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Die Zeit der Vernunft
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eBook936 Seiten11 Stunden

Die Zeit der Vernunft

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Über dieses E-Book

Die Zeit der Vernunft ist ohne Zweifel eine der faszinierendsten Epochen philosophischer Weltdeutung. Was sich hier über eine Zeitspanne von rund 200 Jahren artikuliert, ist die ungeheuerliche Idee, den christlich-dogmatischen Antworten auf die fundamentalen Fragen zu Gott, Welt und Mensch eine nicht-dogmatische, allein auf Vernunfttätigkeit beruhende, kritisch begründete und erkenntnislogisch hinreichende Vorstellung des Wirklichen gegenüberzustellen. Das vorliegende Buch soll Philosophieinteressierten dazu dienen, sich diese unglaublich spannende philosophische Zeit zu erschließen, und zwar entlang der Beiträge ihrer Protagonisten. Dementsprechend liefert es den Grundriss der Überwindungsphilosophie Descartes', der Freiheitsphilosophie Spinozas, der Versöhnungsphilosophie Leibnizens und der Desillusionierungsphilosophie Kants.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Apr. 2024
ISBN9783384092601
Die Zeit der Vernunft
Autor

Bernd Waß

Bernd Wass studierte am Institut für Philosophie der Kultur- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg Analytische Philosophie. Zum Doktor der Philosophie promovierte er mit einer Dissertationsschrift zur Philosophie des Geistes. Er ist Philosoph, Gründungsdirektor der School of Philosophy und Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte finden sich in der Metaphysik, insbesondere der Philosophie des Geistes, sowie der Erkenntnistheorie, insbesondere der Phänomenwelt-Realwelt-Problematik.

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    Buchvorschau

    Die Zeit der Vernunft - Bernd Waß

    Die hier abgebildete Darstellung der sieben freien Künste und der über ihnen thronenden Philosophie stammt aus der im ausgehenden 12. Jh. verfassten Enzyklopädie ›Hortus Deliciarum‹ (Garten der Köstlichkeiten) der Äbtissin des Klosters Hohenburg, Herrad von Landsberg.

    KAPITEL 1

    Hintergrund

    ÜBERLEGUNGEN

    „PHILOSOPHIE IST EIN GRÜNDLICHES, SYSTEMATISCHES NACHDENKEN ÜBER LETZTE FRAGEN – FRAGEN, AUF DEREN NICHTAUFWERFEN DIE STABILITÄT UNSERER ALLGEMEINEN LEBENSPRAXIS BERUHT."

    – ROBERT SPAEMANN –

    Wir haben im Prolog davon gesprochen, dass es sich sehr wahrscheinlich nicht um einen Spaziergang handelt, den wir hier zu unternehmen trachten, um den Fantastischen Rationalismus der Neuzeit zu durchdringen, sondern wohl eher um eine Gipfeltour. Dementsprechend müssen wir uns vorbereiten. Dazu gehört es einerseits, über einen gemeinsamen Philosophiebegriff nachzudenken und andererseits zu klären, auf welchem philosophischen, sprich disziplinären Terrain wir uns befinden. Dabei wird uns im Zusammenhang mit den Denkgebäuden von Descartes, Leibniz und Kant sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Metaphysik begegnen und bei Spinoza darüber hinaus die Ethik. ¹

    1.1 Zum Philosophiebegriff

    Es gibt viele Fragen in dieser Welt und unter ihnen solche, die für unser intellektuelles Leben von profundem Interesse sind. Fragen über das Dasein des Menschen, das Wesen des Seins, die Existenz der Wirklichkeit, die Möglichkeit von Erkenntnis. Aber auch schlichte Fragen von der Art: Woran soll ich glauben? Und: Wie kann ein gutes Leben gelingen? Auf den ersten Blick scheinen diese Fragen nicht besonders schwierig zu sein, „aber in Wirklichkeit handelt es sich um […] [die] schwierigsten, die es gibt"².

    Wenn uns klar geworden ist, welche Hindernisse einer direkten und zuversichtlichen Antwort im Wege stehen, haben wir es in der Philosophie schon ein Stück weit gebracht. Die Philosophie ist nämlich nichts anderes als der Versuch, solche fundamentalen Fragen zu beantworten, und zwar nicht gedankenlos und dogmatisch zu beantworten, wie wir das im Alltag und selbst in der Wissenschaft oft tun, sondern kritisch, nachdem wir untersucht haben, was solche Fragen rätselhaft macht, und nachdem wir die ganze Verworrenheit und Verschwommenheit unserer normalen Vorstellungen erkannt haben.³

    Diese auf Bertrand Russell zurückgehende Charakterisierung der Philosophie ist eine von vielen möglichen, wenngleich eine sehr treffende, wie ich finde. Eine andere, ebenso treffende Charakterisierung stammt von Robert Spaemann: Philosophie, so Spaemann, ist ein gründliches, systematisches Nachdenken über letzte Fragen – Fragen, auf deren Nichtaufwerfen die Stabilität unserer allgemeinen Lebenspraxis beruht. Deutlich wissenschaftlicher geht es vergleichsweise beim berühmten Aristoteles zu. In seiner Metaphysik ist zu lesen, die Philosophie sei die Lehre von den allgemeinsten Wahrheiten und den letzten Gründen.⁴ Was die allgemeinsten Wahrheiten betrifft, so lassen sich die diesbezüglichen philosophischen Bemühungen am besten dadurch charakterisieren, dass man sie in ein Verhältnis zu den Einzelwissenschaften setzt:

    Wenn man nämlich in einer Spezialwissenschaft irgendeine Erkenntnis gewonnen hat, und wenn nun der forschende Geist noch weiter fragt nach den Gründen dieser Gründe, also nach den allgemeineren Wahrheiten, aus denen jene Erkenntnis abgeleitet werden kann, so gelangt er bald an einen Punkt, wo er mit den Mitteln seiner Einzelwissenschaft nicht mehr weiter kommt, sondern von einer allgemeineren umfassenderen Disziplin Aufklärung erhoffen muß. Es bilden nämlich die Wissenschaften gleichsam ein ineinander geschachteltes System, in welchem die allgemeinere immer die speziellere umschließt und begründet. So behandelt die Chemie nur einen begrenzten Teil der Naturerscheinungen, die Physik aber umfaßt sie alle; an sie also muß sich der Chemiker wenden, wenn er seine fundamentalsten Gesetzmäßigkeiten, etwa die des periodischen Systems der Elemente, der Valenz usw. zu begründen unternimmt. Und das letzte, allgemeinste Gebiet, in welches alle immer weiter vordringenden Erklärungsprozesse schließlich münden müssen, ist das Reich der Philosophie […]. Denn die letzten Grundbegriffe der allgemeinsten Wissenschaften – man denke etwa an den Begriff des Bewusstseins in der Psychologie, an den des Axioms und der Zahl in der Mathematik, an Raum und Zeit in der Physik – gestatten zuletzt nur noch eine philosophische […] Aufklärung.⁵

    Was wiederum die letzten Gründe betrifft, so könnte man sagen, dass die Philosophie diejenige Disziplin ist, die einen Erkenntnisabschluss zu gewinnen sucht, und zwar durch die Angabe eben letzter Gründe. Ein letzter Grund ist dabei einer, der selbst keiner Begründung mehr bedarf. Der Erkenntnisprozess soll so auf ein letztgültiges Erkenntnisfundament zurückgeführt werden.

    Tatsächlich ist die Frage nach dem Wesen der Philosophie so alt wie die Philosophie selbst und die Diskussionen ob der richtigen Antwort sind nach wie vor lebendig. Das liegt sehr wahrscheinlich daran, dass die Philosophie im Unterschied zu den zahlreichen einzelwissenschaftlichen Disziplinen keinen streng abgegrenzten Gegenstandsbereich hat. Der Grund dafür: In bestimmter Hinsicht kann alles Gegenstand philosophischer Betrachtung sein. Nicht nur Seiendes, sondern auch Nichtseiendes, nicht nur bestehende Sachverhalte, sondern auch bloß mögliche Sachverhalte und sogar Unmögliches, also unmögliche Sachverhalte, etwa widersprüchliche Gegenstände wie z. B. runde Vierecke. Manche Philosophinnen und Philosophen halten es daher für unmöglich, eine Definition von Philosophie nach dem Muster ›Philosophie ist die Lehre von …‹ geben zu wollen, denn die Antwort auf die Frage, was Philosophie ist und sein kann, variiert schließlich auch noch mit den philosophischen Schulen und Standpunkten. Es gibt, kurz gesagt, beinahe so viele Antworten auf diese Frage, wie es philosophische Schulen und Standpunkte gibt. Endlich ist sogar umstritten, ob die Philosophie überhaupt eine Lehre ist oder nicht vielmehr eine Art wissenschaftlicher Tätigkeit, etwa die Tätigkeit der Analyse von Sätzen und Satzsystemen. Zielführender könnte es daher sein, die Philosophie nach ihrem genuinen Problemfeld zu bestimmen. Denn trotz des unklaren Gegenstandsbereichs sowie der unterschiedlichen Schulen und Standpunkte gibt es ein Feld von Fragen und Problemen, mit denen sich Philosophinnen und Philosophen seit der Antike beschäftigen und wodurch darüber hinaus auch eine zumindest teilweise Abgrenzung von den Einzelwissenschaften möglich wird. Es handelt sich um Fragen und Probleme von ganz grundlegender Art, die normalerweise von keiner Einzelwissenschaft behandelt werden und die über den Bereich dessen, was die Einzelwissenschaften untersuchen, hinausgehen. Während man z. B. in den Einzelwissenschaften nach bestimmten Erkenntnissen oder allgemein gesagt nach Wahrheit sucht, wollen Philosophinnen und Philosophen wissen, ob und wenn ja wie Erkenntnis überhaupt möglich ist, welche Arten von Erkenntnissen es gibt und wie die Ausdrücke ›Erkenntnis‹ und ›Wahrheit‹ exakt zu definieren sind. Ein Mathematiker will das Verhältnis der Zahlen untereinander erforschen, doch ein Philosoph wird fragen: Was ist eine Zahl? Einen Psychologen interessiert die Tatsache, dass unsere psychische Verfassung unsere körperliche Verfassung beeinflusst und umgekehrt, doch dem Philosophen stellt sich die Frage, wie es überhaupt eine Beziehung zwischen körperlicher und geistiger Verfassung geben und wie man eine solche Beziehung erklären kann. Ein Physiker will wissen, woraus das Körperliche besteht „und was für die Schwerkraft verantwortlich ist, doch ein Philosoph wird fragen, woher wir wissen können, dass es außerhalb unseres eigenen Bewusstseins etwas gibt⁶. Und endlich mag ein Historiker fragen, „was in einem bestimmten Zeitraum der Vergangenheit geschah, doch ein Philosoph wird fragen: Was ist die Zeit?⁷ Das Hauptanliegen der Philosophie besteht demnach darin, sehr allgemeine Auffassungen über die Wirklichkeit, einzelne Aspekte derselben oder die Wirklichkeit insgesamt betreffend zu thematisieren, zu durchdringen, zu verstehen, zu begründen oder gegebenenfalls zu widerlegen.

