"Hamburg des Ostens"?: Der Ausbau des Wiener Hafens in der NS-Zeit
Von Ina Markova und Stefan Wedrac
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Buchvorschau
"Hamburg des Ostens"? - Ina Markova
Ina Markova · Stefan Wedrac
»HAMBURG DES OSTENS«?
Der Ausbau des Wiener Hafens in der NS-Zeit
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Historische Sozialforschung und der Arbeiterkammer Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildungen:
Links oben: AHW, Fotoalbum; rechts oben: WStLA, Film über den Bau des Ölhafens in der Lobau, Filmarchiv der media wien, 012; unten: NARA RG 342 U.S. Air Force Number 53943AC.
© 2023 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe
(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;
Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland;
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Korrektorat: Christoph Landgraf, St. Leon-Rot
Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien
Satz: Michael Rauscher, Wien
EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-205-21911-8
Inhalt
Vorwort I
Vorwort II
Einführende Bemerkungen
Entstehungsgeschichte des Projekts
Anmerkungen zur Literatur- und Quellenlage
Kurzzusammenfassung: »Hamburg des Ostens?« Der Ausbau des Wiener Hafens 1938 – 1945
Danksagungen
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung (Stefan Wedrac)
1.1 Wiener Hafen? Wiener Häfen!
1.2 Wasserstraßenpläne zwischen Donau und Oder bis 1918
1.3 Die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 und die deutsche Treibstofffrage
1.4 Die österreichische Ölindustrie und die internationalen Konzerne
Anmerkungen
2. Wien – Hamburg des Ostens? (Ina Markova)
2.1 NS-Planungen zwischen Wirtschaft und Ideologie
2.2 Kompetenzwirrwarr um die »Donauhafenfrage«
2.3 Standortdebatten
2.4 Beteiligte Unternehmen, freiwillige und unfreiwillige Arbeitskräfte
2.5 Getreidespeicher in Albern
Anmerkungen
3. Großmachtpolitik in der Au (Stefan Wedrac)
3.1 Griff nach Südosten: Der Oder-Donau-Kanal
3.2 Das Öl kommt in die Lobau
3.3 Tauziehen um die Infrastruktur des Ölhafens: Hafenbecken und Bahnanschluss
3.4 Denkmalschutz: kein Thema im Ölhafen
Anmerkungen
4. Lagerkomplex Lobau (Ina Markova)
4.1 Errichtung durch Kriegsgefangene
4.2 ZivilarbeiterInnen aus befreundeten Staaten
4.3 »Russeneinsatz« – massive Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen170
4.4 »Strafgefangenenlager« Lobau und Einsatz von ungarisch-jüdischen Deportierten
4.5 Alltag im Lager Lobau 1944/45 – Versuch einer Annäherung
4.5.1 Durchgangslager – der Weg in die Lobau
4.5.2 Unterkünfte
4.5.3 Bewachung
4.5.4 Arbeitsbedingungen
4.5.5 Freizeit
4.5.6 Lagerbordell
4.5.7 Medizinische Versorgung
4.5.8 Schwangerschaften und Geburten
4.5.9 Bombardierungen
4.5.10 Widerstand
4.5.11 Kontakte mit der österreichischen Bevölkerung
4.5.12 Repressalien
4.5.13 Befreiung
Anmerkungen
5. Der Hafen in der Nachkriegszeit (Ina Markova, Stefan Wedrac)
5.1 Bomben und Minen: 1943 – 1945
5.2 April 1945: Kämpfe um Wien und Kriegsende
5.3 Bestandsaufnahme 1945: Politische und bauliche Rahmenbedingungen
5.4 Stadtplanungen: »Wien an die Donau!«
5.5 Der österreichische Staatsvertrag und seine Folgen für Hafen, Erdöl und DDSG
5.6 Epilog
Anmerkungen
Anhang: Quantitative und namentliche Erfassung der ZwangsarbeiterInnen beim Hafenbau (Ina Markova)
Quellenkritisches zur Auswertung der ÖGK-Daten
Auswertung
Albern
Gesamtauswertung Lobau – ZwangsarbeiterInnen und Freiwillige
Lobau – Freiwillige
Lobau – ZwangsarbeiterInnen
Anmerkungen
Verzeichnisse
Besuchte Archive
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Personenregister
Dieses Buch ist Rossen Markov (10. August 1954 – 2. Oktober 2020) und Ludmila Angelova-Markova (10. September 1959 – 31. Mai 2022) gewidmet.
Vorwort I
In den letzten Jahren ist bei innovativen Unternehmen ein neuer Trend festzustellen, auf der Grundlage einer externen Expertise einen kritischen Blick in die Vergangenheit der eigenen Institution zu werfen. Als mich der kaufmännische Geschäftsführer des Hafen Wien, Direktor Mag. Fritz Lehr, gefragt hat, ob wir im Rahmen des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Zwangs- und Sklavenarbeit auf dem Gelände des heutigen Hafen Wien in Albern und der Lobau durchführen könnten, habe ich gerne zugestimmt.
