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Die 11 Fluchten des Madis Jefferson
Die 11 Fluchten des Madis Jefferson
Die 11 Fluchten des Madis Jefferson
eBook268 Seiten3 Stunden

Die 11 Fluchten des Madis Jefferson

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Über dieses E-Book

Madis Jefferson hält es an keinem Ort, schon gar nicht unter Zwang: Mit Witz und Tempo berichtet Tauno Vahter von einem, der nur auf der Flucht zu Hause ist.

Vahters packendem Schelmenroman liegt die unglaubliche Lebensgeschichte von Johannes Lapmann alias Madis Jefferson zugrunde, der Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Dorf an der Küste Estlands geboren wird. Bereits mit acht Jahren wird Madis in Stockholm aufgegriffen und zu seiner entsetzten Mutter heimgebracht: Er hatte sich als blinder Passagier auf einem Schiff nach Schweden versteckt, weil er mehr von der Welt sehen wollte. Das bleibt nicht die letzte Eskapade des Vagabunden, weitere spektakuläre Fluchtversuche werden folgen und Madis bis in die USA führen – ihm allerdings auch Gefangenschaft in sowjetischen Lagern einbringen. Dieses Buch ist ein hinreißender und tragikomischer Roman über Freiheit und die Frage, wie weit Gesellschaften gehen, um die Freiheitsliebenden zu unterdrücken.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2024
ISBN9783701747153
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    Buchvorschau

    Die 11 Fluchten des Madis Jefferson - Tauno Vahter

    Drei Väter

    Kreis Lääne, 1835

    »Ist das wirklich eine gute Idee?«, fragte Lehrer Steinbach den Mann, der für das Schmutzwetter denkbar unpassend gekleidet war.

    »Ich denke, das ist eine sehr gute Idee. Hinreißend!«, nickte der mit Weste und Jackett angetane Mann, Konrad von Odenkopf, Gutsherr auf Amin.

    »Wir haben hier eher traditionelle Namen … Und die Bauern selbst haben zum Beispiel um Tier- oder Baumnamen gebeten«, hakte der alte Steinbach nach.

    »Nein, das ist sehr gut. Dabei bleibt es!«, verkündete der Gutsherr mit einem leichten Grinsen und so resolut, dass der Lehrer nicht weiter diskutierte, sondern mit einem kaum hörbaren Seufzer das Kirchbuch hervorholte, die Feder in die Hand nahm und den Gutsherrn fragend ansah.

    »Also?«

    »Zuerst die vier Familien aus Meriküla: Rostock, Hamburg, Liverpool und London. Entscheiden Sie selbst, welcher Name für wen ist. Ney, Blücher und Wellington für die Familien aus Ranna. Ihre Entscheidung.«

    Steinbach verzog keine Miene, weil das Dach des Pfarramts schon das zweite Jahr undicht war und eine Reparatur in Aussicht stand.

    »Mhm, Wellington … ja. Es gibt da nur ein kleines Problem. In Ranna leben vier Familien.«

    »Ach so. Verstehe, dann nehmen wir noch Napoleon.«

    »Napoleon? Selbstverständlich, warum nicht … Wie wäre es mit Thurn und Taxis …«, murmelte Steinbach, schrieb aber »Napoleon« hinter die Familie des alten Jaak.

    »Napoleon.«

    »Fertig?«

    »Was ist mit den Fischern von Avipalu?«, erkundigte sich Steinbach.

    »Ach ja … Wie viele Haushalte gibt es dort?«

    »Früher waren es sechs, aber nach der Missernte sind nur noch drei geblieben.«

    »O weh … Dann wollen wir mal über den Tellerrand schauen … Nehmen wir Franklin … Washington … Jefferson.«

    »Mein Herr, welche Bauern können so komplizierte Namen aussprechen oder gar schreiben?«

    »Das werden sie schon lernen! Haben jetzt alle einen?«, fragte der Gutsherr ungeduldig.

    »Mehr als das«, konstatierte Steinbach etwas traurig.