    Ein Verstehen allerdings, das man durch bloßes Nachdenken zu erlangen sucht, denn anders als die meisten Wissenschaften geht die Philosophie nicht empirisch vor. Wie hat es Arthur Schopenhauer einst treffend auf den Punkt gebracht: „Das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen und es so als reflektiertes Abbild […] der Vernunft niederzulegen: Dieses und nichts anderes ist Philosophie."⁸ Das Abbild, von dem hier die Rede ist, ist Theorie. Eine logisch organisierte, mithin nach Grund und Folge geordnete, rationale Weltanschauung. Ein widerspruchsfreies System von Aussagesätzen, das uns darüber Auskunft gibt, was in ganz allgemeiner Hinsicht der Fall ist und was nicht. Somit ist aber auch klar, worum es in der Philosophie nicht geht: Es geht nicht darum zu handeln, in den Lauf der Dinge einzugreifen, ihm eine andere Richtung zu geben. Ein Umstand, der womöglich Karl Marx zu seinem berühmten Satz veranlasst hat: „Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern."⁹ Lehnen Sie sich zurück, öffnen Sie eine gute Flasche Wein, denn in der Tat: Die Veränderung der Welt ist nicht das Geschäft der Philosophie. Vernünftigerweise!

    An dieser Stelle sei mir ein Exkurs zum soeben eingeführten Begriff der Theorie erlaubt, denn die Rede von Theorien wird uns fortan begleiten: Wenn wir im Alltag vom Ausdruck ›Theorie‹ Gebrauch machen, dann tun wir dies auf ganz andere Weise, als es in der Philosophie der Fall ist. Theorien werden von vielen für etwas Unsicheres und Vorläufiges, ja in manchen Fällen sogar für etwas Unnützes gehalten – im Gegensatz zur Praxis, denn die Praxis gilt ihnen gemeinhin als unbezweifelbare Instanz, als Maß, an dem sich die Dinge zu messen haben. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir im Alltag nur über einen unzureichend genauen Theoriebegriff verfügen. Theorien im philosophischen Sinn – und letztlich auch im wissenschaftlichen – sind, wie oben bereits gesagt, Satzsysteme, die aus einer endlichen Menge von wahren Aussagesätzen bestehen und die einen Gegenstandsbereich nach Grund und Folge ordnen. Sie erfüllen strenge wissenschaftstheoretische und formallogische Anforderungen und wir sind damit imstande, einen bestimmten Ausschnitt der Welt umfassend und genau zu erklären. Alles andere sind keine Theorien. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Entwicklung einer Theorie in diesem Sinn zu den größten Leistungen menschlicher Geistestätigkeit zählt. Ob alle wissenschaftlichen Satzsysteme, die als Theorien bezeichnet werden, tatsächlich Theorien sind, ist zwar fraglich, dass aber jedenfalls nichts von dem, was für gewöhnlich in der Alltagssprache und bisweilen auch in populärwissenschaftlichen Darstellungen mit dem Ausdruck ›Theorie‹ bezeichnet wird, tatsächlich eine Theorie ist, das sollte zumindest in Ansätzen schon jetzt einsichtig sein. Wenn man also beispielsweise sagt, der Detektiv habe eine Theorie, wenn er bloß mutmaßt, dass der Gärtner der Mörder sei, dann ist das dem soeben eingeführten Theoriebegriff nach Unsinn.

    1.2 Zur Erkenntnistheorie

    Die Grundfrage der Erkenntnistheorie lautet: Können wir die Welt erkennen und wenn ja, wie liegt sie uns vor? Die Erkenntnistheorie betrachtet also die Wirklichkeit, insofern sie Gegenstand der Erkenntnis von Subjekten ist – im Unterschied etwa zur Metaphysik, die die Wirklichkeit an sich betrachtet. Man kann die Erkenntnistheorie daher als Ausdruck des Versuchs verstehen, die Situation aufzuhellen, in der wir Menschen uns im Hinblick auf unser Wissen über die Welt befinden. Was man sich diesbezüglich erwarten darf, ist eine systematische Untersuchung aller möglichen Erkenntnisarten, verbunden mit der Frage, welche der möglichen Erkenntnisarten uns in die Lage versetzt, gesicherte Erkenntnisse über die Welt und uns selbst als eines Teils davon zu erlangen. Dabei geht es um alltägliche und wissenschaftliche Erkenntnis, um Erkenntnis einzelner Tatsachen und allgemeiner Gesetze, um Erkenntnis durch Erfahrung bzw. Wahrnehmung oder durch Vernunft, um Erkenntnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ebenso wie um moralische oder religiöse Erkenntnis.¹⁰ Darüber hinaus gilt es freilich zu klären, was Erkenntnis bzw. Wissen überhaupt ist; also, wovon genau die Rede ist, wenn wir behaupten, dass wir dieses oder jenes erkennen oder wissen. Im Alltag, aber auch in den meisten Wissenschaften tun wir nämlich so, als würden uns diese Begriffe keinerlei Schwierigkeiten machen. Unsere Gesellschaft bezeichnet sich als Wissensgesellschaft – Wissen ist zu einer gesellschaftlich wertvollen Ressource geworden –, doch philosophisch gesehen, ist es um die Rechtfertigung unserer Wissensansprüche nicht gerade gut bestellt. Es bedarf daher brauchbarer Kriterien, um »echtes« Wissen von bloßem Scheinwissen unterscheiden zu können. Doch damit nicht genug: Die Erkenntnistheorie verfolgt auch noch andere Ziele, etwa die Herausarbeitung einer irrtumssicheren Grundlage für unser gesamtes Wissen oder die Formulierung erster Erkenntnisprinzipien, die jede Wissenschaft als gültig voraussetzen muss.

    Wir befänden uns allerdings nicht in der Philosophie, könnten wir ohne Widerrede fortfahren. Es gibt nämlich durchaus Philosophinnen und Philosophen, die das Projekt der Erkenntnistheorie für gescheitert halten. Hegel hat bekanntlich gegen die Erkenntnistheorie eingewendet: „Die Untersuchung des Erkennens kann nicht anders als erkennend geschehen und das ist so absurd, als schwimmen lernen, bevor man ins Wasser geht.¹¹ Leonhard Nelson ist ihm in ›Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie‹ darin gefolgt. Man hat der Erkenntnistheorie im Wesentlichen Zirkularität vorgeworfen, was Hegel in seinem Einwand auch andeutet. Viktor Kraft, ein Mitglied des berühmten Wiener Kreises, hat den Einwand Hegels zum Ausgangspunkt einer systematischen Darstellung der Erkenntnistheorie gemacht, und er fragt in seiner Erkenntnislehre, ob nach Hegels Fundamentalangriff „Erkenntnistheorie überhaupt noch möglich¹² ist.

    Man sollte erwarten, daß […] dies die erste Frage der Erkenntnislehre bilden müßte. Aber man hat sich nicht weiter mit ihr beschäftigt. Weil die Argumentation katastrophal erscheint und weil man sie doch nicht widerlegen kann, sich aber in seiner erkenntnistheoretischen Arbeit auch nicht stören lassen möchte, hat man darüber hinweggesehen und sich nicht weiter darum gekümmert. Solange jedoch nicht geklärt ist, wie es mit diesem schlagenden Einwand steht, weiß man nicht, ob das, was in der Erkenntnistheorie getrieben wird, überhaupt einen Sinn hat, oder was in ihr sinnvoll unternommen werden kann.¹³

    Um darüber Klarheit zu bekommen, muß man sich bewusst machen, was im Begriff der Erkenntnis eigentlich gesucht wird. […] Was die Erkenntnislehre sucht, ist […] klarzustellen, was als Erkenntnis erreicht werden soll und wie es erreicht werden soll. Sie will nicht alles hinnehmen, was als »Erkenntnis« aufgetreten ist, und gelten lassen, was den Anspruch erhebt, Erkenntnis zu sein. Sie will vielmehr zwischen unhaltbaren und gerechtfertigten Erkenntnisansprüchen zu sondern ermöglichen […]. Erkenntnis ist das Ergebnis eines geistigen Handelns, eines methodischen Verfahrens. Handeln wird durch Ziele geleitet und die Erkenntnislehre hat das Ziel […], die Richtschnur für das erkennende Handeln aufzustellen: sie normiert dieses. In einer Norm wird eine bestimmte Beschaffenheit als eine geforderte aufgestellt.¹⁴

    Die Erkenntnistheorie ist also zunächst und im Grunde eine normative Disziplin. Wenn man von der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie spricht, ist dies daher so zu verstehen, dass gewisse Ziele unerreichbar sind. Die Frage aber, welche Ziele (mit welchen Methoden) erreichbar sind und welche nicht, ist selbst schon eine typisch erkenntnistheoretische Frage. Doch nicht nur innerhalb der Grenzen der Erkenntnistheorie, sondern auch darüber hinaus stellt sich die Frage nach ihrer Legitimation. Denn:

    Mit menschlicher Erkenntnis, ihren Voraussetzungen, ihrer Natur, Leistung und Entwicklung befassen sich viele wissenschaftliche Disziplinen. Neurophysiologie und physiologische Psychologie untersuchen die physiologischen Grundlagen von Erkenntnisvorgängen. Wahrnehmungs-, Denk- und Lernpsychologie studieren Typen und Strukturen von Erkenntnisleistungen, ihre Zusammenhänge untereinander und ihre Beziehungen zum Verhalten. Die Entwicklungspsychologie erforscht die Onto- wie Phylogenese der Erkenntnis, die Entwicklungsphysiologie die Entstehung des menschlichen Zentralnervensystems und der Sinnesorgane, die Biologie ordnet die Entwicklung des menschlichen Erkenntnisapparats in den größeren Horizont der Evolution kognitiver Funktionen bei anderen Lebewesen ein. Die allgemeine Sprachwissenschaft befaßt sich mit den Zusammenhängen zwischen Sprache, Denken und Erfahrung, die Soziologie mit der sozialen Konstitution und Vermittlung von Erkenntnisinhalten.¹⁵

    Was bleibt nun angesichts dieser Vielzahl einzelwissenschaftlicher Zuständigkeiten für die Erkenntnistheorie als philosophischer Disziplin an Themen überhaupt noch übrig? „Noch für Kant stellten sich solche Fragen nicht. Zu seiner Zeit gab es keine eigenständige Psychologie oder Soziologie, keine biologische Anthropologie, wie sie seit Darwin möglich geworden ist. Es gab keine Disziplinen, die der Philosophie ihre Zuständigkeit für Fragen menschlichen Erkennens hätten bestreiten können."¹⁶ Das ist heute anders. Jene universelle Zuständigkeit für alle wichtigen Fragen über die Welt und den Menschen, die früher viele Philosophinnen und Philosophen für sich reklamierten, wird nun mit ähnlicher Naivität von der Naturwissenschaft beansprucht. Das philosophische Erkenntnisideal des Apriori wurde vom naturwissenschaftlichen des Aposteriori abgelöst.¹⁷ „Als wissenschaftlich gelten weithin nur mehr die Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaft, nicht die der Philosophie.¹⁸ Ob gerechtfertigt oder nicht, man muss anerkennen, dass es eine Fülle von Problemen gibt, die sich nur empirisch, d. h. durch naturwissenschaftliche Untersuchungen klären lassen. Man muss aber auch anerkennen, dass es Fragen gibt, die sich von den empirischen Einzelwissenschaften nicht behandeln lassen, weil sie die Voraussetzungen der jeweiligen Disziplin selbst betreffen. So geht z. B. die Biologie von einer (naiv-)realistischen Konzeption des Wirklichen aus, nach der es eine vom menschlichen Bewusstsein, „vom Erleben und Erkennen in ihrer Existenz wie Beschaffenheit unabhängige Außenwelt gibt, und sie beurteilt menschliche Wahrnehmung danach, in welchen Grenzen und wie genau unser Erleben den objektiven physikalischen Gegebenheiten entspricht.¹⁹ Doch auf die Frage, ob ein solcher Realismus haltbar ist – eine der zentralen Fragen der Erkenntnistheorie – kann man von ihr keine (empirisch gestützte) Antwort erwarten. Die philosophische Erkenntnistheorie fragt also nicht nur, wie Erkenntnis zustande kommt, sondern sie prüft die Voraussetzungen von Erkenntnis überhaupt. Dadurch führt sie letztlich zu einer kritischen Selbstbestimmung und zu einer normativen Bewertung unserer kognitiven Fähigkeiten.

    Blicken wir abschließend noch auf eine erkenntnistheoretische Debatte, die im Sinne dieser kritischen Selbstbestimmung von besonderem Interesse ist und die uns unmittelbar betrifft, die Debatte um Empirismus und Rationalismus. Empirismus und Rationalismus sind die dominanten erkenntnistheoretischen Positionen der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Streit über die Grundlagen der Erkenntnis ist hier omnipräsent. Viele bedeutende Denker haben Abhandlungen verfasst, um ihrem jeweiligen Standpunkt Ausdruck zu verleihen. Der Reihe nach:

    Der Kernthese des Empirismus zufolge, als dessen wichtigste Vertreter zumeist John Locke, David Hume und George Berkeley genannt werden, gründen alle oder jedenfalls die meisten unserer Erkenntnisse auf Erfahrung. Sie sind mit anderen Worten gesagt von Erfahrung abhängig. Man spricht daher auch von Erkenntnis a posteriori. Insofern kann man die Aussage Thomas von Aquins ›nihil est in intellectu quid non fuerit in sensu – nichts ist im Verstand, das nicht vorher durch die Sinne erfasst worden wäre‹ als Fundament des Empirismus verstehen. Die zentralen Elemente dieser Bestimmung bedürfen aber nichtsdestoweniger der Aufklärung. Das betrifft zunächst den Begriff der Erkenntnis. Fasst man ihn weit und zählt nicht nur Urteile und Schlüsse, sondern – wie Kant – auch Begriffe zu den Erkenntnissen, dann können sich hinter einem empiristischen Standpunkt drei voneinander unabhängige Thesen verbergen: Nämlich erstens, dass allen Begriffen, die wirklich etwas bezeichnen und die nicht bloß leere Worte sind, eine Erfahrung zugrunde liegt; zweitens, dass die Geltung aller Aussagen, die nicht aus anderen Aussagen ableitbar sind, auf Erfahrung beruht und schließlich drittens, dass alle wahren Aussagen, die nicht unmittelbar auf Erfahrung beruhen, aus Aussagen ableitbar sein müssen, die es tun. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Begriffs der Erfahrung. Die meisten Empiristen reduzieren Erfahrung auf das durch die äußeren Sinne Wahrgenommene oder Empfundene.²⁰ Andere wiederum rechnen nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Wahrnehmungen, durch die der Geist seine eigenen Tätigkeiten und die in diesem Zusammenhang hervorgebrachten Begriffe wahrnimmt, zur Erfahrung. Und endlich ist noch zu klären, wie das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Erkenntnis und Erfahrung jeweils bestimmt ist und was es im Genaueren heißt, dass Begriffe oder Ideen aus der Erfahrung stammen oder in ihr gegeben sind oder dass Aussagen von der Erfahrung abhängen. Eine Aufforderung, der wir zwar nicht nachkommen werden, die uns aber dennoch zeigt, dass sich empiristische Positionen auch im Hinblick auf die Deutung dieses Verhältnisses unterscheiden. Die klassische neuzeitliche Auffassung des Empirismus findet sich jedenfalls bei John Locke. John Locke spricht einerseits von innerer und äußerer Wahrnehmung und andererseits davon, dass der Verstand vor aller Erfahrung eine leere Tafel ist – eine tabula rasa –, ein passives Vermögen, dem sich die äußere wie die innere Welt sozusagen durch Erfahrung »einschreibt«.

    Dem Empirismus entgegengesetzt gründen der Kernthese des Rationalismus zufolge, als dessen wichtigste Vertreter zumeist René Descartes, Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz genannt werden, alle oder jedenfalls die meisten unserer Erkenntnisse auf bloßer Verstandestätigkeit. Sie sind mit anderen Worten gesagt von Erfahrung unabhängig. Man spricht daher auch von Erkenntnis a priori. Zwar wird zugegeben, dass der Verstand erst durch die Sinneswahrnehmung zur Tätigkeit veranlasst wird, denn „Kraft einer bewunderungswürdigen Ökonomie der Natur können wir keinen abstrakten Gedanken haben, der nicht irgendetwas Sinnliches – und wären es auch nur sinnliche Zeichen wie Buchstaben und Laute – bedürfte"²¹; doch letztlich ist es der Verstand, der es uns erlaubt, Erkenntnisse zu gewinnen. Er ist darüber hinaus, wie etwa Leibniz immer wieder betont hat, weder eine Tabula rasa noch ein bloß passives Vermögen. Eine Tabula rasa nicht, weil ihm bereits vor aller Erfahrung ein »funktionales Gerüst« gegeben ist – die sogenannten eingeborenen Ideen, auf die er sich von Urteil zu Urteil und von Schluss zu Schluss stützt – und ein bloß passives Vermögen nicht, weil Erkenntnis nicht etwas ist, das uns sozusagen zustößt, sondern etwas, das wir aktiv hervorbringen. Was hier bereits durchklingt, ist der erkenntniskritische Rückgang des Rationalismus auf das Erkenntnissubjekt und die damit einhergehende Analyse der Verstandesleistung. Ein philosophischer Ansatz, der uns bereits bei Descartes begegnen wird und der in Kants Transzendentalphilosophie seinen systematischen Höhepunkt erlebt. Insgesamt gehen die Rationalisten davon aus, dass sich auf Dauer nichts der Einsicht durch den Verstand verschließen kann. Dementsprechend gibt es auch nur vorläufig – nicht grundsätzlich – unlösbare Probleme.