Nach zwei Jahren umfangreicher Forschungen in internationalen und österreichischen Archiven hat das sehr erfahrene Team, bestehend aus Dr.in Ina Markova und Dr. Stefan Wedrac, ein umfassendes Werk auf der Basis neuester Methoden und Quellenfunde vorgelegt. Es ist den beiden WissenschaftlerInnen gelungen, einerseits die Metaebene des Nationalsozialismus hinsichtlich der verantwortlichen Akteure für den Zwangsarbeitssatz sowohl auf beamteter als auch auf politischer Ebene zu rekonstruieren, andererseits den für das NS-Regime typischen internen Konkurrenzkampf um Finanzmittel und insbesondere um ZwangsarbeiterInnen für den Ausbau des militärstrategisch wichtigen Hafens in Wien darzulegen. Tatsächlich wurden unter extremen Arbeitsbedingungen das Hafenbecken in Albern, Teile des Donau-Oder-Kanals, ein Becken in der Lobau sowie fünf Getreidespeicher in Albern mit einer Lagerkapazität bis zu 85.000 Tonnen von Zwangsarbeitskräften errichtet – ebenso wie umliegende Straßen und Bahngleise, Kanalisation und Wasserleitungen. Nur eine Minderheit waren inländische Arbeitskräfte oder Freiwillige aus dem mit NS-Deutschland verbündeten Ausland.
Besonders hervorzuheben sind die akribischen biografischen Forschungen der AutorInnen, die es ermöglichen, die Arbeits- und Lebensrealität von über tausend ZwangsarbeiterInnen und SklavenarbeiterInnen nachzuvollziehen und durch emotional beeindruckende Einzelbeispiele zu vertiefen. Sehr subtil ist auch die Auswahl der Illustrationen, die den analytischen Gehalt dieser Studie unterstreichen.
Diese Studie repräsentiert den aktuellsten Stand der wissenschaftlichen Forschung. Durch die Erschließung einer Reihe neuer Quellen konnte das Schicksal der ZwangsarbeiterInnen präzise rekonstruiert werden. Zudem ist es gelungen, die übergeordneten militärstrategischen Planungen zu reflektieren. Dabei wurde deutlich, dass die Kontrolle über die österreichische Erdölindustrie auch ein wichtiger Faktor für den »Anschluss« Österreichs 1938 war. Erst nach dem Angriff auf Polen wurde die Erdölindustrie auf dem Gebiet des heutigen Österreich massiv ausgebaut, ebenso wie der Ölhafen in der Lobau – ein auch nach der Befreiung 1945 wichtiger ökonomischer Faktor als Deutsches Eigentum. Aus diesem Grund wurde von den AutorInnen der Zeitraum bis 1955 in den Forschungen mitberücksichtigt.
Ina Markova und Stefan Wedrac legen ein sehr gut geschriebenes Werk vor, das eine kritische Analyse zur Geschichte nationalsozialistischer Ausbeutungspolitik von über tausend ZwangsarbeiterInnen und SklavenarbeiterInnen auf dem Gelände des heutigen Hafen Wien bietet.
Vorwort II
Verantwortungsvolle Unternehmen betrachten nicht nur ihren wirtschaftlichen Wirkungskreis kritisch, sondern blicken auch auf ihre historische Entwicklung. In diesem Sinne hat die Hafen Wien GmbH, ein Unternehmen der Wien Holding, pünktlich zum sechzigsten Firmen-Jubiläumsjahr 2022, ein ExpertInnen-Team mit einer Rückschau auf ihre Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus beauftragt. Das Ergebnis liegt nun in Form dieses Buches vor: Ein umfassendes Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien über Zwangsarbeit auf dem Gebiet des heutigen Hafen Wien in Albern und der Lobau während der NS-Zeit. Die kriegsassoziierten Geschehnisse in den Hafenarealen werden somit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
In diesem Bericht wird ein dunkles Kapitel anschaulich und nachvollziehbar aufgearbeitet. Nach den Plänen der Nationalsozialisten sollte in Wien das »Hamburg des Ostens« entstehen.
Der Hafen Wien GmbH war wichtig, dass unabhängige WissenschaftlerInnen die historischen Geschehnisse kritisch beleuchten und ihre Erkenntnisse unbeeinflusst in einem eigenständigen Werk abbilden, das nach akademischen Maßstäben erstellt wurde. Es ist den AutorInnen dieses Buches auf überzeugende und informative Art und Weise gelungen wirtschaftliche und politische Motive der damals handelnden Protagonisten zu rekonstruieren und in nachvollziehbarer Weise darzulegen, wie aus beruflichen Alltagsverantwortlichkeiten kriminelle Handlungen erwachsen können. Das Los der damaligen ZwangsarbeiterInnen kann so zwar nicht wieder gut gemacht werden aber durch objektive Tatsachendarstellung und Bewertung aus der kritischen Distanz in einen würdigenden dokumentarischen Rahmen gehoben werden.
Die vorliegende Studie ist eine kritische Analyse zur Geschichte nationalsozialistischer Ausbeutungspolitik von ZwangsarbeiterInnen auf dem Gelände des heutigen Hafen Wien.
Mehr als sechs Jahrzehnte später ist das das Unternehmen Hafen Wien mit seiner trimodalen Anbindung an die Verkehrsträger Wasser, Schiene und Straße zu einem der wichtigsten Güter-Drehscheiben in der Ostregion Europas gewachsen. Der Hafen Wien hat sich als starker Wirtschaftspartner in der herausfordernden jüngeren Vergangenheit behauptet und eine Vielzahl der Waren, die in Wien angeboten werden, werden über den Hafen Wien umgeschlagen.
Besonderer Dank gilt dem Historiker-Team, Dr.in Ina Markova und Dr. Stefan Wedrac unter der Leitung von Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, Universitätsprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Wien, die dieses dunkle Kapitel der NS-Zeit hier deutlich und unmissverständlich aufgearbeitet haben.
