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Die authentische Stadt: Urbane Resilienz und Denkmalkult
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eBook200 Seiten2 Stunden

Die authentische Stadt: Urbane Resilienz und Denkmalkult

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Über dieses E-Book

Um 1900 entwickelte sich mit dem modernen Denkmalschutz die originale Materie zum höchsten Gut. Rekonstruktionen wurden hingegen als historisch wertlos erachtet. Trotz dieser deutlichen Abwertung gegenüber dem Original verleihen sie dem urbanen Raum historischen Wert. Wird das originale Objekt obendrein dekonstruiert, erscheint seine Materie marginal im Vergleich zu seiner sozialen Konstruktion. Somit stellt sich die Frage, ob sich das Konzept des Originals überhaupt eignet, den historischen Wert von Baubestand zu taxieren. Es bedarf vielmehr einer egalitären Sichtweise: So wird das wertende "original" durch das neutrale "authentisch" ersetzt. Das Authentische löst Gefühle der Bewunderung, der Ehrfurcht, der Begeisterung aus. Diese emotionalen Zustände will die authentische Stadt hervorrufen, um einen ästhetischen Beitrag zur urbanen Resilienz zu leisten.
SpracheDeutsch
HerausgeberPassagen Verlag
Erscheinungsdatum21. Aug. 2020
ISBN9783709250402
Die authentische Stadt: Urbane Resilienz und Denkmalkult
Autor

Stefan Lindl

Stefan Lindl, geboren 1969, lehrt und forscht an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftstheorie, Architekturtheorie, Historische Authentizität und Environmental Humanities.

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    Buchvorschau

    Die authentische Stadt - Stefan Lindl

    Einleitung

    Resilienz urbaner Räume

    Zwischen Klimaschutz und Denkmalkult will dieses Buch eine Stadtentwicklung skizzieren, die auf Weiterentwicklung des (historischen) Baubestands basiert. Nicht Neubauen, sondern Weiterbauen ist das Grundverständnis der authentischen Stadt. Als Leitbild versucht sie, vor allem eine ästhetische Ausprägung von Resilienz im urbanen Raum zu entwerfen. Es soll eine soziale Konstruktion der Identität, der historischen Positionierung und des emotionalen Wohlbefindens erzeugt werden. Gleichzeitig entspringt die Forderung nach Weiterbauen statt Neubauen einer Kultur der Nachhaltigkeit, die kulturelle Nachhaltigkeit gewährt. So möchte das Leitbild der authentischen Stadt psychische Stabilität durch eine Semiotik historischer Verbundenheit erzielen. Diese ästhetische Resilienz beruht auf Identität, Integrität, Positionierung in Zeit und Raum. Sie erwirkt emotionale psychische Zustände, die Rückhalt bieten, weil sie ein festes Bezugssystem darstellen.

    Das Leitbild der authentischen Stadt ist eine Reaktion auf die notwendige Forderung nach Resilienz im urbanen Raum, die mit ästhetischen und epistemologischen Mitteln antwortet und aus der Vergangenheit schöpft. Folglich werden mit diesem Leitbild weiche Faktoren in den Resilienz-Diskurs eingeführt.¹ Die Schlüsselforderungen bestehen darin, historische Werte zu schaffen. Damit werden Authentizitätszuschreibungen möglich, um in der Folge emotionale Zustände aufgrund der Rezeption des Authentischen zu erschaffen und zu steigern. Das Leitbild der authentischen Stadt will ästhetisch wirken und Wohlbefinden im urbanen Raum auf einer epistemologischen Grundlage generieren. Das heißt verkürzt: Wohlbefinden durch weiterentwickelten historischen Baubestand und die Anwendung von Wissen darüber. Oder: Wohlbefinden und Resilienz aufgrund der sozialen Konstruiertheit des urbanen Raums