    »Hervorragend! Dann noch wegen dieser Sache mit den Wächtern – bis zum Herbst müssen zwei Männer abwechselnd Wache stehen.« Die beiden nickten und der Gutsherr trat hinaus zu dem Bauern, der auf dem Fuhrwerk wartete. Der Lehrer stand auf der Treppe und wusste nicht, ob er den Herrn bewundern oder für verrückt halten sollte.

    »Heimwärts!«, befahl der Gutsherr dem langen, schmalen Bauern, der die Zügel in der Hand hielt und allen als »Jaan« oder »der Henker« bekannt war, weil er, wann immer es nötig war, beim Abstechen eines Schweines half.

    »Jaan, zwei Dinge! Bleib kurz am Feldrand stehen«, verkündete der Gutsherr noch feierlich.

    »Hä?« Das Fuhrwerk blieb stehen.

    »Erstens, schau dir diese grünen Pflanzen an … Du wirst ab sofort hier neben der Kirche über das Feld wachen. Hol dir einen Mann aus dem Stall dazu, und dann werdet ihr zwei abwechselnd den ganzen Tag lang Wache stehen, bis im September die Ernte bereit ist. Niemand darf sich auch nur eine Frucht aus dem Boden nehmen.«

    »Welche Frucht?«

    »In der Erde hier werden braune, runde Dinge wachsen, die Ende des Sommers reif sind. Sag allen, dass keiner davon nehmen darf und dass die gesamte Ernte zum Gut gebracht werden muss. Die Früchte sind sehr teuer. Verstehst du, niemand darf auch nur eine nehmen!«

    »Mhm.«

    »Zweitens, du heißt jetzt nicht mehr nur Jaan.«

    »Mhm.«

    »Du hast nun einen zweiten Namen und heißt ab sofort Jaan Jefferson.«

    »Mhm, Dschefferso.«

    »Das war alles, fahren wir heim.« Jaan Jefferson blickte neugierig über die nichtssagenden grünen Blätter auf dem Feld, während Konrad allwissend schmunzelte.

    An diesem Abend wussten alle Ortsansässigen, die sich in der Kneipe zum Neuen Kreuz versammelt hatten, dass der Gutsherr auf dem Feld bei der Kirche Goldeier züchtete. Und zum Abschluss des Abends brach Jüri Blücher mit einer beherzten Kopfnuss Mihkel Napoleon den Wangenknochen.

    Erster Teil

    Der verlorene Sohn

    Avipalu, 1921

    Im Dorf Avipalu war es ruhig, denn fast alle Männer waren nach der vom Sturm erzwungenen Pause aufgebrochen, um die Netze erneut auszuwerfen, während die Kinder bei der Heuernte helfen mussten. Am Hoftor des Schmieds stand eine Frau mit einem Leinentuch und spähte den Weg hinunter, der in die Stadt führte. Schließlich erschien eine Kutsche mit zwei Gestalten: einem Erwachsenen und einem Kind. Madis, endlich! Was soll man mit so einem nur machen: Umarmen oder versohlen? Liisa unterdrückte den Wunsch, ihnen entgegenzulaufen, wischte sich schnell eine Träne aus den Augen und trat ruhig durch das Tor hinaus.

    Madis hatte ein Lächeln im Gesicht, aber ein ausgeprägtes Schuldbewusstsein war darin nicht zu erkennen. Immerhin war er unversehrt.

    »Bitte sehr«, sagte der etwa dreißigjährige Mann, Wachtmeister Hamburg. »Eine Sendung aus Stockholm.«

    »Stockholm? Herrgott, Madis!«, seufzte die Mutter.

    »Der Junge hat sich auf einem Schiff versteckt. Sie haben ihn gefunden und zurückgeschickt.«

    »Madis, was hast du dir dabei gedacht? Mit acht Jahren! Ich dachte, du treibst dich wieder in Haapsalu rum. Wir hatten furchtbare Sorgen!« Sie beugte sich zu Madis, um ihm in die Augen zu sehen.