Einführende Bemerkungen
Entstehungsgeschichte des Projekts
Vom 1. Februar bis 30. Juli 2020 finanzierte der Hafen Wien eine Pilotstudie über die Machbarkeit eines Forschungsprojekts zur historischen Aufarbeitung seiner eigenen Geschichte in der NS-Zeit. Insbesondere die Quellenbasis war zu prüfen. Dafür wurden umfangreiche Recherchen in österreichischen und deutschen Archiven angestellt. Die Studie kam zum Ergebnis, dass für die historische Aufarbeitung der Geschichte des Wiener Hafens in der NS-Zeit mehr als ausreichend und bisher unbekannte Quellen vor allem im Bundesarchiv Berlin (Deutschland), im Österreichischen Staatsarchiv und im Wiener Stadt- und Landesarchiv zur Verfügung stehen und daher die Durchführung eines derartigen Projekts lohnend und sinnvoll sei. Es war zu erwarten, dass neue Erkenntnisse sowohl für die Geschichte des Wiener Hafens als auch generell für die österreichische Zeitgeschichte, insbesondere Zwangsarbeit in Wien betreffend, gewonnen würden. Darüber hinaus könnte der Hafen Wien durch die genaue historische Aufarbeitung Verantwortung für problematische Perioden seiner Entstehungsgeschichte übernehmen. Mit 1. März 2021 gab der Hafen Wien daher den Auftrag, eine wissenschaftlich fundierte Studie zur Geschichte des Wiener Hafens in der NS-Zeit zu erstellen. Das Projekt wurde am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien angesiedelt und unterstand Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb als Leiter. Mit der Durchführung betraut wurden Mag.a Dr.in Ina Markova (die bereits die Pilotstudie durchgeführt hatte) sowie Mag. Dr. Stefan Wedrac.
Anmerkungen zur Literatur- und Quellenlage
Die besondere Herausforderung bei der Rekonstruktion der Geschichte des Wiener Hafens in den Jahren 1938 bis 1945 bestand darin, dass es keinen geschlossenen Aktenbestand zu den hier relevanten Fragen gibt. Das ergibt sich logisch aus seiner Entstehungsgeschichte, an der sowohl Wiener, »ostmärkische« als auch »altreichsdeutsche« Stellen ein großes wirtschaftliches Interesse hatten. Vor allem der Fragenkomplex Zwangsarbeit stellte die Forschung vor Probleme, da in manchen Archiven in der Endphase des Zweiten Weltkriegs beziehungsweise in der frühen Nachkriegszeit Archivalien zu diesem Thema regelrecht »gesäubert« wurden. Ein Mosaik aus wichtigen Nachkriegsdokumenten sowie aus zeitgenössischen Klein- und Kleinstbeständen unterschiedlicher Provenienz machte es jedoch auch hier möglich, tiefgehende Einblicke in das Ausmaß der Zwangsarbeit bei den Hafenausbauten in Albern und in der Lobau zu erarbeiten. Auch im Vergleich mit anderen Forschungsprojekten ähnlicher Ausrichtung einzigartig war dabei die Möglichkeit, systematisch die Sozialversicherungsdaten der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen bei der Österreichischen Gesundheitskasse durchzusehen wie auch in diesem Kontext relevante Unterlagen des Österreichischen Versöhnungsfonds auszuwerten. Ungeachtet der Beschränkungen, die sich durch die Covid-19-Pandemie ergaben – für manche Archive musste bis zu einem Jahr im Voraus ein Arbeitsplatz reserviert werden –, war es den AutorInnen möglich, in 29 Archiven in sechs Ländern (Deutschland, Israel, Österreich, Polen, Tschechische Republik, USA) zu recherchieren. Diese Studie liefert selbstverständlich neue Erkenntnisse betreffend der Hafenausbauten in Albern und der Lobau, weitere Schwerpunkte wie Zwangsarbeit und die Frage der Erdölsicherung für den NS-Angriffskrieg gehen geografisch über Wien hinaus und ermöglichen es, die NS-Planungen an der Donau in einem größeren europäischen Kontext zu sehen.
Die Geschichte des Wiener Hafens in der NS-Zeit hat bis dato keine exklusive oder längere Aufmerksamkeit erfahren. Zwar erfährt man einiges zu den Entwicklungen während der NS-Zeit in der verdienstvollen Studie über die (österreichischen) »Wasserstraßen« von Bertrand Perz, Gabriele Hackl und Alexandra Wachter,¹ in den einschlägigen Artikeln im Sammelband über »Wien in der nationalsozialistischen Ordnung des Raumes«, herausgegeben von Siegfried Mattl, Gottfried Pirhofer und Franz J. Gangelmayer² sowie in Ortrun Veichtlbauers Beitrag zum Sammelband »Graue Donau, schwarzes Meer«, ediert von Gottfried Pirhofer und Franz J. Gangelmayer.³ Jüngst hat Andreas Suttner im online-Magazin des Wien Museums dem Alberner Hafen einen kurzen Artikel gewidmet.⁴ Darüber hinaus sind die NS-Ausbauten in Albern und der Lobau Randthema in verschiedenen selbst- und unselbständigen Veröffentlichungen zu Themen wie Erdöl und Nationalsozialismus sowie Kanalprojekten, aber auch bei Publikationen zu anderen wirtschaftshistorischen Fragestellungen gewesen. Die vorliegende Studie geht allerdings weit über das bisher vorhandene Material hinaus, weil sie dem Komplex NS-Zeit und Wiener Hafen(ausbau) nicht nur in den Mittelpunkt stellt, sondern auch die betreffenden Themen mit einem bisher nicht erfolgten Tiefgang behandelt.