    Die Stadt im 21. Jahrhundert

    Für Klimawandel wie Klimaschutz besetzen die städtischen Räume Schlüsselpositionen des 21. Jahrhunderts. Seit dem Jahr 2008 wohnt über die Hälfte der Menschheit in Städten. In den Industrieländern liegt die Zahl der Stadtbewohner weit über dem globalen Durchschnitt: in Deutschland 77 %, in den USA über 82 %. Die UNO geht von einer fortwährenden Urbanisierung vor allem in Asien und Afrika aus. Laut einer Schätzung wird sich die Stadtbevölkerung weltweit bis 2050 durch Migration und Binnenmigration verdoppeln.³ Der Zuzug wird auch durch klimabedingte Binnenmigration den Druck auf urbane Räume erhöhen. Vor allem der Anstieg des Meeresspiegels zwingt absehbar zur Aufgabe urbaner Räume an den stark besiedelten Küsten. Neben den klimabedingten Verlusten von Wohnraum ist auch Kulturerbe und Weltkulturerbe dem Untergang geweiht, sollte es nicht transloziert werden können. Langfristig bedroht der Anstieg des Meeresspiegels jede fünfte UNESCO-Weltkulturerbestätte.⁴ In den kommenden Jahrzehnten erhöht sich folglich aus den verschiedensten Gründen der Druck auf die Städte. Das bedeutet, neue Wohnräume müssen erschlossen, entsprechende urbane Konzepte entwickelt werden, um voraussehbare soziale Konflikte abzuwehren und allgemein die Resilienz urbaner Räume zu erhöhen. Um den Druck zu mildern, gibt es keine Alternative zu neuem Wohnraum. Doch gerade darin liegt eine nicht ganz unwesentliche Gefahr, die zuerst effiziente Ressourcenökonomie, sodann den Klimaschutz betrifft. Ressourcenökonomisch ist das Problem sofort evident: Wohnungen benötigen Raum, der wie alle Ressourcen knapp ist und viele Städte vor ein Problem im urbanen und suburbanen Bereich stellt. Schnell wird deswegen eine ethische Frage virulent: Welchen neuen Wohnraum wollen wir in Zeiten des Klimawandels?

    Es wäre möglich, auf Brachflächen oder anstelle bautechnisch ineffizienter Bauten neu und stark verdichtend zu bauen. Eine auf den ersten Blick gute Idee. Wäre da nicht ein keineswegs marginaler, sondern gewaltiger Haken. Neubauten befeuern den Klimawandel: Keine Branche emittiert so viel wie das Bauwesen, keine produziert mehr Abfall, keine geht so verschwenderisch – und damit unmoralisch – mit Ressourcen um. Alle drei Punkte, verminderte CO2-Emissionen, Reduktion des Deponiegutes und effizient-moralische Ressourcennutzung, sollte die Baubranche in Zukunft unbedingt anvisieren. Ohne systemisch-normative Eingriffe wird es kaum möglich sein, diese notwendigen Klima- und Ressourcenschutzziele zu erreichen. Aber auch weniger komplex könnte die Baubranche agieren, um nachhaltiger zu werden. Eine Kultur der Nachhaltigkeit müsste tradierte Formen des Bauens überwinden: Wiederverwertung sowie Weiterentwicklung des bestehenden Baubestands könnten die zukünftigen Leitlinien der Bauwirtschaft werden. Dazu kommt die Notwendigkeit, klimaneutrale und recycelbare Baustoffe zu verwenden. Wir benötigen neue Werte des Bauens und andere Arten der Wohnraumerschließung in der Stadtentwicklung. Auf die Frage, welchen neuen Wohnraum wir in Zeiten des Klimawandels wollen, gibt es folglich eine einfache Antwort: Die Kultur des Neubauens kollidiert mit einer Kultur der Nachhaltigkeit. Neue Urbanität sollte das Neubauen durch Weiterbauen ersetzen und CO2-neutrale Baustoffe verwenden.

    Der historische Blick in die vorfossile Vergangenheit kann einige Konzepte des Weiterbauens und Weiterentwickelns im urbanen Raum entdecken. Sie waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Standard im Städtebau. Zu teuer und zu aufwendig war der Abriss von Architekturen. Deswegen wurden mehrere Bestandshäuser zusammengefasst und mit einheitlichen Fassaden versehen, um ästhetische Gesamteindrücke zu erzeugen. Erst fossile Energieträger ermöglichten die Kultur des Neubauens, weil der Maschineneinsatz Abbrucharbeiten kostengünstig machte. Auch der Abtransport von großen Mengen Bauschutt konnte erst dann effizient erfolgen. Die Kultur des Neubauens erweist sich als fossiles Kind der Industrialisierung. Neue Urbanität könnte sich an den vorindustriellen nicht fossilen Konzepten des Bauens ein Beispiel nehmen. Aber das wäre nur einer der vielen Punkte, die Neue Urbanität berücksichtigen muss: Zukünftig ruht sie auf CO2-neutralen Energiekonzepten, sie ordnet und organisiert Mobilität neu, nutzt Räume, die gegenwärtig dem Automobilverkehr vorbehalten sind, aktiviert und initiiert Grünflächen, vermeidet Lärmemissionen, strebt die Abkehr von der gegenwärtigen Form der Konsumgesellschaft an. Die Stadt der kurzen Wege wird Eigentum hinterfragen. Nutzen statt Besitzen wird nicht nur die Mobilitätskonzepte kennzeichnen. – Im Oktober 2016 wurden diese Eckpunkte in der „New urban Agenda" der United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development in Quito als Handreichung für die zukünftige Stadtentwicklung zusammengefasst.