    »Großer Gott. Hauptsache, am Leben … Was soll ich mit ihm nur machen?«, fragte die Mutter den Wachtmeister.

    »Der Junge soll sich mal ausruhen, lassen Sie uns ein wenig reden«, schlug Hamburg vor.

    »Nimm dir was zu essen, deine Schwester ist drinnen. Wir reden später.« Die Mutter schob Madis ins Haus und wandte sich besorgt dem Wachtmeister zu. »Hat er denn Schaden angerichtet? Ich weiß nicht, woher ich das Geld nehmen soll, wenn ich für etwas aufkommen muss …«

    »Keine Sorge, er hat mir auf dem Weg ein bisschen was erzählt. Der Junge hat nach der Beerdigung gewartet, bis alle im Bett waren. Er hat sich zwei Butterbrote geschnappt sowie eine Flasche Wasser und ist zur großen Straße gegangen. Von dort hat ihn am Morgen ein Bauer mitgenommen, der in Richtung Stadt unterwegs war. Madis hat ihm gesagt, dass sein Vater auf dem Markt arbeitet. Im Hafen hat er eine Galeasse gefunden, die gerade mit Waren für den Stockholmer Markt beladen wurde, und sich im Frachtraum versteckt. Die Männer haben ihn kurz vor der Ankunft entdeckt, als sie bereits Schweden erreicht hatten, weil ihm schlecht geworden ist.«

    »Verfluchter Bengel! Ich weiß nicht, ob Johannes ihn versohlt hätte … Aber es geschieht ihm recht, dass er wenigstens seekrank geworden ist. Eine ganze Woche!«, die Mutter schüttelte den Kopf.

    »Nicht ganz. Er hatte offenbar nichts mehr zu trinken und hat im Frachtraum Beerenwein getrunken und Butter gegessen. Er war besoffen!« Der Wachtmeister konnte seine Heiterkeit nicht verbergen.

    »Madis, Herrgott nochmal!« Die Mutter vergrub ihr Gesicht in dem Tuch.

    »Sie haben ihn seinen Rausch ausschlafen lassen und ihn dann der Polizei in Stockholm übergeben. Weil das Schiff nicht gleich zurückgefahren ist, haben sie ihn auf ein anderes gesteckt, mit dem er nach Tallinn gekommen ist und von dort weiter nach Haapsalu, wo man mich informiert hat.«

    »Und was jetzt? Muss er nochmal zur Polizei?«

    »Nein … Die Schiffseigentümer verlangen zum Glück kein Geld. Aber versuchen Sie, Ihren Jungen besser im Auge zu behalten. Ich verstehe, dass es für Sie gerade schwer ist, aber wir können ihn nicht überall suchen. Erst Ranna, Paldiski und Haapsalu, jetzt schon Stockholm. Als Nächstes müssen wir ihn noch aus Amerika holen.«

    »Gott sei Dank ist er heil geblieben. Ich bin Ihnen so dankbar … Das wird nie wieder vorkommen!«, sagte die Mutter und schüttelte dem Konstabel fest die Hand.

    »Viel Glück!« Der Wachtmeister lüpfte die Uniformmütze und brach auf.

    Liisa Jefferson seufzte, blickte suchend zum Himmel und trat in den Hof. Madis hatte seine Suppe aufgegessen und zeigte seiner Schwester sein neues Spielzeug, einen schadhaften, kleinen Kompass, den er aus dem Schiff hatte.

    Liisa ging zum Tisch und nahm die Hand des Jungen.

    »Madis, mach das nie wieder. Ich verstehe, dass es für dich auch nicht leicht ist, aber wir müssen jetzt alle zusammenhalten, und ich habe keine Kraft für noch mehr Sorgen.«

    Madis sah seiner Mutter in die Augen, schwieg.

    »Versprochen?«, fragte die Mutter.

    Der Junge schwieg noch ein wenig. »Der Lehrer hat gesagt, dass Papa hinter dem Meer ist«, stammelte er leise.

