geschehen.«
Er wedelte mit dem Zeigefinger vor Pauls Gesicht, ehe er auf sich