Kurzzusammenfassung: »Hamburg des Ostens?« Der Ausbau des Wiener Hafens 1938 – 1945
Sofort nach dem »Anschluss« Österreichs an NS-Deutschland im März 1938 begann man in Wien mit den Planungen für einen neuen Hafen. Verschiedenste Stellen – »ostmärkische«, städtische, »altreichsdeutsche« – trugen unterschiedliche Vorstellungen an den Hafen(aus)bau heran. Die Verantwortungs- beziehungsweise Entscheidungsstrukturen waren verworren: Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich war ein mehrjähriger administrativer Prozess, bei dem Kompetenzen neu verteilt wurden. Selbst wenn das letzte Wort beim Reichsverkehrsministerium in Berlin lag, sprachen beim Wiener Hafenbau auch andere Behörden wie die Raumplanungsstelle beim Reichsstatthalter Wien oder das ehemalige Bundesstrombauamt, das in den kommenden Jahren in die Reichswasserstraßenverwaltung eingliedert wurde und zuerst dem Reichsstatthalter Niederdonau, dann jenem in Wien unterstellt war, mit. Ebenso an den Planungsarbeiten beteiligt war die Stadtbaudirektion als verlängerter Arm der gewachsenen städtischen, nunmehrigen Gauverwaltung Wien. Anders als beim Bau des Ölhafens Lobau und des Oder-Donau-Kanals hatten die Stadt und hier konkret der neue NS-Bürgermeister Hermann Neubacher kurz nach dem »Anschluss« noch viele Mitbestimmungsmöglichkeiten. In jedem Fall erhoffte man sich seitens der Gemeinde eine stärkere Industrialisierung. Wien sollte, in den Worten Neubachers, das »Hamburg des Ostens« werden.
Ausschlaggebend dafür, dass man sich auf den Standort Albern einigte, war die Notwendigkeit, die Bevölkerung im Kriegsfall mit Lebensmitteln versorgen zu können. Das zum Großteil über die Donau importierte Getreide aus dem Südosten war kriegswichtig. In Albern baute man in den nächsten Jahren daher fünf große Getreidespeicher, vier mit je 20.000 Tonnen Fassungsvermögen und einen kleineren mit 5.000 Tonnen Lagerfläche. Zwei der größeren Speicher ließ die Kühl- und Lagerhaus AG im Auftrag der Stadt Wien bauen, womit sie eine Arbeitsgemeinschaft aus Siemens Bauunion und Universale beauftragte. Hierfür kamen zwischen 1942 und 1944 gesichert 91 zivile ZwangsarbeiterInnen zum Einsatz. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass auch eine unbekannte Zahl von Kriegsgefangenen Zwangsarbeit leisten musste. Die Kühl- und Lagerhaus AG fusionierte man 1943 mit der Hafenverwaltung zur Wiener Hafen- und Lagerhaus AG.
In Albern war ein aus drei Becken bestehender Hafen geplant. Man begann mit dem Bau des ersten (und einzigen), 90 Meter breiten Beckens. Die Arbeiten führte die Münchener Firma Leonhard Moll durch. Solange der NS-Angriffskrieg noch nicht tobte, kamen neben »Ostmärkern« auch (ursprünglich) freiwillig gekommene Bauarbeiter aus dem »Protektorat« (Tschechien) und Italien zum Einsatz. Gesichert arbeiteten in Albern dazu gezwungene Menschen, nämlich 105 polnische Kriegsgefangene.
Auch für den Hafenbetrieb selbst setzte die im Jänner 1941 im Rahmen der Gauverwaltung Wien als kommunale Struktur neu geschaffene Hafenverwaltung unter der Leitung von Otto Broschek ZwangsarbeiterInnen ein. Hier bestand ein (arbeits-)rechtliches Verhältnis zwischen Hafenverwaltung und ZwangsarbeiterInnen. Zwischen 1942 und 1945 setzte die Hafenverwaltung mindestens 744 zivile ZwangsarbeiterInnen und eine unbekannte Anzahl an Kriegsgefangenen für den Hafenbetrieb ein. Die Arbeiter-Innen stammten aus Belgien, Frankreich, dem »Generalgouvernement«, Griechenland, Italien, den Niederlanden, dem »Protektorat« und Serbien. Den Löwenanteil stellten Menschen dar, die als »Ostarbeiter« zum »Reichseinsatz« verschleppt worden waren – das waren mindestens 552 Personen, davon 29 Frauen. Mindestens zwei Menschen, die für den Gesamthafenbetrieb tätig waren, starben noch vor Kriegsende unter ungeklärten Umständen. Untergebracht waren die für den Gesamthafenbetrieb Tätigen in einem Lager in der Ausstellungsstraße 247 und in einem Lager »Siemensbaracke Hafenbau-Albern«, dessen Lokalisierung unbekannt ist.
