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Die Papierprinzessin
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eBook268 Seiten3 Stunden

Die Papierprinzessin

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Über dieses E-Book

Es war einmal eine Prinzessin, ganz aus Papier. Sie trug Kleider, so weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Das Land, in dem sie lebte, war aus Geschichten gebaut, die ihre Großmutter, die Königin erzählte.

Mit diesen Worten beginnt die Geschichte, die Amelia May einst als Kind begann. Viele Jahre später, als Amelia längst alle Geschichte aus ihrem Leben verbannt hat, hängt das Leben ihrer Schwester Matilda davon ab, dass sie diese längst vergessene Geschichte nicht nur wiederfindet, sondern abermals dem Ruf der Worte folgt ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. März 2024
ISBN9783949880568
Die Papierprinzessin

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    Buchvorschau

    Die Papierprinzessin - Fabienne Siegmund

    Impressum

    Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

    Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.

    Copyright © 2024 Art Skript Phantastik Verlag

    1. Auflage 2024

    Art Skript Phantastik Verlag | Salach

    Lektorat » Stephanie Kempin

    Illustrationen » Jana Damaris Rech

    Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

    Druck » BookPress | www.bookpress.eu

    ISBN » 978-3-949880-06-3

    Auch als eBook erhältlich

    Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de

    Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    ***

    In den Kästen finden sich Zitate von Geschichtenliebenden, die auf die Frage antworteten, was Geschichten für sie sind. Im eBook sind diese Kästen die in fetter Schrift gesetzten Passagen.

    Für meine Großmütter

    Gela und Wilma.

    Ihr fehlt.

    Für Annika.

    Weil wir schon in Kindertagen Geschichten lebendig werden ließen. Und es immer noch tun.

    Und für jene, die meine Geschichten begleiten. Ohne euch ginge es nicht. Ich trage eure Tintenspuren auf meinen Lebensseiten.

    Vorwort

    von Isa Theobald

    Geschichten sind mehr als aneinandergereihte Worte. Mehr als die Summe ihrer Teile, mehr als schwarze Tinte auf weißem Blatt, mehr als eine Stimme am Lagerfeuer und die Ohren, die ihr lauschen. Geschichten sind Magie.

    Mit nicht mehr als – in unserer Sprache – 26 Buchstaben und den daraus resultierenden, nahezu unendlichen Kombinationsmöglichkeiten können wir Berge versetzen, Meere teilen, Drachen am Himmel fliegen und die wahre Liebe gewinnen lassen. Mit wenigen Worten können wir andere Menschen zum Lachen und Weinen bringen oder sie das Fürchten lehren. Geschichten können Flucht sein, Ablenkung und Schutz, ebenso wie Lehr- oder Zuchtmeister. Die richtige Geschichte zur richtigen Zeit kann die Mauern unserer Weltsicht zum Wanken bringen, uns unsere Moral hinterfragen lassen oder uns lehren, über den Tellerrand zu blicken. Geschichten sind Türöffner.

    Menschen, die viel lesen, fällt es leichter, sich in andere hineinzuversetzen. Dazu gibt es Studien. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und diese These von der eigentlichen Tätigkeit des Lesens trennen (auch wenn es in der Natur der Sache liegt, dass ich den Konsum von Geschichten in Buchstabenform besonders schätze) und behaupten, dass es Menschen, die von vielen verschiedenen Geschichten umgeben sind, leichter fällt, sich in andere hineinzuversetzen. Weil sie das tagein, tagaus tun, indem sie mit den Protagonist*innen dieser Geschichten mitfiebern, mitlieben, mitleiden. Dabei ist es nebensächlich, ob sie das auf der Leinwand, vor dem Fernseher, in einem Buch oder einem Game tun. Wichtig ist, dass sie sich darauf einlassen, die Figuren in ihr Herz und damit die Magie erblühen lassen.

    Es gibt kein Leben ohne Geschichten. Auch wenn man nicht liest, vielleicht nicht einmal fernsieht, ist man davon umzingelt. In der Familie, wenn die Schwester am Telefon erzählt, wie die Nichte im Kindergarten die großen Jungs zusammengestaucht hat, weil sie gemein zu einer Freundin waren. Auf der Arbeit, wenn in der Kaffeeküche das dramatische Ende der Ehe des Chefs analysiert wird. Selbst wenn man sich von allen zwischenmenschlichen Beziehungen isoliert, bleiben die Geschichten, im Vogelnest vor dem Fenster und dem Paarungsschrei der Katzen im Hinterhof. Geschichten sind der Kern des Menschlichen, zudem jeder Gedanke strebt. Geschichten sind Hoffnung.