    Eine außerordentliche Sendung

    Wachtmeisterei von Ranna, 1927

    Polizeiwachtmeister Hamburg hatte die Nacht über mit zwei Amtsgenossen, die aus Haapsalu geschickt worden waren, in der Gegend von Aulepa Alkoholschmugglern aufgelauert, jedoch ohne Erfolg, und nun schlief er am helllichten Tag. Aus Tallinn kamen hin und wieder Hinweise zu den Machenschaften der Schmuggler, aber meist verliefen sie im Sand. Allerdings konnte man sehen, dass sich manche Familien in den Fischerdörfern plötzlich prächtige Häuser bauten und die Frauen dort auf einmal vornehme Kleider trugen, dass bei Pürksi sogar mehrere Autos unterwegs waren, Kinder auf Fahrrädern umherfuhren und angeblich Boote mit stolzen Motoren beim Auswerfen der Netze eingesetzt wurden. In der Nähe von Dirhami hatte Hamburg an mindestens einem Boot verdächtige Kerben entdeckt, die an Einschusslöcher erinnerten. Nicht doch, wir wissen von nichts – welchen Sinn hat der ganze Unfug, wenn im Grunde alle wissen, was hier vor sich geht? Hamburg sinnierte, ob er weiterschlafen sollte, hörte aber, dass jemand über den Schotterweg fuhr.

    Der Kurier, ein Telegramm aus Tallinn.

    »An den Wachtmeister von Ranna. Am 27. Tag dieses Monats wird ein Bewohner des Dorfes Avipalu, der Minderjährige Madis Jefferson, um 14:30 Uhr mit dem Zug zur Dienststelle in Haapsalu eskortiert, bringen Sie ihn zu seiner Familie.«

    Wachtmeister Hamburg schüttelte grinsend den Kopf und schaute auf die Uhr – bald war es Zeit aufzubrechen. Er zog sich an, holte das Motorrad mit dem Beiwagen aus dem Schuppen und machte sich auf den Weg nach Haapsalu. Die Dienststelle war bereits informiert.

    »Dein Weltenbummler wartet schon«, scherzte der Diensthabende und deutete auf ein Nebenzimmer, aus dem Gelächter zu hören war. In dem Zimmer saßen ein großer, schlanker Jugendlicher, der etwas erzählte, sowie zwei Männer in Uniform, die ihm zuhörten.

    »Und dann landete der Dicke mit der Pfeife auf dem Arsch …« Hamburg trat ein und unterbrach Madis’ Geschichte.

    »Los, Madis, fahren wir zu deiner Mutter«, begrüßte Hamburg den vertrauten Klienten.

    »Warte, der Junge erzählt gerade, wie er im Hafen von Helsinki vor der Polizei davonlaufen wollte«, sagte einer der Beamten.

    »Von der Stadt hab ich nicht viel gesehen«, stellte der Junge fest.

    »Was wolltest du denn sehen?«

    »Woher soll ich das wissen, wenn ich noch nie da gewesen bin!«

    »Du verfluchter Philosoph. Gehen wir«, forderte Hamburg ihn mit einer Handbewegung auf.

    Die Straße nach Avipalu staubte unter den Rädern, Hamburg reichte Madis eine Brille.

    »Madis, erklär mir eines«, rief Hamburg durch den Lärm.

    »Was?«

    »Warum kannst du nicht anders sein?«

    »Wie denn?«

    »Normal.«

    »Was von beidem soll ich machen?«

    »Wie meinst du das?«

    »Wollen Sie, dass ich bis ans Ende meines Lebens Netze auswerfe, oder soll ich anfangen, Alkohol zu schmuggeln?«

    Wachtmeister Hamburg lachte kurz auf und schüttelte den Kopf.