In der Lobau hatten die NS-Machthaber andere Pläne als in Albern: Hier sollte der Oder-Donau-Kanal einmünden. Diese Wasserstraße war seit rund 200 Jahren im Gespräch, deren Ausbau wurde nun im Rahmen der Deutschen Großmachtpolitik begonnen. Sie sollte auf über 400 Kilometern Länge die Oder mit der Donau verbinden und so einen Wasserweg von der Ostsee zum Schwarzen Meer schaffen. Eingebettet war dies in einen »Griff nach Südosten«. Nachdem im Herbst 1939 die Planungen für den Wiener Abschnitt abgeschlossen waren, begannen die Bauarbeiten an der Mündung des Kanals in die Donau, einem daran angeschlossenen Hafenbecken und einer Wasserstraße, die der Trasse des Kanals nach Nordosten ins Marchfeld folgte. Bauherrin war das Strombauamt beziehungsweise die Reichswasserstraßenverwaltung, welche die Arbeiten mit einem großen finanziellen Aufwand betrieb. Die kriegsbedingte Mangelwirtschaft verzögerte die Errichtung, die Luftangriffe der Alliierten brachten die Arbeiten zum Erliegen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren lediglich die Einmündung, das Hafenbecken und drei Teilstücke fertiggestellt.
Am ersten Hafenbecken des Oder-Donau-Kanals baute man zwischen 1940 und 1943 einen »Ölhafen«. Das Deutsche Reich war für seinen Angriffskrieg auf die Erdölvorräte des Marchfelds angewiesen. Um diese auszubeuten, forcierte man nicht nur die Förderung, sondern siedelte in der Lobau auch eine große Raffinerie an, und zwar die Ostmärkischen Mineralölwerke. Sie sollten das über eine Pipeline aus der Lobau kommende Öl zu Treibstoff verarbeiten und entwickelten sich zu einer der wichtigsten Raffinerien NS-Deutschlands. Daneben baute die Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft (Wifo) ein Öllager, das rund 160.000 Tonnen Treibstoff speichern können sollte. Dieses Lager war als Sammelpunkt der Raffinerieproduktion von Wien und Umgebung gedacht. Um den Treibstoff in andere Teile Deutschlands transportieren zu können, baute die Wifo eine über 300 Kilometer lange Pipeline nach Raudnitz an der Elbe im nördlichen Böhmen, von wo der Treibstoff dann weiter verteilt werden konnte. Die Lobau wurde daher zum Umschlagplatz einer der wertvollsten Ressourcen des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg.
Die umfangreichen Tiefbauarbeiten an Ölhafen und Oder-Donau-Kanal führte eine Arbeitsgemeinschaft der Baufirmen Philipp Holzmann AG und Polensky & Zöllner aus. Andere Firmen, die in der Lobau Aufträge erhielten, waren: Schmitt & Junk, Sager & Woerner, die Mineralölbaugesellschaft m.b.H. und mehrere kleinere, vor allem Wiener Unternehmen, die mit Hilfs- und Teilarbeiten betraut waren. Rein rechtlich ist die Verantwortung für den massiven Einsatz von ZwangsarbeiterInnen – aufgrund fehlender Weisungskompetenz der Hafenverwaltung – bei den genannten Unternehmen (und bei der Wasserstraßenverwaltung als Bauherrin) zu suchen. Dennoch stellen diese Bautätigkeiten am Ölhafen die direkten Vorarbeiten für die heute noch vorhandenen Strukturen in der Lobau dar. Ohne die damals getroffenen stadtplanerischen und finanziellen Entscheidungen gäbe es heute weder eine Hafen- noch eine Ölinfrastruktur in der Lobau.
Für die hunderten ArbeiterInnen richtete man in der Lobau einen Lagerkomplex ein: Im Frühsommer 1940 beschlossen Vertreter der Wifo, der Deutschen Arbeitsfront und des Arbeitsamts Wien die Einrichtung eines »Gemeinschaftslagers«. Die Wifo ließ unter der Bauleitung von Philipp Holzmann zuerst die Wohnbaracken für die Arbeiter (später auch Arbeiterinnen) aufbauen. Hierfür setzte man eine unbekannte Anzahl französischer Kriegsgefangener ein. Neben diesen waren in der Lobau zunächst Freiwillige aus Italien, Bulgarien, ab 1943 auch aus Dänemark tätig.
Ab 1942 kamen massenhaft weitgehend entrechtete Menschen aus der Sowjetunion als ZwangsarbeiterInnen ins Deutsche Reich, auch nach Wien. Nach der deutschen Besetzung Ungarns in der zweiten Jahreshälfte 1944 wurde das Lagersystem Lobau ebenso um eigene Bereiche für jüdische ZwangsarbeiterInnen erweitert. Federführend hierbei waren die Firmen Schmitt & Junk und Sager & Woerner. Zahlenmäßig lässt sich über die ungarisch-jüdischen ArbeitssklavInnen genauso wie über die Anzahl der in der Lobau eingesetzten Kriegsgefangenen mangels Quellen wenig sagen. Da hingegen die nicht-jüdischen zivilen ZwangsarbeiterInnen sozialversicherungspflichtig waren, ermöglichen die Daten der zuständigen Krankenkasse zumindest eine Annäherung an die Dimensionen. Ab 1944 machten die alliierten Bombardements weitreichende Reparaturen der zerstörten Anlagen erforderlich. 1944 war daher mit Sicherheit der Höchststand in der Belegung des Lagers erreicht: Eine Auswertung der Krankenkassendaten ergibt, dass im Jahr 1944 mindestens 241 Freiwillige und 514 zivile ZwangsarbeiterInnen, also insgesamt 755 Personen in der Lobau tätig waren. Sie stammten aus folgenden Ländern: Belgien (84), Bulgarien (18), Dänemark (167), Frankreich (40), dem »Generalgouvernement« (32), Griechenland (22), Italien (136), Kroatien (31), Litauen (1), den Niederlanden (3), dem »Protektorat« (37), Serbien (1), der Slowakei (22), der Ukraine (11), Ungarn (nicht-jüd., 3) und aus »sonstigen« Ländern (3). Als »Ostarbeiter« kategorisiert waren 114 Personen, von denen weit mehr als die Hälfte (73) meist sehr junge Frauen waren. Sehr wahrscheinlich waren nicht nur die ZwangsarbeiterInnen, sondern auch die Freiwilligen im Lagerkomplex untergebracht. Aus den Quellen geht hervor, dass in den für die ungarisch-jüdischen Deportierten gebauten (Teil-)Lagern mindestens 429 Personen leben mussten. Es ist daher plausibel, dass die Gesamtbelegung des Lagerkomplexes 1944 mindestens 1.184 Personen, davon 943 ZwangsarbeiterInnen, betrug. Nach eingehender Quellenrecherche setzen wir die Mindestzahl der ZwangsarbeiterInnen (zivile jüdische und nicht-jüdische), die diverse Unternehmen von 1940 bis 1945 im Lagerkomplex Lobau für den Bau von Wifo-Tanklager, Oder-Donau-Kanal oder Ölhafen einsetzten, bei 1.212 an. Namentlich bekannt sind 774 Menschen.