    Spricht man dieser Tage mit einem Marketingmenschen, so wird er erzählen, dass es gar nicht auf das Produkt ankommt, sondern auf das Storytelling. Aktuelle Studien legen nahe, dass die Menschen nicht aus rationalen Gründen wichtige Entscheidungen wie zum Beispiel bei Wahlen treffen, sondern aus emotionalen Gründen – und Emotionen erreicht man, Sie ahnen es schon, mit Geschichten. Die geschickte Menschen weben, deren Aufgabe es ist, zu manipulieren, Meinungen einzupflanzen und zu lenken. Geschichten sind gefährlich.

    Das Narrativ – die zugrundeliegende Geschichte – unserer Gesellschaft scheint immer noch »Der Mensch ist des Menschen Wolf« zu sein. Man braucht Ellbogen, um zu bestehen, jeder ist sich selbst der Nächste, Sie kennen all die Sprüche. Würden wir uns alle dazu entscheiden, dieses Narrativ auszutauschen – z.B. in »Ubuntu« aus dem Zulu, ungefähr, aber sehr schön übersetzt in »ich bin, weil wir sind« – könnte die Welt, wie wir sie kennen, sehr schnell ein schönerer Ort sein. Stellen Sie es sich vor! Geschichten sind Wandel.

    Sobald zwei Menschen aufeinandertreffen und zu sprechen beginnen, entsteht eine Geschichte. Jeden Tag, jeden Augenblick unzählige neue. Und wenn niemand anderes da ist, dem man sie erzählen kann, dann erzählt das Gehirn sie sich selbst – in Tagträumen, schlagfertigen Antworten, die einem erst Tage später einfallen, in den Gedankenwelten, die man spinnt. Geschichten sind überall.

    Die Papierprinzessin ist eine Geschichte über Geschichten. Über ihre Magie, ihre Fähigkeit, Türen zu öffnen, ihre Macht, Hoffnung zu geben, die Gefahr, die in ihnen liegt, und den Wandel, den sie bringen. Aus 26 Buchstaben und den daraus resultierenden, nahezu unendlichen Kombinationen schafft Fabienne Siegmund ihren eigenen Zauber – poetisch, herzerwärmend, traurig, klug und, immer wieder, voller Hoffnung. Weil das Ende jeder Geschichte der Anfang einer neuen ist. Weil Geschichten zutiefst menschlich sind. Weil Geschichten das sind, was den Menschen treibt. Geschichten sind alles.

    Öffnen Sie Ihr Herz und lassen Sie sich auf diese Geschichte ein. Sie werden es nicht bereuen.

    Isa Theobald

    im November 2023

    If words can wake up demons

    do we really want to speak?

    And if my words could crush your dreams –

    burn your illusionary fields –

    Do you really want to hear them?

    See the imaginary fade?

    Do I really want to listen

    if what you say opens my façade?

    Do I fear the silence or long for it?

    Could I put my thoughts to sleep?

    After everything is spoken

    and some truth does linger in the air –

    stop breathing, avoid to take it in –

    or just drain it, let it flow within …

    Sometimes the weight of the world

    Lies in the sound of one word –

    getting it right or getting it wrong

    And

    Are we spellbound from then on?

    Or are we speechless, silent?

    What is reality?

    Relieved and dreamless –

    in imaginary …

    Stephanie Kempin, Illusionary

    ... und das Kind

    schrieb

    den Namen auf

    das Blatt Papier, nicht

    wissend,

    welche Macht

    Worte haben

    konnten ...

    Die Papierprinzessin

    Manchmal klingelt das Telefon und man weiß schon vor dem Annehmen des Gesprächs, dass derjenige am anderen Ende der Leitung nichts Gutes zu berichten hat.

    Amelia May hatte genau dieses Gefühl, als sie nach dem dritten Klingeln das Gespräch mit einem leisen »Ja?« entgegennahm.

    »Miss Amelia?«

    Eine alte, brüchige und unendlich vertraute Stimme. Eine Stimme, die ein Stück Vergangenheit mit sich trug, das für immer hatte Vergangenheit bleiben sollen.