    Eine Baukultur der Nachhaltigkeit, die sich das Weiterbauen als eines ihrer Prinzipien erwählte, wirkte sich direkt auf das bauliche Kulturerbe aus, das sich mehrheitlich im Urbanen befindet. Bauliches Kulturerbe wird hier im weitesten Sinne verstanden. Es bezieht sich auf alle Bauwerke und nicht nur auf kunsthistorisch wertvolle Baudenkmale. Dieses bauliche Kulturerbe in seinem großen Spektrum soll weiterentwickelt werden. Doch mit dem Konzept des Weiterbauens wird etwas virulent, das bislang in der Baubranche oft als lästiger Bestandteil abgetan wurde, weil er Rücksichtnahme und Planung erfordert: Weiterentwicklung bedeutet Wandel, der nicht ohne eine historische Reflexion erfolgen kann. So rückt aus Klimaschutzgründen jenseits des Zerstörens und Neubauens das Historische als gewichtige Größe in Stadtentwicklungskonzepte und deren Gestaltungsaufgaben. Jedes Weiterbauen vermeidet CO2.

    Sobald mit Bestand gearbeitet werden soll, stellt sich zwingend die Frage nach der historischen Funktion und Bedeutung der Gebäude. Gleichgültig ist es, ob sie dem Denkmalschutz unterliegen oder nicht, beziehungsweise aus welchem Jahrzehnt sie stammen, ob ihnen kunsthistorischer Wert zugesprochen wird oder ihnen mit Gleichgültigkeit begegnet wird. Stets fordert der Umgang mit Bestand die Frage nach effizientem moralischem Handeln heraus: Was wollen wir aus dem Bestand machen? Welche Verpflichtung haben wir ihm gegenüber? Welche Rechte haben wir, die wir von ihm fordern dürfen?

    Hauptgegenstand des vorliegenden Buchs sind die Klassifizierung des historischen Wandels des Bestehenden und die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten in der Transformation des Baubestands. Weniger trifft dieser Wandel die kunsthistorisch bedeutenden Bauwerke, die Kathedralen, Rathäuser, Ordenskirchen, Schlösser, Bürgerhäuser der Frühen Neuzeit oder Stadtmauern. Sie sind oft Teil der identitätsstiftenden wertvollen urbanen Musealisierungsstrategien im öffentlichen Raum und müssen als kunst- oder kulturhistorisch wertvolle Zeugnisse gesondert geschützt werden. Das Augenmerk liegt vor allem auf dem historischen Erbe, das den Großteil des Bestands ausmacht: aufgegebene Industrieanlagen, mittelständische Gewerbebauten, ehemalige Kasernen, die unzähligen Mehrfamilienwohngebäude und Einfamilienhäuser aus den letzten Jahrzehnten. Auch sie sind Kulturerbe des Bauwesens, Erbe verschiedenster Kulturen unterschiedlicher Zeiten, die sich ästhetisch äußern.

    Wie soll dieser Bestand bewertet und klassifiziert werden, unter welchen Gesichtspunkten soll er analysiert und letztlich im nächsten Schritt entwickelt werden? Dem Denkmalschutz fehlen hierzu die Kapazitäten. Der hier anvisierte historische Bestand interessiert den Denkmalschutz per se nicht, weil innerhalb des Bestands bislang kaum Verknappung eingetreten ist, also kein Schutzgedanke angebracht wäre. In absehbarer Zeit ist er keineswegs zu erwarten. Deswegen versucht das vorliegende Buch, jenseits des Denkmalschutzes und seiner Neigung das Original zu schützen, Werkzeuge anzubieten, die der historischen Wertermittlung dienen. Mit ihnen sollen sich bauliches Kulturerbe und der Umgang mit diesem Erbe analysieren lassen. Dies soll im Sinne des Leitbilds der hier vorgeschlagenen Stadtentwicklung geschehen, mit dem Leitbild der authentischen Stadt.