Vor allem unter den jüdischen Deportierten war die Todesrate hoch. ZeitzeugInnenerinnerungen legen nahe, dass nur ein Bruchteil der tatsächlichen Todesfälle offiziell protokolliert wurde. Doch auch wenn die Quellenlage mehr als schütter ist, so ist unzweifelhaft belegt, dass fünf jüdische Inhaftierte an »Herzschwäche« und weitere zehn unter ungeklärten Umständen starben. 18 ungarische Juden und Jüdinnen, die in der Lobau eingesetzt worden waren, wurden kurz vor der Befreiung Österreichs Opfer eines NS-Endphaseverbrechens in der niederösterreichischen Ortschaft Hofamt Priel. Die nicht-ungarischen, zivilen ZwangsarbeiterInnen betreffend protokolliert sind zwei Arbeitsunfälle und neun Todesfälle, die auf Luftangriffe zurückzuführen sind. Sechs weitere Todesfälle (Badeunfälle, Brände, Krankheiten etc.) sind bekannt.
Die Kriegshandlungen im Frühjahr 1945 besiegelten die geografische Neupositionierung des Hafens. Denn das, was bis 1938 im Kern den »Wiener Hafen« dargestellt hatte, nämlich die Lager- und Warenmanipulationsanlagen am rechten Donauufer, hatten so umfangreiche Schäden erlitten, dass man beschloss, den Stromhafen nicht wiederaufzubauen. Stattdessen wollte man den Umschlag in die neuen Häfen Albern und Lobau verlegen. Neben dem Donaukai mit am schwersten beschädigt war die Freudenau. Am günstigsten gestaltete sich die Lage beim Getreideumschlag, denn die modernen Speicherbauten waren intakt geblieben.
Ein Problem stellte die Beschlagnahmung verschiedener Vermögenswerte durch die Sowjetunion als »deutsches Eigentum« dar. Alleine auf dem Gebiet des Wiener Hafens besetzten die sowjetische Besatzungsmacht 300.000 m² – die bereits erwähnten Speicher in Albern, Erdölbetriebe und damit in Zusammenhang stehende Pipelines und Tanklager in der Lobau sowie am Praterspitz, sowie Anlagen der DDSG im Winterhafen. Auch einen regulären Schiffsverkehr auf der Donau gab es nach 1945 lange nicht. Erst 1952 nahm man den Donauverkehr von Linz nach Wien wieder auf, auf der ostösterreichischen Strecke blieb es bei den Einschränkungen. Die endgültige Lösung der Schifffahrtsfrage – wie auch der Problematiken rund um Erdöl und DDSG – brachte der Staatsvertrag von 1955.
Danksagungen
Im Zuge des Entstehungsprozesses dieses Buchs dankt das Team folgenden Personen:
Inka Arroyo Antezana (CAHJP), Karin Astler (Bezirksmuseum Leopoldstadt), Dieter Bacher (Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung), Hanno Baschnegger, Ilya Berkovich (ÖAW), René Bienert (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg), David Cahn (Yad Vashem), Jakub Deka (Fundacji »Polsko-Niemeckie Pojednanie«), Nikolaus Domes (Archiv Künstlerhaus), Robert Eichert, Stefan Eminger (NÖLA), Marketa Fleischhacker (viadonau), Georg Friedler (Bezirksmuseum Leopoldstadt), Sabine Gansterer (viadonau), Emmerich Gärtner-Horvath, Karoline Gattringer (WStLA), Li Gerhalter (Sammlung Frauennachlässe, Universität Wien), Richard Germann (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Sylvia Goldhammer (Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main), Georg Hoffmann (DAACDA), Thomas Hofmann (GBA), Martin Hořák (Deutsch-Tschechischer Zukunftsfonds), Šárka Jarská (Živá paměť), Claude Klöckl, Katharina Kniefacz (Mauthausen Memorial), Herbert Kovacic, Nina Kreuzinger, Małgorzata Król (Archiwum Akt Nowych), Christina Kunkel (Institut für Zeitgeschichte München), Claudia Kuretsdisis-Haider (DÖW), Eleonore Lappin-Eppel (ÖAW), Evelyne Luef (Wienbibliothek im Rathaus), Stefan Mach (ÖStA), Ute Mayer (Hessisches Wirtschaftsarchiv), Manfred Mugrauer (DÖW), Harald Müller (Bayerisches Wirtschaftsarchiv), Piotr Pawłowski, Hans Petschar (ÖNB), Katharina Prager (Wienbibliothek im Rathaus), Hermann Rafetseder, Reimar Riese, Andreas Sarközi (Kulturverein österreichischer Roma), Kerstin Schlömicher (ÖGK), Guenther Steiner (ÖGK), Ursula Storch (Wien Museum), Melinda Támas, Susanne Uslu-Pauer (IKG Wien), Volodymyr Verovkin, Robert Vorberg (Mauthausen Memorial), Patrick Wedrac, Dieter Wintergeist (BArch) und Elisabeth Zehetner (ÖGK).