    Amelia schloss die Augen. Sie schluckte.

    »Clara.«

    Es war ihr nicht möglich, die Bitterkeit, die sie empfand, zu verbergen. Ihrem Gegenüber, Meilenweit entfernt, schien es jedoch gar nicht aufzufallen.

    »Ja, Miss Amelia, Clara hier.«

    Amelia meinte ein Lächeln in der Stimme zu hören, das aber sekundenschnell verblasste, als sie weitersprach: »Miss Amelia, Sie müssen sofort kommen. Bitte.«

    »Nach Starnight Hights?« Aus der Bitterkeit wurde eine Mischung aus Panik und Entrüstung.

    »Natürlich, Miss Amelia. Wohin denn sonst?«

    Ja, wohin sonst … Amelia biss sich so fest auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte. Sie wollte nicht zurück. Niemals mehr.

    »Warum, Clara? Warum sollte ich zurückkommen?«

    Sie kannte die Antwort bereits, bevor sie ausgesprochen wurde. Es gab nur einen Grund. Und da sagte Clara auch schon jene Worte, die Amelia immer gefürchtet hatte.

    »Es ist wegen Miss Matilda. Etwas ist geschehen.«

    Amelias Gedanken überschlugen sich.

    »Was?«, fragte sie.

    »Das weiß niemand so genau«, gab Clara zurück. Ihre Stimme zitterte.

    »Ist sie verschwunden?«, hakte Amelia nach.

    Da fällt mir ein Satz von der Uni ein: »Wir leben alle in unseren Geschichten – entweder mit ihnen oder gegen sie.« Geschichten sind immer auch das, was man daraus macht, jeder erlebt sie anders, das macht sie so faszinierend. Und auch fast unkontrollierbar. Selten lesen zwei Menschen eine Geschichte komplett gleich. Und magisch sind sie auf jeden Fall! Vor allem, wenn sie ein Eigenleben entwickeln …

    ― Stephanie Kempin

    »Nein, Miss.«

    »Hatte Sie einen Unfall?«

    »Nicht, dass wir wüssten.«

    »Was ist denn dann, Clara? Was ist passiert?«

    Herrgott, warum rückte sie nicht einfach mit der Sprache heraus!

    »Bitte, Miss Amelia«, sagte die alte Frau da leise. »Kommen Sie. Schnell.«

    Und dann legte Clara auf, einfach so, beendete das Gespräch, ehe Amelia überhaupt nur hatte daran denken können, zu widersprechen.

    Denn das hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit getan.

    Sie wollte nicht nach Starnight Hights.

    Sie war fortgegangen, um niemals mehr zurückzugehen.

    Es war ihr sogar gelungen, alles, was damit zu tun hatte, aus ihrem Leben zu streichen. Die Erinnerungen an das, was dort geschehen war. Clara. Einfach alles.

    Sogar Matilda, das letzte bisschen Familie, das ihr geblieben war.

    Sie hatte geahnt, dass es eines Tages wiederkommen würde. Und ebenso, dass sie dann keine Wahl haben würde.

    Wütend warf sie das Telefon auf den Boden. Der Akku sprang heraus.

    Amelia ließ ihn einfach liegen, während sie ans Fenster trat und den Himmel über London betrachtete. Aber wo ihr sonst der Anblick der Stadt die beruhigende Gewissheit gegeben hatte, dass alles gut war, schienen aus den dampfenden Schornsteinen nun Geister aus Rauch aufzusteigen, die Gestalten formten, die sie einst gekannt hatte.

    Rasch schloss sie die Augen.

    Mit der Vergangenheit hatte sie auch die Fähigkeit hinter sich gelassen, Dinge zu sehen, die es nicht gab.

    Früher, früher hatte sie daraus Geschichten gebildet.

    Aber früher war alles anders gewesen.

    Heute gab es in ihrem Leben keine Geschichten mehr. Sie hörte nicht einmal Musik, zumindest keine, in der Worte etwas erzählten. Ging Menschen aus dem Weg, wann immer es möglich war.

    Amelia stieß einen Seufzer aus.

    Starnight Hights. Wie ein Fluch lag der Name auf ihren Gedanken. Wie lange war es her, dass sie fortgegangen war?

    Zehn Jahre?