    1.3 Zur Metaphysik

    Seit dem Scheitern des logischen Empirismus – jener philosophischen Position am Beginn des 20. Jahrhunderts, der zufolge alle wissenschaftlich sinnvollen Sätze über die Welt entweder Beobachtungssätze sind oder Sätze, die sich mithilfe von Logik und Mathematik auf Beobachtungssätze zurückführen oder aus ihnen erschließen lassen – und dem Ende des Linguistic turn – die von den Begründern der Analytischen Philosophie wie Frege, Russell und Wittgenstein ausgegangene Idee einer Überwindung der Philosophie durch philosophische Sprachanalyse –, ist die Metaphysik zwar in die Philosophie zurückgekehrt, hat das Transempirische vor allem im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Philosophie des Geistes neuen Aufschwung erfahren, doch im Vergleich zu allen bisherigen Zeiten führt sie nach wie vor ein Schattendasein. Die Gründe für diese nur zaghafte Revitalisierung nach dem raschen Niedergang der einst so großen, wenn auch umstrittenen Disziplin, wie wir bald bemerken werden, sind vielfältig. Dennoch kristallisieren Tendenzen aus: Da findet sich auf der einen Seite der schier unverrückbare Glaube vieler Einzelwissenschaftlerinnen und Einzelwissenschaftler, das Weltganze ohne Rückgriff auf metaphysische Realitäten erklären zu können. Es ist der Physikalismus, dem zufolge sich die Gesamtheit des Wirklichen in den von der Physik behaupteten Elementarteilchen und in Aggregaten solcher Teilchen erschöpft, der hier in seiner naturwissenschaftlichen Gestalt auftritt. Von der unreflektierten Vorstellung einer wahrnehmungsimmanenten Außenwelt getragen, wie sie im Naiven Realismus ihre philosophische Auskleidung findet und von der sich selbst die Physik nie ganz befreit hat, wird der Mythos eines der Erfahrung durch und durch zugänglichen Universums zur Doktrin. Auf der anderen Seite befindet sich die akademische Philosophie – so scheint es jedenfalls – noch immer in einem Rechtfertigungskampf um die eigene Existenz. Die intellektuellen Waffen, mithilfe derer sie diesen Kampf zu gewinnen sucht, zwingen sie zum Rückzug auf einen unmissverständlichen Standpunkt der Wissenschaftlichkeit. Dementsprechend ist die Begeisterung für Metaphysik auf beiden Seiten enden wollend. Doch man sollte sich von diesem Befund nicht beeindrucken lassen. Denn jene, die glauben, dass die empirischmathematischen Methoden der Naturwissenschaften hinreichend sind, um das Weltganze zu verstehen, irren sich ebenso wie jene, die glauben, man hätte es in der Metaphysik mit kruden, haltlos spekulativen, unwissenschaftlichen Gedankengebäuden zu tun. Die einen übersehen sowohl die wissenschaftstheoretischen Probleme der Objektivierung als auch den Umstand, dass ihre schlechthin wichtigste Voraussetzung, ohne die jede naturwissenschaftliche Forschung absurd wäre, selbst eine metaphysische ist: nämlich die Existenz einer objektiven, mithin von allen Subjekten und deren Bewusstseinsphänomenen unabhängige physische Welt. Die anderen wiederum übersehen nicht nur die erkenntnistheoretische Tragweite metaphysischer Gebäude, sondern haben auch nicht die geringste Ahnung im Hinblick auf deren Gütekriterien. Es sind vor allem diese beiden letzten Aspekte – die erkenntnistheoretische Tragweite metaphysischer Gebäude und ihre Gütekriterien – die uns im Zusammenhang mit dem Fantastischen Rationalismus und dem Versuch einer Überwindung der epistemischen Dogmatik des Mittelalters im besonderen interessieren. Doch zunächst noch zur Frage, womit wir es denn eigentlich zu tun haben: Was Metaphysik ist, was sie zu leisten imstande ist und was man also von ihr erwarten darf, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Für Peter van Inwagen etwa ist Metaphysik die Untersuchung letzter Realität.²²„Der Ausdruck ›letzte Realität‹ verweist auf den Gegensatz von Erscheinung und Wirklichkeit und einem möglichen Regress von Realitäten. Die letzte Realität ist das, was hinter allen Erscheinungen steht und alle Regresse von Erscheinungen und relativer Realität abschließt.²³ Für Reinhard Kleinknecht – meinem verehrten Doktorvater – wiederum ist Metaphysik der Inbegriff der Frage nach der Existenz und Beschaffenheit einer (wahrnehmungs-) transzendenten Wirklichkeit, die als Realgrund einer (wahrnehmungs-) immanenten Wirklichkeit in Erscheinung tritt. Und für Uwe Meixner endlich ist Metaphysik diejenige menschliche Aktivität, „die darauf abzielt, auf einer hohen Stufe der begrifflichen Allgemeinheit ein Gesamtbild von allem überhaupt und von uns Menschen darin hervorzubringen²⁴. Letztlich aber, so könnte man mit Alfred North Whitehead und Viktor Kraft die Quintessenz einer weiter gefassten Metaphysikdeutung herausschälend sagen, sind Metaphysiken, also diejenigen Denkgebäude, die im Rahmen metaphysischer Beschäftigung hervorgebracht werden, spekulative Systeme allgemeiner Ideen, Erfindungen, fantasievolle Konstruktionen, die es uns erlauben sollen, jedes Element unserer Erfahrung als besonderen Fall eines allgemeinen Schemas zu begreifen.²⁵ Doch hierin liegt nun gerade nicht das Moment ihrer Disqualifikation – worauf man aus der Perspektive des (wissenschaftlichen) Common Sense schnell zu schließen geneigt ist –, sondern das Moment ihrer außergewöhnlichen Tragweiten in erkenntnistheoretischen Belangen. Eine jede Metaphysik ist nämlich im Erfolgsfall erstens eine Theorie der erlebten Erscheinungen, der Bewusstseinsphänomene, des subjektiv Realen, zu dem alles gehört, was ein wahrnehmendes und denkendes Subjekt vorstellt: Häuser, Bäume, Hunde, Menschen, Bücher usw., schlechthin alles, was wir für gewöhnlich ›Welt‹ nennen; und ebenso Gedanken, Schlüsse, Urteile, Gefühle, Träume usw., schlechthin alles, was wir für gewöhnlich ›Geist‹ nennen. Weil damit aber auch die Bedingungen aufgestellt sind, unter denen die erlebnisgegebene Wirklichkeit einen rationalen, gesetzmäßigen Zusammenhang bildet, kommt man zweitens zu einer allgemeingültigen und notwendigen Erkenntnis bewusstseinstranszendenter Realität. Denn das, was den rationalen, gesetzmäßigen Zusammenhang der für sich allein genommen unzusammenhängenden Bewusstseinsphänomene konstituiert, muss aus erkenntnislogischen Gründen faktisch existieren. Weil man darüber hinaus bei genauerer Betrachtung zugeben muss, dass das von allen Wissenschaften gesuchte, nämlich das objektiv Reale, stets mit dem Bewusstseinstranszendenten zusammenfällt, ist durch eine Metaphysik nicht nur die erlebnisgegebene Wirklichkeit erklärt, sondern auch eine objektive Realität erkannt. Und diese allgemeine und notwendige Erkenntnis des objektiv Realen hat auch wirklich Geltung: „Sie gilt in der Weise einer notwendigen Annahme, einer Annahme, die anerkannt werden muß, weil sie die gegebenen Erscheinungen in ein rationales System bringt, weil sie die Ergänzung und Einordnung gibt²⁶, durch die sich die erlebnisgegebene Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Erscheinungen, mithin die Bewusstseinswirklichkeit „als […] rational erweist²⁷.

    Streng allgemeine Erkenntnisse von objektiver Realität sind also dadurch möglich, daß sie in der Weise und mit der Geltung einer Theorie aufgestellt werden. Und notwendig sind dann jene Erkenntnisse, welche sich aus diesen allgemeinen als besondere Fälle ergeben. Das ganze System einer strengen Erkenntnis von objektiver Realität besteht in Einsichten, daß etwas real vorhanden sein und so und so bestimmt sein und sich so und so verhalten muß, wenn die gegebene Wirklichkeit rational und begreiflich sein soll. […] So aber auch nur so läßt sich allgemeine und notwendige Erkenntnis einer objektiv realen Welt wirklich kritisch begründen: als Aufstellungen einer Theorie. […]²⁸

    Mit „dieser Erkenntnisweise der erklärenden Theorie²⁹ ist aber zugleich „das Prinzip einer Metaphysik […] hingestellt […], die so erwünscht und unentbehrlich ist als der konsequente Positivismus unhaltbar und unannehmbar ist, und die so wissenschaftlich ist als dieser wissenschafts-vernichtend.³⁰ Und zwar unabhängig davon, dass ihre Aussagen „weder Aussagen von Tatsachen noch syllogistisch beweisbar³¹ sind, sondern „spekulative Annahmen, wenn man will³². Denn die „Grundsätze, welche für unsere Erfahrung konstitutiv sind, können nur als unentbehrliche Bedingungen für ein logisches System"³³ zum Verständnis der erlebnisgegebenen Wirklichkeit Geltung erhalten und auf keinem anderen, sprich empirischem Weg legitimiert werden.

    Doch führt uns eine so verstandene Metaphysik nicht unvermeidbar in ein Erkenntnisdesaster, schnurstracks in eine Dunkelheit, die es doch zu überwinden gilt, eben gerade weil „die Grundsätze, derer sie sich bedient, keinen Probierstein der Erfahrung […] anerkennen"³⁴? Ist es nicht so, dass dem Wahnsinn Tür und Tor offen stehen, wenn wir uns im Zusammenhang mit der Erkenntnis objektiver Realität von der Empirie verabschieden und uns tatsächlich auf die Metaphysik verlassen? Mitnichten! Die Metaphysik ist kein freies Spiel der Einbildungskraft, denn der Probierstein der Erfahrung wird durch den Probierstein der analytischen Anwendbarkeit, der logischen Perfektion und der erkenntnislogischen Kohärenz ersetzt. Womit wir abschließend bei den Gütekriterien metaphysischer Denkgebäude angekommen wären.