Anmerkungen
1Perz/Hackl/Wachter (Hg.), Wasserstraßen.
2Mattl/Pirhofer/Gangelmayer, Wien in der nationalsozialistischen Ordnung des Raums.
3Veichtlbauer, Braune Donau.
4Andreas Suttner, Ein Relikt des monumentalen NS-Hafens, Wien Museum Magazin, URL: https://magazin.wienmuseum.at/alberner-hafen (Download am 23. September 2022).
Abkürzungsverzeichnis
Stefan Wedrac
1. Einleitung
Vorbedingungen für die Rolle Wiens als NS-Hafenstadt: Häfen, Kanäle und das Erdöl
1.1 Wiener Hafen? Wiener Häfen!
Das Verhältnis der WienerInnen zur Donau ist geprägt von Kultur und Freizeitnutzung. Die theoretisch blaue Donau ist in der Kultur sehr gegenwärtig und einschlägige Walzerklänge¹ sind in weiten Kreisen bekannt. Darüber hinaus sind Donauinsel, Alte Donau und der Donaukanal heute Orte der Naherholung für Tausende. Gegenwärtig im kollektiven Bewusstsein weniger präsent ist die Donau als Schifffahrtsstraße, obwohl das Schicksal Wiens hunderte Jahre untrennbar mit diesem Aspekt des Flusses verbunden war. Am Schwedenplatz zwischen erstem und zweitem Wiener Gemeindebezirk fällt vielleicht die Haltestelle für Boote von und nach Bratislava auf und PassagierInnen einer Donaukreuzfahrt kennen die entsprechenden Anlegestellen am Hauptstrom. Kaum präsent sind hingegen die wirtschaftlichen Berührungspunkte von Stadt und Fluss, sieht man von einzelnen Namen wie »Handelskai« ab. »Häfen sind heute Orte in der urbanen Peripherie, in den Industrie- und Gewerbezonen am Rande der Stadt«,² konstatiert Martin Schmid am Beginn seiner Untersuchung der Häfen Wiens. Tatsächlich machen sich wohl nur wenige WienerInnen darüber Gedanken, dass die von ihnen konsumierten Waren diese anonymen Orte am Rande der Stadt passieren und dort mitunter in großen Mengen vor Großereignissen auf ihre Bestimmung warten wie Erdäpfelchips vor einer Fußball-Weltmeisterschaft der Männer. Dennoch gab und gibt es sie, die Wiener Häfen. Der Begriff »Hafen« für die Orte, an denen Schiffe landen und ihre Waren ein- und ausgeladen werden beziehungsweise PassagierInnen an und von Bord gehen, wird erst seit gut zwei- bis dreihundert Jahren im Zusammenhang mit Flussanlegestellen verwendet. Flusshäfen im heutigen Sinne entstanden vorwiegend während der Industriellen Revolution als künstlich angelegte, räumlich von der Stadt getrennte oder innerhalb ihres Gebietes klar definierte Orte. Davor waren Anlegestellen oft an natürlichen, allenfalls etwas befestigten Ufern und deutlich zerstreuter in die Landschaft der Stadt integriert.³ Über die Jahrhunderte sollten die Wiener Häfen – ob sie nun so genannt wurden oder nicht – ihr Aussehen und ihren Zweck im Gleichschritt mit der Geschichte der Stadt und des Landes ändern.