    Nein. Mehr. 13. Sie war jetzt 29. Matilda musste demnach fast 20 sein. Amelia warf einen Blick auf den Kalender. April. Ja, im Juni würde Matilda 20 werden. Wenn … laut fluchend trat sie gegen den Sessel.

    Was war mit Matilda? Was konnte so Schlimmes passiert sein, dass sie kommen musste? Kein Unfall und nichts sonst …

    Warum hatte Clara nicht einfach mit der Sprache rausrücken können?

    Weil du dann nicht gehen würdest, wisperte eine Stimme aus ihrem Inneren, und Amelia wusste, dass dem genau so war. Wenn sie wüsste, was wäre, würde sie vielleicht nicht gehen.

    So hatte sie keine Wahl. Leider.

    Amelia seufzte erneut, warf einen letzten Blick auf die mit Schornsteinen gespickten Dächer und wandte sich ab, um ihren Koffer zu packen. Was nahm man auf eine Reise mit, die man nicht antreten wollte?

    Sollte sie vielleicht nach dem Wetterbericht sehen? Kopfschüttelnd ging sie ins Schlafzimmer. Auch zu wissen, ob es regnete oder schneite, würde es nicht einfacher machen. Das würde gar nichts schaffen.

    Aus reiner Gewohnheit strich sie sich den Rock ihres grauen Kostüms glatt. Hatte sie noch weggehen wollen oder trug sie es schon seit dem Morgen?

    Sie wusste es nicht mehr.

    S-T-A-R-N-I-G-H-T H-I-G-H-T-S.

    Die Worte wurden in ihren Gedanken zu blinkender Leuchtreklame, die keinen Raum für anderes ließ.

    ***

    Als sie am nächsten Morgen aus dem Taxi stieg, das sie von der Bahnstation hoch nach Starnight Hights gefahren hatte, wäre sie am liebsten augenblicklich wieder zurück in das warme Wageninnere geschlüpft.

    Das alte Herrenhaus schien über die Jahre gewachsen zu sein, war größer und dunkler geworden. Ein Teil von ihr wusste, dass das albern war – Häuser wuchsen nicht. Sie selbst war gewachsen. Aber sie fühlte sich nicht so. In diesem Moment, wo sie vor dem Zugang zum Haus stand, war sie wieder das Mädchen, das von hier fortgegangen war.

    Wütend ballte sie die Fäuste und straffte die Schultern. Sie würde nicht weiter an die Vergangenheit denken, sondern einfach hineingehen, Clara treffen und klären, was es zu klären gab.

    Mit einer energischen Geste wickelte sie den Mantel um sich und stapfte auf das Gebäude zu. Der Kies knirschte unter ihren Füßen und brachte sie in ihren Absatzschuhen mehrmals aus dem Gleichgewicht, aber schließlich erreichte sie die Treppe, die von zwei steinernen Löwen gesäumt war.

    Archibald und Archimedes, erinnerte sie sich der alten Namen aus Kindertagen, ging aber schnell weiter, ehe die Erinnerung nach ihr greifen konnte.

    Keine Vergangenheit.

    Nur hier und jetzt und schnell wieder weg.

    Clara öffnete die Tür, noch ehe Amelia nach dem altmodischen Klingelzug hatte greifen können.

    »Miss Amelia! Willkommen zu Hause!«

    Amelia spürte, wie sich ihre Kehle zuzog, aber sie rang sich ein Lächeln ab. In der nächsten Sekunde fand sie sich in der Umarmung der alten Haushälterin wieder, die sie aufgezogen hatte.

    Sanft versuchte Amelia, der ungewollten Berührung zu entkommen, bedachte ihr Gegenüber aber mit einem Lächeln, von dem sie jedoch spürte, dass es zu freundlich war. Clara bemerkte es nicht. Sie schien ganz aus dem Häuschen zu sein. Wie alt sie geworden war. Die Wangen waren eingefallen und die runzlige, von Altersflecken gezeichnete Haut schien viel zu groß für das schmale Gesicht zu sein, aber in ihren Augen lag immer noch das gleiche Funkeln, das Amelia früher immer als Magie bezeichnet hatte. Clara hingegen war kleiner als bei ihrer letzten Begegnung. Oder lag auch das wieder nur daran, dass sie selbst gewachsen war? Wie alt mochte Clara inzwischen sein? Amelia wusste es nicht und schob den Gedanken ebenso beiseite wie alle anderen.