    Der Probierstein der analytischen Anwendbarkeit: Die Wirklichkeit, die uns unmittelbar umgibt, ist immer schon Bewusstseinswirklichkeit. „Nur im Bewußtsein ist uns überhaupt etwas gegeben³⁵, gleichgültig, ob es sich um äußere, die Außenwelt betreffende oder um innere, die Innenwelt betreffende Gegebenheiten handelt. Die Aufhellung dieser Wirklichkeit „ist die einzige Rechtfertigung jeglichen Denkens; und den Ausgangspunkt für das Denken bildet die analytische Beobachtung […] [ihrer] Bestandteile³⁶. Wenn Metaphysik das Bemühen ist, ein System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element des unmittelbar gegebenen Wirklichen interpretiert werden kann, so bedeutet ›analytische Anwendbarkeit‹, dass alles, „dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewußt sind, den Charakter eines besonderen Falls im allgemeinen Schema haben"³⁷ muss. Finden sich Elemente, auf die das nicht zutrifft, so ist die betreffende Metaphysik gescheitert oder jedenfalls verbesserungsbedürftig.

    Der Probierstein der logischen Perfektion: Im Zusammenhang mit dem Probierstein der logischen Perfektion haben wir es mit den Gesetzmäßigkeiten der Logik zu tun; man könnte auch sagen mit den Gesetzmäßigkeiten des folgerichtigen Denkens. Es geht um logische Widerspruchsfreiheit, logische Verträglichkeit und logische Gültigkeit. Beginnen wir mit der logischen Widerspruchsfreiheit. Ein Aussagesatz A ist logisch widerspruchsfrei genau dann, wenn A nicht logisch widersprüchlich ist. A ist logisch widersprüchlich genau dann, wenn A die Negation von A impliziert. Bemühen wir Platon, der in der Apologie den Sokrates sagen lässt ›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹³⁸, um uns des Gemeinten gewahr zu werden: Der Satz ›Ich weiß, dass ich nichts weiß.‹ ist logisch widersprüchlich. Wenn ich weiß, dass ich nichts weiß, dann weiß ich ja etwas, nämlich dass ich nichts weiß. Ich kann aber nicht zugleich etwas wissen und nichts wissen. Logische Widerspruchsfreiheit zielt also auf die innere logische Struktur von Aussagesätzen ab. Anders verhält es sich mit der logischen Verträglichkeit. Sie beschreibt eine logische Beziehung zwischen Aussagesätzen. Ein Aussagesatz A ist logisch verträglich mit einem Aussagesatz B genau dann, wenn A nicht logisch unverträglich mit B ist. A ist logisch unverträglich mit B genau dann, wenn es unmöglich ist, dass sowohl A als auch B wahr ist. Mit anderen Worten: genau dann, wenn die Wahrheit des einen Satzes die Falschheit des anderen garantiert. Der Satz ›Alle Vögel, die Raben sind, sind schwarz.‹ ist z. B. logisch unverträglich mit dem Satz ›Vogel Nr. 453 ist ein Rabe und nicht schwarz.‹. Anders gewendet: ›Alle Vögel, die Raben sind, sind schwarz.‹ impliziert logisch ›Es ist nicht der Fall, dass Vogel Nr. 453 ein Rabe ist, der nicht schwarz ist.‹. Kommen wir noch zur logischen Gültigkeit. Mit der logischen Gültigkeit wird auf sogenannte Argumente Bezug genommen. Ein Argument – d. h. eine Aufeinanderfolge von Aussagen, mit der der Anspruch einhergeht, dass eine dieser Aussagen (nämlich die Konklusion) in einer bestimmten Folgebeziehung zu den anderen Aussagen (nämlich den Prämissen) steht – ist logisch gültig genau dann, wenn die Konklusion K des betreffenden Arguments aus den Prämissen P1 … Pn des Arguments logisch folgt. Dies ist genau dann der Fall, wenn es logisch unmöglich ist, dass alle Prämissen wahr sind und gleichzeitig die Konklusion falsch ist. Verdeutlichen wir uns dies auch hier an einem Beispiel:

    P1) Alle Kreter sind Lügner.

    P2) Epimenides ist ein Kreter.

    K: Epimenides ist ein Lügner.

    Dieses Argument ist logisch gültig. Warum? Wenn es wahr ist, dass alle Kreter Lügner sind und wenn es wahr ist, dass Epimenides ein Kreter ist, dann ist es logisch unmöglich, dass er kein Lügner ist. Er muss ein Lügner sein. Das ergibt sich zwingend aus P1 und P2. Mit anderen Worten: Die Konklusion dieses Arguments folgt logisch aus seinen Prämissen, denn es ist unmöglich, dass P1 und P2 wahr sind und zugleich K falsch. Was also den Probierstein der logischen Perfektion betrifft, so gilt: Finden sich in einer Metaphysik logische Widersprüche, logische Unverträglichkeiten oder logisch ungültige Argumente, so ist die betreffende Metaphysik gescheitert oder jedenfalls verbesserungsbedürftig.

    Der Probierstein der erkenntnislogischen Kohärenz endlich ist die wichtigste Rückversicherung gegen den intellektuellen Wahnsinn, von dem oben die Rede war. Dabei handelt es sich um den erkenntnislogischen Zusammenhang der Grundsätze. Jedes theoretische Gebäude, daher auch jede Metaphysik, beruht auf einer Reihe von Grundsätzen und diese Grundsätze müssen erkenntnislogisch zueinander in Beziehung stehen. Das heißt, es muss einen folgerichtigen epistemischen Weg geben, der es einem erlaubt, vom einen zum anderen Grundsatz überzugehen. Andernfalls müsste man sich den Vorwurf gefallen lassen, die Wahl der Grundsätze beruhe auf bloßer Willkür. Ein gutes Beispiel sind Gottfried Wilhelm Leibnizens Grundsätze über die Monaden, die uns noch begegnen werden, also diejenigen Entitäten im Universum, die ihm als letzte, in sich geschlossene, vollendete und nicht mehr auflösbare Einheiten gelten. Da gibt es einerseits den Grundsatz, dass keine wirkliche Monade mit irgend einer anderen in direkter Verbindung steht, weder kausal noch sonst wie. Andererseits gibt es aber den Grundsatz, dass alle wirklichen Monaden auf bestimmte Weise zusammenhängen. Doch wie kann das sein? Hätte es Leibniz dabei belassen, so wäre sein metaphysisches Gebäude erkenntnislogisch inkohärent, die Wahl seiner Grundsätze willkürlich. Es gäbe nämlich keinen Erkenntnisweg, der es einem erlauben würde, vom einen Grundsatz zum anderen überzugehen. Die fehlende Verbindung liegt nun im Fall von Leibniz in dem Grundsatz, dass die Monaden prästabiliert sind, d. h., dass sie bereits vor ihrem Entstehen aufeinander abgestimmt wurden. Dementsprechend gilt: Finden sich in einer Metaphysik inkohärente Grundsätze, so ist die betreffende Metaphysik gescheitert oder jedenfalls verbesserungsbedürftig.

    Fassen wir unsere Überlegungen zusammen, sodass sich der Standpunkt, von dem oben die Rede war, noch einmal auskristallisiert: Metaphysik ist der Versuch, ein System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element der erlebnisgegebenen Wirklichkeit interpretiert bzw. verstanden werden kann, und zwar so, dass alles, was darin vorkommt, den Charakter eines besonderen Falls in einem allgemeinen Schema hat. Im Erfolgsfall ist nicht nur eine Theorie der Bewusstseinsphänomene aufgestellt, sondern zugleich eine Theorie bewusstseinstranszendenter, mithin objektiver Realität. Das Bedingende nämlich, das die für sich genommen zusammenhangslosen Bewusstseinsphänomene in einen gesetzmäßigen Zusammenhang bringt, kann aus erkenntnislogischen Gründen nichts anderes sein als objektive Realität. Weil sich aber eine solche Theorie dem Probierstein der Erfahrung notwendig entzieht – die Realität, von der sie spricht, liegt ja selbst niemals im Bewusstsein, d. h. in der Erfahrung vor –, muss sie dem Probierstein der analytischen Anwendbarkeit, der logischen Perfektion und der erkenntnislogischen Kohärenz standhalten. Ist das der Fall, so ist sie als erklärende Theorie des Wirklichen legitimiert und zwar trotzdem oder gerade weil sie von Realitäten handelt, die die unmittelbare Erfahrung transzendieren. Und was insbesondere die Metaphysiken betrifft, von denen im Zusammenhang mit dem Fantastischen Rationalismus der Neuzeit die Rede sein wird, so muss man sie durchaus als theoretische Gebäude in diesem Sinne betrachten.³⁹