Die Donau erfüllte im Laufe der Zeit nicht nur in Wien, sondern ganz allgemein auf dem Gebiet des heutigen Österreich für die Menschen verschiedene Funktionen. Während der rund 500 Jahre dauernden Herrschaft des Römischen Reichs galt der breite Fluss vor allem als Grenze: Eine Reihe von Kastellen und Lagern von Legionen sicherte den Donaulimes ab.⁴ Auch die Geschichte Wiens als Hafenstadt beginnt in der Antike. Das Legionslager Vindobona grenzte an den südlichsten schiffbaren Donauarm, der in der Neuzeit Wiener Arm genannt wurde und heute Donaukanal heißt. Zwar weiß man nicht genau, wann die römischen Soldaten den ersten Hafen errichteten, seine Spuren sind aber bis heute erhalten. Einige Meter unter dem Niveau des Lagers fand man im Bereich der heutigen Stiege vor der Kirche Maria am Gestade Steinquader, die als spätantike Hafenanlage gesehen werden können. Da Wien damals hauptsächlich ein militärisch wichtiger Punkt war, nutzte man auch den Hafen für so einen Zweck, wie etwa als Stützpunkt für die panonnische Flotte.⁵
Die Donau blieb im Mittelalter ein wichtiger Verkehrsweg. Nach dem Ende des Römischen Reichs bestand Wien faktisch ununterbrochen weiter, der Donauarm an den Resten des römischen Lagers war im frühen Mittelalter eine wichtige Verkehrsader.⁶ Aber der Wasserweg diente nicht nur kriegerischen Zwecken. Bereits um das Jahr 800 nutzten HändlerInnen Teile des Ufers des südlichsten Donauarms als primitiven Hafen beziehungsweise Landeplatz. Besonders Kaufleute aus Salzburg boten ihre Waren unweit der Landestelle im Bereich der Ruprechtskirche im ersten Gemeindebezirk an.⁷ Im Verlauf des Mittelalters war Wien eine Importstadt von Tuchen und Salzen und eine Exportstadt von Wein, besonders in den bayerischen Raum. Dafür verwendete man die Landeplätze am Donauarm.⁸
Die Dynastie der Babenberger (976 – 1246) war für Wien wichtig. Großen Aufschwung erlebte Wien als Hafenstadt durch das vom Babenberger Herzog Leopold VI. verliehene Stadtrechtsprivileg, welches fremde Handelsleute dazu verpflichtete, in Wien ihre Waren niederzulegen beziehungsweise aufzustapeln und den heimischen HändlerInnen zum Kauf anzubieten. Mit diesem wirtschaftlichen Vorrecht war Wien für einige Jahrhunderte ein Fixpunkt im Donauhandel und entwickelte sich zum großen Flusshandelsplatz. Die meist kleinen Schiffe mit wenig Tiefgang legten entlang der günstig gelegenen Ufer der Donauarme – insbesondere am Wiener Arm – an, wo erste Lagerhäuser und ein Handelsbezirk entstanden.⁹ Nach Wien kamen Waren aus fernen Weltregionen im Osten wie etwa dem Byzantinischen Reich sowie aus den Ländern der Seidenstraße bis hin nach China.¹⁰
Die Blütezeit Wiens als Handelsstadt war jedoch ab dem 15. Jahrhundert vorbei. Die Hussitenkriege machten den österreichischen Donauraum unsicher, die Eroberungsfeldzüge des Osmanischen Reichs in Südosteuropa brachten eine prekäre Situation an der unteren Donau mit sich. Die sogenannte Entdeckung der »Neuen Welt«, der Beginn einer gewalttätigen Kolonisation Amerikas ab 1492, ließ schließlich europäische Handelsrouten am Atlantik Richtung Westen entstehen, weswegen die große Zeit des mittelalterlichen Donauhandels vorüberging.¹¹ Im 16. Jahrhundert waren die Anlegestellen am Wiener Arm jedoch von zunehmender militärischer Bedeutung. Die habsburgischen Kaiser unterhielten eine Donauflotte, die ihr »Arsenal«, also eine Werft und einen Stützpunkt zunächst im Bereich der heutigen Urania neben der Einmündung des Wienflusses in den Donauarm hatte.¹²
Abb. 1.1: Das »Schanzl« im 1. Wiener Gemeindebezirk.
Als die habsburgischen Truppen gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts immer weitere Teile Ungarns und Serbiens vom Osmanischen Reich eroberten, erlangte der Verkehr auf der Donau wieder mehr Bedeutung. Während dieser Epoche und auch noch in der Zeit der zunehmenden Industrialisierung spielten die Länden des Donaukanals eine zentrale Rolle als Hafen. Noch heute zeugen Namen wie »Spittelauerlände«, »Rossauerlände«, »Weißgerberlände« oder »Simmeringer Lände« von dieser Funktion. Große Mengen Holz und Salz, aber auch andere Lebensmittel und Steine wurden beispielsweise hier entladen, in der Nähe bildeten sich Märkte. Einer davon war der Markt am »Schanzl« zwischen Augarten- und Schwedenbrücke, wo dann auch immer mehr Schiffe gewohnheitsmäßig landeten. Erst als Kohle das Holz als wichtigstes Brennmaterial abzulösen begann, verringerte sich der Warenumschlag an den Länden im Laufe des 19. Jahrhunderts beträchtlich.¹³
Der Bau des ersten wirklich neu angelegten Hafen Wiens (im Sinne eines gewidmeten Beckens für den Verkehr auf einer Wasserstraße) hat genau mit dem Aufkommen von Kohle als Brennstoff zu tun: Die Rede ist vom Endpunkt des Wiener Neustädter Schifffahrtskanals. Ab 1794 errichtete man einen rund 60 Kilometer langen Kanal, der 200 Höhenmeter mittels 52 Schleusen zu überwinden hatte und dem Transport von Kohle aus Westungarn nach Wien dienen sollte. Ab 1803 war der Kanal zwischen Wien und Wiener Neustadt befahrbar, bis 1811 verlängerte man ihn nach Pöttsching. In den ersten Jahren betrieb der Staat den Kanal, später wurde er privatisiert und verpachtet. Der Kanal entwickelte sich übrigens nicht zur Kohlentransportroute, sondern zu einem Weg für Holz und Baumaterialien aus dem südlichen Niederösterreich in die Hauptstadt, bevor die Schifffahrt wegen der Konkurrenz der Eisenbahn 1879 eingestellt wurde. Der erste Wiener Hafen des Kanals hatte den im britischen Birmingham als Vorbild und befand sich von 1803 bis 1857 an der Stelle, wo heute der Bahnhof beziehungsweise das Einkaufszentrum Wien-Mitte liegt. Er war 210 mal 140 Meter groß und hatte zwei Ladebereiche für Schiffe.¹⁴
Abb. 1.2: Wiener Neustädter Kanal an der Marxer Linie.
Der Wiener Neustädter Schifffahrtskanal ist ein gutes Beispiel dafür, wie im Laufe der Industriellen