    Nur kurz nach Matilda schauen. Mehr nicht. Mehr nicht.

    Sie folgte Clara ins Hausinnere, trat auf den Marmorboden. Schwarz-weiß gekachelt. Wie ein Schachbrett. Wie oft hatten Matilda und sie hier Szenen aus Alice hinter den Spiegeln nachgespielt?

    Keine Erinnerung, mahnte die Stimme in ihrem Inneren. Wenn du dich erinnerst, bist du verloren …

    »Ich habe Ihr altes Zimmer für Sie hergerichtet, Miss Amelia.«

    Amelia schrak auf. »Was?«

    Clara lächelte sie an. »Ihr altes Zimmer. Für die Nacht. Sie werden doch irgendwo schlafen müssen.«

    Fassungslos starrte Amelia sie an. »Was?« Sie suchte nach Worten. Worten, die nicht verletzten, aber wahrscheinlich würde es ihr ohnehin nicht gelingen.

    »Ich werde nicht hier schlafen, Clara«, sagte sie daher. »Ich werde nach Matilda sehen und wieder fahren.«

    Wie sie es sich gedacht hatte, wischten ihre Worte das Lächeln von Claras Lippen wie ein Schwamm Kreide von einer Schiefertafel.

    »Das wird nicht gehen, Miss Amelia«, meinte sie daraufhin nur. Sie ging die geschwungene Treppe hinauf.

    Amelia folgte ihr. »Warum nicht?« So schrill färbte die Panik ihre Stimme.

    »Weil … gehen Sie in den Salon. Ich bringe Ihre Sachen nach oben. Und dann erzähle ich Ihnen alles. Danach können Sie zu Miss Matilda.«

    »Ist sie denn nicht hier?« Wie automatisch richtete sie ihre Blicke auf den dunklen Gang oberhalb der Treppe, fest damit rechnend, ihre Schwester jede Sekunde dort auftauchen zu sehen. So wie früher …

    Aber natürlich geschah das nicht. Solche Dinge geschahen nie. Plötzlich hatte Amelia das Gefühl, jemand würde ihr die Kehle zudrücken. Sie blieb stehen, die Hand auf das blankpolierte Holzgeländer gelegt.

    »Was ist mit Tilda?«, fragte sie.

    Clara drehte sich um. Alles Funkeln war aus den blauen Augen verschwunden.

    »Gleich, Miss Amelia. Bitte. Nicht zwischen Tür und Angel.«

    Amelia biss sich erneut auf die Lippen. Sie kannte Clara gut genug, um zu wissen, dass sie nichts erfahren würde, bis sie nicht im Salon saß. Nach einem kurzen Nicken wandte sie sich ab, um der Aufforderung der alten Haushälterin nachzukommen.

    Zum Glück musste sie nicht lange warten. Sie hatte nicht einmal Zeit gefunden, sich richtig umzusehen, und um ehrlich zu sein, war sie froh darüber.

    Clara nahm schweigend gegenüber von ihr Platz.

    Die Stille trieb Amelia in den Wahnsinn.

    Geschichten sind nicht selten Erinnerungen an Dinge,

    die irrtümlich zu geschehen versäumten.

    Christian von Aster

    »Was ist mit Matilda?«, wiederholte sie die Frage, die sie schon auf der Treppe gestellt hatte.

    Clara neigte nachdenklich den Kopf hin und her. »Miss Matilda ist im Krankenhaus. Sie liegt im Koma.«

    Jede Maske, die Amelia so sorgfältig aufgesetzt hatte, fiel in sich zusammen, löste sich auf und zurück blieb nichts als Entsetzen.

    »Was ist passiert?« Sie hatte kaum genug Luft, die Worte hervorzupressen.

    Die alte Haushälterin zuckte mit den Schultern. »Das weiß niemand so genau, aber alles spricht dafür, dass Miss Matilda versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Vorgestern fand ich sie in ihrem Bett – sie war einfach nicht hinuntergekommen, wissen Sie, so wie sonst. Sie lag einfach nur da – aber da standen Tabletten auf ihrem Nachtschränkchen …« Claras Stimme verlor sich und die alte Frau legte die Arme um ihre Schultern, als müsste sie sich selbst zusammenhalten. »Ich dachte, sie wäre

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