    »In Ordnung, aber gefällt es dir hier nicht oder bist du einfach was Besseres? Tut dir deine Mutter denn gar nicht leid?«

    »Ganz einfach … In der Welt gibt es noch so vieles …«

    »Aber dann geh zurück zur Schule, du bist erst vierzehn Jahre alt! Geh und lern etwas, anstatt dich rumzutreiben! Davon haben alle was … Deine Mutter hat weniger Sorgen, für dich ist es interessanter, und ich kann stattdessen deine Freunde jagen …«

    »Das sind nicht meine Freunde.«

    »Dann hilf deiner Familie oder lern etwas, aber mach den anderen wenigstens keine Sorgen.«

    »Ich hab nicht genug Geld, um in der Stadt was zu lernen.«

    »Du begreifst schon, dass du der Reederei 200 Mark Strafe für die Rückfahrt zahlen musst? Ich wette, dass ihr das Geld dafür nicht habt.«

    »Nein … Dann fang ich einfach irgendwo an zu arbeiten.«

    »So eine Arbeit gibt es hier nicht.«

    »Sehen Sie, jetzt haben Sie’s auch begriffen.« Madis erhob den Zeigefinger.

    Seine Mutter wartete am Tor. »Und diesmal?«

    »Helsinki«, sagte Madis etwas kleinlaut. »Gibt es Suppe?«

    »Auf dem Herd«, bestätigte sie, sah den Wachtmeister an und streckte ihm die Hand entgegen.

    »Dann bis zum nächsten Mal.« Der Wachtmeister schüttelte ihr die Hand und ging zurück zu seinem Motorrad.

    Das Quartett aus dem Kongo

    Hafengefängnis von Antwerpen, 1928

    Madis Jefferson lugte in den Raum, dessen Tür der Wächter geöffnet hatte, und zuckte zusammen. Aus der nur knapp zehn Quadratmeter großen Zelle blickten ihm vier neugierige Augenpaare entgegen. Tatsächlich konnte er außer den Augen nicht viel erkennen, das Licht war schwach und die Hautfarbe der Zellengenossen machte die Sache nicht einfacher. In Avipalu gab es keine Schwarzen, nicht einmal in Tallinn.

    Die Tür fiel ins Schloss und Madis setzte sich auf die einzige freie Pritsche. Die Zellengenossen sahen Madis schweigend an, der aus Verlegenheit seine Jacke auszog und zusammenrollte. Die Afrikaner begannen untereinander zu reden. Nun sah Madis, dass drei von ihnen höchstens zwanzig Jahre alt waren, der vierte jedoch deutlich älter war. Einer der Jüngeren stand auf und sagte etwas zu Madis, das dieser nicht verstand.

    Zum Teufel, was wird das? Selbst den Gürtel hatte man ihm abgenommen.

    Der Mann sagte erneut etwas, das sich französisch anhörte. Madis schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Finger auf sich. »Madis. Madis Jefferson.«

    »Ah … Bodika«, sagte der Mann jetzt. Als Nächstes stellten sich Bintu, Wemba und Musa vor.

    Als Musa, der Älteste, seinen Namen sagte, bemerkte Madis, dass ihm eine Hand fehlte.

    »Français?«, fragte wieder der junge Mann. Madis schüttelte abermals den Kopf.

    »Tabac?« Er führte die Finger zum Mund. Nein, hab ich nicht.

    Der Mann schien das Interesse verloren zu haben und setzte sich zurück auf seine Pritsche. Madis schnaufte erleichtert durch, stand auf und ging zu dem kleinen Zellenfenster. Dahinter erschienen der beeindruckende Hafen und die ins Meer fließende Schelde, und an den Kais und auf dem Wasser wimmelte es von Schiffen. Sie alle wurden überragt von der Pennland, dem Dampfer der Red Star Line, der mit seinen zwei gestreiften Schornsteinen sicher das größte Schiff war, das Madis je zu Gesicht bekommen hatte. Wenn er doch nur mitfahren könnte, bis nach New York! Am Kai lagen auch mehrere kleinere Schiffe in den Farben der Reederei, außerdem niedrige Schlepper, und am anderen Ufer erblickte er eine Reihe von Segelschiffen und Booten, von denen manche zwischen den großen Schiffen umherfuhren. An den Kais hatten sich Berge von Gütern angehäuft, die teils mit Kränen, teils von Hand gelöscht wurden. Madis meinte, aus der Ferne auch die vertrauten Umrisse der Mila zu erkennen, doch die kleineren Schiffe sahen sich vergleichsweise ähnlich und er war sich nicht sicher.