    1.4 Zur Ethik

    Die Ethik ist sehr wahrscheinlich jene philosophische Disziplin, die uns auch aus dem Alltag bekannt ist. Man liest und hört immer wieder von ihr, etwa wenn von Medizinethik, vom Ethikrat, von Unternehmensethik oder vom gleichnamigen Schulfach die Rede ist oder einfach nur davon, dass dieses oder jenes ethisch verwerflich oder ethisch zu begrüßen sei. Tatsächlich dringt die Ethik weit in die Alltagswelt vor und zählt heute neben der Philosophie des Geistes zu den aktivsten Disziplinen der Philosophie. Ihr Gegenstand oder besser gesagt ihr Gegenstandsbereich ist die Moral. In der Ethik haben wir es mit der Moral zu tun. Doch was ist Moral? Moral ist ein auf einen bestimmten Personenkreis bezogenes System von Werten und Verhaltensnormen (man spricht deshalb auch von Moralsystemen), die von den betreffenden Personen als verbindlich angesehen werden, aufgrund derer sie zwischen gut und böse zu unterscheiden trachten und versuchen, moralisch richtig zu handeln. Auf diese Weise ist die Moral als praktisches Instrument der Lebensführung in unsere Alltagswelt eingebettet. Sie dient uns zur Regulierung des Handelns, und zwar im Hinblick auf die Befriedigung der Eigeninteressen des Einzelnen. Diese Regulierung wird notwendig, wenn Menschen in Gemeinschaften leben, denn in einer Gemeinschaft müssen die Befriedigung der Eigeninteressen und das Wohl aller in eine Balance gebracht werden, so ein ernsthaftes Interesse daran besteht, die betreffende Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. In welcher Weise das geschehen soll, darin unterscheiden sich die verschiedenen Moralsysteme und diese Frage reicht bereits weit in die Ethik hinein. Der Zweck der Ethik liegt nun dementsprechend darin, moralische Systeme auf Funktion, Sinnhaftigkeit, Begründbarkeit, Wahrheit und Bedeutungsgehalt hin zu untersuchen. Eine wichtige Aufgabe, denn wir halten uns an (moralische) Konventionen gemeinhin nur solang, solang sie uns als wahr oder sinnvoll oder begründet oder bedeutsam erscheinen. Die Ethik ist also diejenige philosophische Disziplin, die moralische Phänomene, moralische Fragestellungen, moralische Anschauungen und moralische Einstellungen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen macht. Doch nicht nur das: Sie ist darüber hinaus eine Disziplin, die entlang der Beschäftigung mit der Moral sogenannte Moraltheorien hervorbringt. Das sind ideale Systeme, vermittelst derer man versucht, die Fehler etablierter Moralsysteme zu beheben. Denn während es im moralischen Kontext hinreichend ist, dasjenige zu tun, was für moralisch richtig gehalten wird, geht es in der Ethik darum, herauszufinden, was moralisch richtig ist. Solche idealen Systeme sollen uns daher Prinzipien an die Hand geben, die es uns erlauben, in jedem Fall zwischen gut und böse zu unterscheiden und moralisch richtig zu handeln. Im Zusammenhang mit Baruch de Spinoza wird uns die Ethik allerdings in einem anderen Kleid begegnen, denn historisch gesehen hat sie sich weitestgehend mit der Frage nach den Voraussetzungen bzw. den Bedingungen eines guten, d. h. gelingenden Lebens beschäftigt und das ist in der Tat die zentrale Frage Spinozas, wie sich uns noch zeigen wird.

    Somit haben wir unsere Vorbereitungsarbeiten abgeschlossen. Im nächsten Schritt suchen wir noch einen Drehpunkt, der das Zentrum unseres Nachdenkens über den Fantastischen Rationalismus zu bilden vermag, bevor mit Descartes, Spinoza, Leibniz und Kant das eigentliche Spektakel – eine Aufführung in vier Akten – beginnt.

    ¹ Das sind nebenbei gesagt drei der vier Kerndisziplinen der Philosophie. Diejenige Disziplin, die in dieser Aufzählung fehlt, ist die Logik, die Lehre von den Gesetzmäßigkeiten des folgerichtigen Denkens. Für eine Einführung in die Philosophie vgl. Waß, Bernd; Palasser, Heinz: Grundlagen der Philosophie, Einführung in die Geschichte und die Kerndisziplinen, 2., überarbeitete Auflage, tredition, Ahrensburg, 2023.

    ² Russell, Bertrand: Probleme der Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1967, S. 9.

    ³ Ebenda.

    ⁴ Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Rowohlt, Hamburg, 2005.

    ⁵ Schlick, Moritz: Allgemeine Erkenntnislehre, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1979, S. 17 f.

    ⁶ Nagel, Thomas: Was bedeutet das alles? Reclam, Stuttgart, 2008, S. 6.

    ⁷ a. a. O. S. 7.

    ⁸ Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2015, S. 521.

    ⁹ Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke (MEW), Band 3, Dietz, Berlin, 1969, S. 535. Das hier vorliegende Zitat entstammt dem von Engels 1888 veröffentlichten Text, in dem der später berühmt gewordene Ausdruck ›kömmt‹, anstelle des Ausdrucks ›kommt‹, noch keinen Gebrauch findet.

    ¹⁰ Wenn in der Erkenntnistheorie von ›Erkenntnis durch Erfahrung‹ die Rede ist, dann ist damit nicht Lebenserfahrung gemeint, sondern Erkenntnis aufgrund von Wahrnehmung (zumeist Sinneswahrnehmung).

    ¹¹ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 10.

    ¹² Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer, Vienna, 1960, S. 1.

    ¹³ Ebenda.

    ¹⁴ Kraft, Victor: Erkenntnislehre, Springer, Vienna, 1960, S. 23.

    ¹⁵ Von Kutschera, Franz: Grundfragen der Erkenntnistheorie, Gruyter, Berlin, 1982, Vorwort.

    ¹⁶ Ebenda.

    ¹⁷ Erkenntnis a priori: von Erfahrung unabhängig; Erkenntnis a posteriori: von Erfahrung abhängig. Die hier angegebene Bedeutung ist die philosophische Bedeutung der Ausdrücke. Bildungssprachlich werden die beiden Ausdrücke auch so gebraucht: ›a priori‹ im Sinne von ›von vornherein‹ bzw. ›a posteriori‹ im Sinne von ›nachträglich‹ bzw. ›später‹.

    ¹⁸ Von Kutschera, Franz: Grundfragen der Erkenntnistheorie, Gruyter, Berlin, 1982, Vorwort.

    ¹⁹ Von Kutschera, Franz: Grundfragen der Erkenntnistheorie, Gruyter, Berlin, 1982, Vorwort.

    ²⁰ Für diese Spielart des Empirismus, die in den Sinnesdatentheorien des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen und näher spezifiziert wird, hat sich die Bezeichnung ›Sensualismus‹ durchgesetzt.

    ²¹ Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Meiner, Hamburg, 1996, S. 39.

    ²² Vgl. Van Ingwagen, Peter: Metaphysics, Oxford 1993, in: Koch, Anton Friedrich: Metaphysik uns spekulative Logik, in Lutz-Bachmann, Mathias; M. Schmidt, Thomas (Hg.): Metaphysik heute – Probleme und Perspektiven der Ontologie, Karl Alber, Freiburg/München, 2011.

    ²³ Koch, Anton Friedrich: Metaphysik uns spekulative Logik, in: Lutz-Bachmann, Mathias; M. Schmidt, Thomas (Hg.): Metaphysik heute – Probleme und Perspektiven der Ontologie, Karl Alber, Freiburg/München, 2011, S. 41.

    ²⁴ Meixner, Uwe: Klassische Metaphysik, Alber Verlag, München, 1999, S. 9.

    ²⁵ Vgl. Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1987. Vgl. Kraft, Viktor: Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, Ambrosius Barth, Leipzig, 1911.

    ²⁶ Kraft, Viktor: Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, Ambrosius Barth, Leipzig, 1911, S. 195.

    ²⁷ Ebenda.

    ²⁸ Ebenda.

    ²⁹ a. a. O. S. 201.

    ³⁰ Ebenda.

    ³¹ a. a. O. S. 200.

    ³² Ebenda.

    ³³ Ebenda.

    ³⁴ Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede, Meiner, Hamburg, 1998, S. 5, AVII.

    ³⁵ Von Kutschera, Franz: Die großen Fragen, Walter de Gruyter, Berlin, 2000, S. 13.

    ³⁶ Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1987, S. 33.

    ³⁷ a. a. O. S. 31.

    ³⁸ Es handelt sich hier im Übrigen um einen Übersetzungsfehler. Wörtlich übersetzt müsste der Satz lauten ›Ich weiß, dass ich nicht weiß‹, und zwar im Sinne einer Entwicklung der eigenen Erkenntnis von der Entlarvung des Scheinwissens, über das gewahr werden des Nichtwissen, hin zur Weisheit als Wissen um das Gute. So löst sich der Widerspruch auf.

    ³⁹ Ob die von unseren Protagonisten vorgelegten Theorien in der Tat allen Probiersteinen standhalten, ist fraglich. Doch das tut insofern nichts zur Sache, als es uns hier nicht darum geht, sie kritisch zu beleuchten, wie eingangs bereits erwähnt, sondern sie nachzuvollziehen und ihre wesentlichen Aspekte zu verstehen.

    KAPITEL 2

    DER

    DREHPUNKT

    DES

    Nachdenkens

    „DIE PHILOSOPHIE IST EINE ART RACHE AN DER WIRKLICHKEIT."

    – FRIEDRICH NIETZSCHE –

    Am Beginn eines jeden Nachdenkens steht die Suche nach einem Drehpunkt, der das Zentrum dieses Denkens zu bilden vermag, von dem aus die Fäden gesponnen, aber auch verstehend zurückverfolgt werden können. Und obwohl sich dieser Drehpunkt von Protagonist zu Protagonist verschieben wird, wie wir noch sehen werden, bleibt seine Achse stets dieselbe: Man muss die Philosophie René Descartes’, Baruch de Spinozas, Gottfried Wilhelm Leibnizens und Immanuel Kants einerseits als Fundamentalkritik der philosophischen Weltdeutung des Mittelalters insbesondere der Scholastik betrachten und andererseits als philosophischen Neubeginn, als intellektuellen Beitrag zu den gewaltigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen der Neuzeit. Insofern ist es zweckmäßig, uns diesbezüglich zumindest einen Überblick zu verschaffen, denn nur vor dem Hintergrund jener Zeit lässt sich die außergewöhnliche Bedeutung dieser Philosophen für das moderne Denken, die Originalität ihrer Philosophie und die Wirkmächtigkeit ihrer Beiträge angemessen erfassen.