    Leitbild authentische Stadt

    Unverkennbar, einzigartig, nicht reproduzierbar ist die authentische Stadt mit einem hohen historischen Identifikationspotenzial. Sie besteht aus zwei Komponenten, dem historischen materiellen Baubestand und seinen vielen sozialen Konstruktionen. Sie enthalten Geschichten, Erzählungen, Anekdoten vom historischen Wandel des Baubestands. Es ließe sich sagen, Baubestand verfügt über eine materielle und eine sozial konstruierte Komponente. Wie wichtig letztere für die materielle ist, sei im Weiteren in besonderem Maße hervorzuheben. Sie verleihen der Stadt ihre Eigenschaft der Einzigartigkeit und Unverkennbarkeit. Dinge und Wissen machen die Stadt historisch wertvoll und dadurch authentisch. Historischer Wert und das Authentische bedingen sich wechselseitig. Historischer Wert wird Objekten zugeschrieben – so die hier vertretene konstruktivistische Sichtweise –, das Authentische wird als ästhetische Kategorie verstanden, die durch das Intentionalwerden historischer Werte empfunden werden kann. Das Authentische einer Stadt wird also nicht als Eigenschaft, als Authentizität gedeutet, die Objekte von sich aus eignen, sondern zuerst als ästhetische Kategorie, die emotionale Zustände hervorruft. Das Authentische und die Eigenschaft Authentizität vollziehen sich in einem Sprechakt: „Das Objekt sei authentisch!"

    Sechs Arten von historischen Werten, mit denen sich historischer Baubestand taxieren, aber durch Zuschreibungen auch aufwerten lässt, werden aus einer Phänomenologie des Historischen abgeleitet und als Analyse- sowie Zuschreibungswerkzeug vorgeschlagen: die epistemische, materielle, temporale, lokale, ästhetische und idealistische historische Wertzuschreibung. Je mehr historische Werte den Bauwerken einer Stadt zugeschrieben werden können, desto authentischer wird die Stadt empfunden. Dazu – so die These dieses Buches – sind Originale oder original Materie nicht zwingend notwendig. Sie befördern die Empfindung des Authentischen, aber notwendig sind sie nicht. Das Authentische einer Stadt lässt sich mit verschiedenen Formen historischer Werte steigern. Sie können in die Konzeption von Bauwerken, aber auch in die Konzeption von Stadtentwicklungskonzepten eingebunden werden. Der Klimaschutz ist, so eine Hauptthese, kein Hinderungsgrund für die historisch wertvolle und authentische Stadt, sondern deren explizite Chance. Neue Urbanistik im Zeichen des Klimaschutzes wird die historischen Dimensionen der Städte durch die Kultur des nachhaltigen Bauens stärken können. Auch für die Ausprägung ästhetischer Formen von Resilienz dient dieses Vorgehen als Vorschlag.

    Geschichte von Bauwerken ist fraglos gewichtiger Bestandteil allgemeinen Interesses. Immobilienwerte werden aus Geschichte geschöpft, gleichgültig ob dies ehemalige Kirchen, Industriegebäude um 1900 oder Wohngebäude der 1970er-Jahre betrifft. Eine Konservenfabrik und eine mechanische Weberei, die zu Wohnraum konvertiert werden, lädt der Immobilienhandel mit Erzählungen über ihre industrielle Funktion historisch auf. Sie bekommen dadurch den Reiz der besonderen Wohnkultur, die sich vom geschichtenlosen und geschichtslosen Neubau unterscheidet. Auch den Stadt-Tourismus begründet die authentische Stadt.⁶ Sie erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Tel Aviv hat eine unverwechselbare Atmosphäre des International Styles des 20. Jahrhunderts. Es ist die Bauhausstadt, der keine andere gleicht. Rom steht für eine Stadt der Geschichte, die durch das Nebenher von Monumentalbauten mehr als zweier Jahrtausende gekennzeichnet ist. Rom ist zugleich eines der prototypischen Beispiele des Weiterbauens einer Stadt. Dubai setzt hingegen auf einen kontemporär-ubiquitären Stil mit radikalem Gestaltungswillen, der offenbar keinerlei Begrenzungen kennt. Weder der Himmel noch das Meer scheinen Hindernis zu sein. Der Altstadtbereich al-Bastakiyya, der weitgehend Ende des 19. Jahrhunderts mit lokalen Baumaterialien und -techniken errichtet wurde, ist nicht zu entwickeln und sollte auch nicht entwickelt werden, um dem ubiquitären Neubauen etwas Historisch-Lokales entgegensetzen zu

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