    Eine Woche zuvor war Madis wieder aufgebrochen. Mit dem Milchauto (»ich muss zur Schule«) war er nach Tallinn gelangt und konnte sich am frühen Morgen in einem Güterwaggon des Neun-Uhr-Zugs nach Valga zwischen Säcken und Kisten verstecken. Obwohl ein Teil der Waren in Tartu und an der Grenze abgeladen wurde, fiel Madis niemandem auf. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, fühlte sich Madis etwas freier und öffnete seine Tasche, in die er etwas Brot, getrockneten Fisch und ein Buch gepackt hatte, ein Estnisch-Deutsch-Wörterbuch, ausgeliehen von Wachtmeister Hamburg. Er hatte exakt zwei Kronen bei sich, mit denen er ohnehin nichts anfangen konnte, weil sogar das Ticket für die dritte Klasse zehn Kronen gekostet hätte.

    Abends um neun war Madis bereits in Riga und streifte bis spät in der Nacht umher, ehe er den Hafen fand und sich in der Nähe unter einem Strauch aufs Ohr legte. Am Morgen wimmelte es im Hafen von Leuten und Madis las die Namen der Heimathäfen auf den Schiffen. Einige Schiffe kamen aus Stockholm, aber das interessierte Madis nicht mehr. Er wollte möglichst weit weg, am liebsten nach Amerika. Aber Schiffe, die nach Amerika fuhren, gab es keine. Er bemerkte einen Passagierdampfer, der etwas abseits der anderen Schiffe lag und über Polen nach Hamburg fahren sollte, aber da die Anlegestelle besonders exponiert war, konnte er sich nicht unbemerkt nähern. Also erschien ihm das Handelsschiff Mila die beste Wahl zu sein, denn es wurde nicht bewacht und das Deck war niedrig genug, um hinaufzuklettern. An Bord schlich Madis in den Laderaum neben dem Kohlelager und wartete. Fenster gab es keine, Menschen waren selten zu hören. Als das Schiff sich in Bewegung setzte, realisierte Madis, dass er einen Fehler gemacht hatte – in dem Raum wurde es so heiß, dass er nach und nach seine Kleidung ausziehen musste. Sein Proviant war bald aufgebraucht, zu trinken hatte er nichts dabei. Madis wurde am zweiten Tag gegen Mittag dabei erwischt, wie er sich von den Heizern Wasser stibitzen wollte. Die Männer hatten starke Arme und der Kapitän sagte etwas, das Madis nicht verstand. Er wurde zurück in den Heizraum gebracht und bekam eine Schaufel in die Hand gedrückt. Es war heiß und die anderen beiden Arbeiter motzten herum, aber Madis strengte sich an und schließlich bekam er sogar ein wenig zu essen.

    Doch die Eintracht endete schon bald mit der Ankunft in Antwerpen am folgenden Tag, als der Steuermann zwei uniformierte Männer an Bord brachte, die Madis mitnahmen.

    Zwei Tage später holte man Madis aus der Zelle und er wurde von einem schnurrbärtigen Mann erwartet, der sich als Aertssens vorstellte, estnischer Honorarkonsul. In seinem rudimentären Estnisch und mit etwas Deutsch erklärte er Madis, dass man ihn bald vor Gericht stellen und ins Gefängnis stecken würde, bevor man ihn zurück nach Estland schickte. Für die Reisekosten müsse er selbst aufkommen. Madis fragte, ob er sein Wörterbuch zurückhaben und eine Postkarte bekommen könne, um nach Hause zu schreiben.

    Gegen Ende der Woche führte man Madis dem Richter vor, der Konsul begleitete ihn. Das Gericht entschied, dass Madis drei Monate im Gefängnis sitzen müsse, woraufhin er zurückgeschickt würde. Madis hörte sich das Urteil

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