    2.1 Die Philosophie des Mittelalters¹

    Spricht man von der Philosophie des Mittelalters, so überspannt man einen Zeitraum des abendländischen Denkens von rund eintausend Jahren. Ein Denken, das mit dem Untergang des weströmischen Reiches (476) bzw. der Schließung der Akademie Platons durch Kaiser Justinian I. (529) anhebt und mit dem Beginn der Reformation (1517), dem Anbruch der sogenannten Neuzeit, endet. Eingebettet in die Patristik² – die Zeit der Kirchenväter³ – (in etwa 2. bis frühes 8. Jahrhundert) und die Scholastik⁴ – die Zeit der Schulen und der methodischen Beweisführung – (in etwa 11. bis ca. Ende 13. Jahrhundert) gibt es kaum eine andere Epoche der philosophischen Weltdeutung, deren Charakteristik so klar zutage tritt wie jene der Philosophie des Mittelalters. Seit Augustinus von Hippo⁵ (354–430), dem größten der Kirchenväter und Lehrer des Abendlandes, insbesondere aber seit Bischof Anselm von Canterbury (1033–1109), gehorcht sie dem Motto: „Wisse um glauben, glaube um wissen zu können.⁶ Die Philosophie, die bis hierher die großen Fragen um Welt, Mensch und Gott allein vermittelst der Vernunft zu beantworten suchte, „verbindet sich in dieser Periode mit dem religiösen Glauben und er mit ihr […]7. Wie sonst zu keiner anderen Zeit „der abendländischen Geistesgeschichte lebt hier eine ganze Welt in der Sicherheit über das Dasein Gottes, seine Weisheit, Macht und Güte; über die Herkunft der Welt, ihre sinnvolle Ordnung und Regierung; über das Wesen des Menschen und seine Stellung im Kosmos, den Sinn seines Lebens, die Möglichkeiten seines Geistes im Erkennen des Weltseins und in der Gestaltung des eigenen Daseins; über seine Würde, Freiheit und Unsterblichkeit; über die Grundlagen des Rechts, die Ordnung der Staatsmacht und den Sinn der Geschichte⁸. Der Wucht dieser Sicherheit nichts entgegenzusetzen vermögend, tritt die Philosophie zurück, denn die Lösung ihrer genuinen Probleme ist keine Kategorie mehr; „sie waren schon gelöst durch den Glauben⁹. Das, was auf dem Boden dieses Glaubens stehend ab jetzt ihre Aufgabe ist und bis zum Ende des Mittelalters auch bleiben wird, ist nur noch die „Begründung, Verteidigung, Erläuterung, wissenschaftliche Analyse und Synthese"¹⁰ der Inhalte desselben. Mithin: Die Philosophie eine Magd der Theologie. Ein Befund, der auf den einflussreichen Benediktinermönch und Kirchenlehrer Petrus Damiani (1006–1072) zurückgeht, für den die reine Philosophie eine Erfindung des Teufels ist und die Gesetze der Logik – für die Philosophie von alters her das Maß aller Dinge – vor Gott ungültig. Historisch gesehen erscheint es daher nicht verwunderlich, dass die Eigenständigkeit des philosophischen Denkens dieser Zeit vielfach bezweifelt wird. Doch man darf die Bedeutung der Philosophie des Mittelalters trotzdem nicht verkennen:

    Einmal bildet das Mittelalter die Brücke von der Antike zur Neuzeit. Es hat nicht nur die alten Codices abgeschrieben, hat damit nicht nur Wissen und Kunst der Antike aufbewahrt, es hat in seinen Schulen auch die Kontinuität der philosophischen Problematik aufrechterhalten. Die so grundlegende Thematik, z. B. um die Substanz[11], die Kausalität, die Realität, Finalität, Universalität und Individualität, Sinnlichkeit und Erscheinungswelt, Verstand und Vernunft, Seele und Geist, Welt und Gott, taucht nicht erst im Humanismus und der Renaissance wieder wie neu und unmittelbar von der Antike kommend auf, sondern wird den neuzeitlichen Philosophen vom Mittelalter her übergeben. […] Und schließlich ist das Mittelalter in vieler Hinsicht vorbildlich:¹²

    „Formal durch die logische Schärfe und Stringenz seiner Gedankenführung und den objektiven Charakter seiner Wissenschaftsauffassung¹³ und inhaltlich durch seine Lehre vom Naturrecht, seine Lehrsätze über die Substanz, die Realität, die Seele, die Wahrheit, die Menschenrechte, das Wesen des Staates usw., die einen unverlierbaren Wert darstellen und worauf sich das Denken der Neuzeit, wenn auch in kritischer Absicht, wie selbstverständlich bezieht.¹⁴ Die tiefgreifenden philosophischen Gedanken und Ideen der Neuzeit, die unsere Geistesgeschichte auf fundamentale Art verändern werden, sind keine creatio ex nihilo, die voraussetzungslos aus dem Nichts entstehen, sondern es handelt sich, wie Ernst Cassirer sagt, um die Weiterbildung gewisser großer geistiger Grundmotive, „die einen so allgemeinen Gehalt in sich tragen, daß sie den Wechsel der Zeiten überdauern. Jede Epoche bildet neue, ihr Gemäße Formen für sie aus; aber in all diesen Formen kehrt doch ein bestimmter gleichartiger Gedankeninhalt wieder. Hier gibt es keinen Sprung und keinen plötzlichen Bruch¹⁵. Verschaffen wir uns daher einen Überblick über die philosophischen Errungenschaften der Patristik einerseits und der Scholastik andererseits.

    2.1.1 Die Patristik

    Was sich in der Patristik zunächst spiegelt, ist das Spannungsverhältnis des jungen Christentums zur Philosophie: Man lehnt sie ab und re-etabliert sie. Abgelehnt wird sie, weil man die Philosophen, die Wahrheits- und Weisheitssucher, schlicht und ergreifend nicht mehr benötigt. Wahrheit und Weisheit sind nämlich keine relativen, flüchtigen Gegenstände mehr, derer man, wenn überhaupt, nur mit äußerster Anstrengung habhaft zu werden vermag, sondern absolut, ewig und von Gott geoffenbart: ›Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben […].¹⁶‹ ist in der heiligen Schrift zu lesen und weiter: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.¹⁷ Denn „die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich nicht von mir selbst aus. Und der Vater, der in mir wohnt, der tut seine Werke.¹⁸ Mit derartigen Evidenzen ausgestattet verwundert es freilich nicht, dass auf philosophische Weltdeutung verzichtet werden kann. Ein erster Hinweis auf die Fundamentalkritik und den Neubeginn des philosophischen Denkens der Neuzeit, denn der Geist dieser ungeheuren epistemischen Sicherheit wird die Philosophie des Mittelalters nicht mehr verlassen und René Descartes, mit dem die Neuzeit – philosophisch gesehen – anhebt, wird der erste sein, der zu einem radikalen philosophischen Zweifel zurückfindet. Nichtsdestoweniger aber wird die Philosophie, um zum Thema zurückzukommen, reetabliert, indem der Vernunft als einem von Gott gegebenen Erkenntnisvermögen zumindest ein teilweises Recht eingeräumt wird und es beispielsweise bei Paulus (10–60), dem Apostel und Theologen heißt: „Was von Gott erkennbar ist, das ist […] [den Ungläubigen]¹⁹ offenbar; Gott hat es ihnen kundgetan, läßt sich doch sein unsichtbares Wesen und seine ewige Macht und Göttlichkeit seit Erschaffung der Welt durch seine Werke mit dem Auge des Geistes wahrnehmen.²⁰ Ein Für und Wider, das sich fortsetzt. Justin der Märtyrer (100–165) beispielsweise, einer der ersten Kirchenväter und Verteidiger des Christentums, heute im Übrigen der Patron der Philosophen, ist unzufrieden mit den alten Philosophenschulen: „Die Stoiker wissen nichts von Gott, die Peripatetiker sind zu geldgierig, die Pythagoreer zu theoretisch, die Platoniker zu kühn in ihren Behauptungen – nur für die Christen ist die Wahrheit zur Wirklichkeit geworden.²¹ Doch andererseits musste ein hinreichend allgemeiner Standpunkt bezogen werden, der für die zu bekehrenden Ungläubigen, insbesondere für die Gebildeten unter ihnen, nicht nur annehmbar, sondern dessen Blickwinkel ihnen auch verbindlich war, und das war die Philosophie. Die zugunsten der Philosophie ausschlaggebende Entscheidung in diesem Hin und Her aus Ablehnung und Befürwortung findet sich schließlich bei Augustinus: Wenn die Philosophen etwas Wahres und dem Glauben Gemäßes gesagt haben, so Augustinus, „dann ist das nicht nur nicht zu fürchten, sondern wir sollten es wie von unberechtigten Besitzern zu unserem eigenen Gebrauch in Anspruch nehmen, und zwar in einem mehrfachen Sinn²². Erstens gilt es, „den Geist überhaupt formal zu schulen, um zum klaren und schönen Denken und Sprechen zu kommen²³. Zweitens gilt es, „die Gedanken der alten Philosophen aufzugreifen, um sich damit, wenn es notwendig ist, auseinanderzusetzen²⁴, und schließlich soll die Philosophie drittens dazu dienen, die Glaubenssätze spekulativ, d. h. in metaphysischer Analyse zu erhellen, „während umgekehrt der Glaube auch […] die Vernunft weiterführen muß²⁵. Eine Formel, die zum Leitmotiv der gesamten mittelalterlichen Philosophie avanciert; und obschon ihr Stand auf den eines Hausmädchens zurückgestuft wird, spielt sie nichtsdestoweniger eine tragende Rolle, denn die Verheiratung von Religion und Philosophie, von Glaube und Theorie, von geoffenbarter Einsicht und logischer Strenge ist für die Geschichte des Abendlandes von gewaltiger Bedeutung: „Jetzt konnte der Glaube zur Theologie werden, die Lehrverkündung zur Literatur, das Christentum zur Kultur. Seine Vertreter brauchten nicht ins Ghetto gehen, sondern konnten den Boden des Forums betreten, die Hörsäle der Universitäten, die Versammlungsräume der Parlamente und der Ministerien."²⁶ Zwar bleibt das Ja der Patristik zur alten Philosophie zwiespältig, werden etwa die Gedanken der Skeptiker und Epikureer fast zur Gänze vernachlässigt – verwertbar einzig die Argumente gegen den Polytheismus –, wird die große Philosophie des Aristoteles kaum berücksichtigt – zu blass sein Gottesbegriff des unbewegten Bewegers und seine Ethik viel zu sehr im Diesseits verwurzelt – und werden Platons umfassende Überlegungen weitestgehend auf seine Metaphysik reduziert – kann bei den Kirchenvätern letztlich nur das transzendente Moment der Ideenwelt, sein Körper-Geist-Dualismus und die Unsterblichkeit der Seele ein Gefühl von Wahlverwandtschaft heraufbeschwören –, doch die Philosophie wird nichtsdestoweniger zu einem beständigen Teil des mittelalterlichen Denkens. Die fundamentalen Probleme, die die Seelsorger, Prediger, Exegeten, Theologen und Apologeten der Patristik immer wieder auf philosophisches Terrain führen, sie dazu zwingen, vermittelst philosophischer Methode voranzukommen, sind nämlich jene, die von alters her die Probleme der Philosophie sind: Wissen, Gott, Schöpfung, Logos, Mensch, Seele, Wahrheit, Freiheit, Sittlichkeit u. d. m. Was die Patristik diesbezüglich hervorbringt, wie sie versucht, dem Glauben ein theoretisches, also logisch hinreichendes Fundament zu geben, das lässt sich der Reihe nach in aller Kürze in etwa so sagen:

    Vor dem Hintergrund eines neuen, sich in den Anfängen der patristischen Philosophie ausbildenden Wissensbegriffs, der die erkenntnislogische Differenz von Wissen und Glauben aufhebt²⁷, weil sie mit der Erkenntnissicherheit geoffenbarter Glaubensinhalte unverträglich ist, fragt Augustinus in kritischer Absicht, was früher sei, das Wissen oder der Glaube, und er antwortet: An sich geht der Glaube voran, weil er unser Herz vorbereiten muss, einst das zu erkennen, was wir jetzt noch nicht begreifen. Soweit allerdings die menschliche Vernunft einsieht, dass dieser Vorrang von besonderer Güte ist, geht doch das Denken dem Glauben voran.²⁸ „Und schließlich auch insofern noch, als wir nicht glauben könnten, wenn wir nicht einen denkenden Geist […] hätten.²⁹ Eine Auffassung, die „die Erhabenheit des geoffenbarten Glaubens bewahrt, […] die Möglichkeit […] für eine kommende Glaubenswissenschaft³⁰ aber nicht verbaut, weil sie ohne Sakrileg dazu berechtigt, der Offenbarung die Vernunft an die Seite zu stellen. So lässt sich nun etwa die Frage nach den Grundlagen und der Möglichkeit der Erkenntnis Gottes ohne Weiteres auf natürlichem Weg beantworten; kann aufruhend auf dem Begriffssystem der Stoa von der Ordnung und der Schönheit der Welt – also von Kausalität und Telos – auf das Wirken eines göttlichen Weltbaumeisters geschlossen werden; kann aber auch die Bestimmung des Wesens dieses Weltbaumeisters durchgeführt werden: Aus dem Blickwinkel des Neuplatonismus³¹ betrachtet, sieht man seine Transzendenz, sein nicht der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Körper und Phänomene angehören, denn der ewige Gott ist, anders als die Körperwelt, unveränderlich; sieht man aber auch sein bloßes Geist sein, denn er ist nicht an den Raum gebunden, unteilbar und nicht ausgedehnt und darum in keiner Weise körperlich.

    Was für die Frage nach der Erkenntnis Gottes gilt, gilt in gleicher Weise für das Problem des Schöpfungsbegriffs. Auch hier – sowie des Weiteren über all sonst – spielt die natürliche, auf Vernunft aufruhende, philosophische Deutung eine wichtige Rolle: Unter Rückgriff auf Platon (428–348 v. Chr.) sieht der Theologe Clemens von Alexandria (150– 215), dass „der Schöpfung vorbildliche Ideen zugrunde liegen und sie die Realisierung eines mundus intelligibilis³², einer durchdachten, verständlichen Welt, bedeutet. Zwar führt er, anders als Platon und der Neuplatonismus es tun, „entsprechend der Bibel den Begriff einer Schöpfung aus dem Nichts ein, die auf Grund eines göttlichen Willensaktes in der Zeit erfolgt³³, doch im Umgang mit dem sich daraus ergebenden Zeitproblem – dem Widerspruch eines ewigen Gottes mit der Zeitlichkeit der Schöpfung wie des Geschöpften – wird der Pfad der Offenbarung erneut verlassen. Denn bald nimmt man eine ewige Schöpfung an, aber nur, was den Willensakt der Schöpfung selbst angeht, während seine Realisierung in der Zeit liegt; bald ist nicht nur der Willensakt, sondern auch die Welt selbst ewig, und zwar derart, dass Welten kommen und gehen von Ewigkeit zu Ewigkeit; bald auch lässt man die Zeit erst mit dieser unserer Welt entstehen, während der Schöpfungsakt selbst zeitlos ist.³⁴ Eine der diesbezüglich wohl berühmtesten Zeitbetrachtungen stammt von Augustinus. Im elften Buch seiner ›Confessiones‹³⁵ behauptet er, dass es die Zeit, d. h. die Ordnung des Nacheinander als eines Übergangs vom Zukünftigen zum Gegenwärtigen und vom Gegenwärtigen zum Vergangenen nicht gibt. Das, was es gibt, ist nur Gegenwart, nämlich die Gegenwart des Zukünftigen, die Gegenwart des Gegenwärtigen und die Gegenwart des Vergangenen; denn die Zukunft ist ja stets noch nicht und die Vergangenheit stets nicht mehr existent. Eine zur Gegenwart erstarrte Zeit ist aber nicht Zeit, sondern Ewigkeit. Typisch ist aber „auch der Gedanke der Simultanschöpfung, wonach Gott, trotz des biblischen Berichts über das Sechstagewerk, die Welt doch auf einmal in der ganzen Breite ihres Formenreichtums geschaffen habe.³⁶ Ein Gedanke, der sich wie von selbst entlang der idealistischen Morphologie³⁷, „die mit dem Platonismus und seiner Lehre von der Ewigkeit der Formen gegeben ist³⁸, aufdrängt.

    Untrennbar mit der Schöpfungslehre ist der Logos³⁹-Gedanke verbunden. Zunächst einmal „ist der Logos die Summe von Ideen, mit denen sich Gott selbst denkt.⁴⁰ Schon bei Philon von Alexandria (25 v. Chr.), einem der wirkmächtigsten Denker des hellenistischen Judentums, werden die „Ideen, die in der genuinen platonischen Philosophie eine Welt objektiver, in sich selbst ruhender unpersönlicher Wahrheiten waren, zu Gedanken eines persönlichen Gottes […].[41] Jetzt spiegeln sie das ganze Wesen Gottes wider, und darin liegt ihr Ursprung. Der Logos ist die ewige Weisheit Gottes, […] das Wort, durch das er sich selbst ausspricht […]⁴². Was die Schöpfung betrifft, so ist er dementsprechend ihr „Urbild, ihre Ordnung und ihr Strukturgesetz⁴³. Wie im Timaios⁴⁴ – Platons Lehre von der Selbstentfaltung der höchsten Vernunft – die Welt vom Demiurgen nach Maßgabe der Ideen geschaffen wird, „so wird auch hier durch den Logos alles geschaffen, was geschaffen ist. Was es an Geist und Gesetz in der Welt gibt, kommt von ihm. Darum ist die Welt nicht ganz Gott fremd, im Gegenteil, sie ist der Abglanz Gottes und man kann sie nun deuten als seine Fußspur und einen Weg zu Gott zurück⁴⁵. Aber auch im Zusammenhang mit der patristischen Anthropologie ist der Logos von Bedeutung, denn weil er nichts anderes ist, als die zweite Person in Gott, ist „alle spätere Lehre vom Göttlichen im Menschen, vom Seelenfünklein und dem Gewissen als einem göttlichen Richtmaß […] sachlich hier bereits angelegt"⁴⁶.

    Überhaupt spielt der Mensch eine zentrale Rolle, „denn in Folge seiner Teilhabe am Logos ist er mit dem Geiste Gottes verwandt⁴⁷, sodass er auf der einen Seite die sichtbare Welt vollendet, weil „er alles andere unter ihm […] in sich einschließt und so eine Welt im kleinen ist⁴⁸; und auf der anderen Seite in der Lage ist, das göttliche Wesen zu verstehen. So wird er zum Mittler zwischen Sinnlichem und Geistigem.

    Wenig verwunderlich daher, dass vor allem die menschliche Seele von besonderem Interesse ist. „Der Mensch ist für die Patristik überhaupt in erster Linie Seele. Aber was ist die Seele?⁴⁹ Noch für den Kirchenschriftsteller Quintus Tertullian (155–220) ist sie materieller Natur, wenngleich von besonders feiner Qualität, weil andernfalls unklar wäre, wie die Sinnesorgane, die selbst materiell sind, auf die Seele einwirken sollen; doch schon Origines Adamantios (184–253), der zu den bedeutendsten Gelehrten des christlichen Altertums zählt, „sieht ganz klar, daß die Seele Geist ist, sie ist ja gottverwandt⁵⁰. Und Gregor von Nyssa (340–394), Bischof und Kirchenlehrer, dessen Gotteslehre einen ersten Höhepunkt der Verschmelzung christlichen und platonischen Denkens darstellt, beweist bereits ihre Immaterialität, „und zwar aus dem Sinnen und Planen des Menschen, das doch geistige Tätigkeit sei, so daß auch der Sitz dieser Tätigkeit […] immateriell sein müsse⁵¹. Was aber wesentlich ist, ist die Tatsache, dass schon in diesem frühen Stadium der christlich geprägten Philosophie Einheit, Individualität und Substanzialität der Seele deutlich stärker herausgestellt werden, als es bei den Griechen der Fall ist. „Die griechische Philosophie war viel zu sehr verwachsen mit der geistig belebten Naturanschauung [– dem Panpsychismus –]⁵² des Hellenenvolkes, um zwischen körperlichem Dasein und geistigem Leben eine scharfe Trennungslinie zu ziehen […].⁵³ Jetzt hingegen ist „die Seele […] eine geschaffene, lebendige, vernünftige Substanz, die dem organischen und empfindungsfähigen Körper durch sich Lebens- und Wahrnehmungskraft verleiht, solange als die hierzu fähige

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