Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten: Eine Handreichung für alle und jede(n)
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Über dieses E-Book
"Dieses Buch ist ein großer Gewinn für alle, die mit dem Thema Narzissmus in Berührung kommen, sei es im Rahmen von Psychotherapie und Coaching, im privaten Bereich oder auf der Arbeitsebene."
Kaum ein psychologisches Etikett ist heute so beliebt wie das des Narzissten. Vom Präsidenten bis zur Kollegin im Team, allerorten finden sich selbstverliebte Egomanen, die erwarten, dass die Welt sich nach ihnen richtet. Fatalerweise trägt die Umwelt häufig dazu bei, dass narzisstisches Verhalten eher belohnt als erschwert wird.
Klaus Eidenschink räumt mit dem Missverständnis auf, Narzissmus sei eine angeborene Charakterschwäche. Er versteht narzisstische Verhaltensweisen als Ausdruck von inneren Nöten, die mit einem Mangel an Selbstwahrnehmung einhergehen. Der Ursprung liegt häufig in fehlender Resonanz oder in seelischer Vereinnahmung zu Beginn der Selbstentwicklung.
Eidenschink erklärt die Funktionen, die hinter narzisstischen Nöten stehen, und er zeigt auf, wann man durch eigenes Verhalten narzisstische Nöte bei anderen fördert oder aufrecht erhält. Das Buch sensibilisiert auch dafür, emotionale Signale in sich selbst ernst zu nehmen und sie richtig zu deuten. Wer es gelesen hat, wird narzisstische Nöte leichter erkennen und kann angemessen auf sie reagieren.
Der Autor:
Klaus Eidenschink, Organisationsberater, Coachingausbilder, Exekutive-Coach; Senior Coach im Deutschen Bundesverband Coaching e. V. (DBVC); Gründer und Leiter von Hephaistos, Coaching-Zentrum München; in der Geschäftsleitung des Gestalttherapeutischen Zentrums Würmtal; Studium der Theologie, Philosophie und Psychologie. Arbeitsschwerpunkte: Beratung und Coaching des Top-Managements von großen Konzernen und mittelständischen Unternehmen in Fragen der Konfliktbewältigung, Changemanagement und der Entwicklung von Vorstands- und Geschäftsführerteams; Coaching von Manager:innen in komplexen Entscheidungssituationen; Teamentwicklungen mit sogenannten "schwierigen" Teams; Klärung von Konflikten zwischen Gruppen und Abteilungen.
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Buchvorschau
Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten - Klaus Eidenschink
1
WIE ENTSTEHT NARZISSTISCHE NOT?
Ich erwarte einen Psychotherapieklienten zum Ersttermin. Rechtsanwalt. Laut Aussagen des Kardiologen, der ihn schickt, ist er erfolgreich, reich und unglücklich. Äußerer Grund sind wiederkehrende Herzbeschwerden, für die sich keine körperlichen Ursachen finden lassen. Er kommt zur Tür herein: »Hallo! Ich hoffe, Sie haben hier Kaffee.« – »Guten Morgen, Herr Müller. Kommen Sie doch erst mal rein und legen Sie ab! Wollen Sie schon mal vorgehen und Platz nehmen? Dann bringe ich Ihnen den Kaffee mit.« – »Ja, aber nur mit laktosefreier Milch!« – »Oh, das tut mir leid, das kann ich Ihnen leider nicht anbieten.« – »Das geht ja schon mal gut los hier. Dann halt schwarz.« – – – »Was führt Sie zu mir?« – »Mein Arzt sagte, Sie seien der Beste. Ich geh nur zu den Besten. Außerdem bin ich ein schwieriger Fall. Selbst der Professor ist mit seinem Latein am Ende. Aber mir muss schnell geholfen werden. Meine Mandanten erwarten meinen vollen Einsatz. Da muss ich fit sein.«
In mir macht sich Antipathie breit und der Wunsch, ihn schnell loszuwerden. Keine zwei Minuten hat er gebraucht, um ein solches Gefühl bei mir zu hervorzurufen¹⁰ – erstaunlich schnell und gekonnt.
Wie schafft jemand so etwas? Er verhält sich egozentrisch, ansprüchlich, arrogant, ausbeuterisch, eigenbrötlerisch und selbstsüchtig. Will er das? Merkt er es? Kann er die Wirkung erfassen? Wie lässt es sich erklären, dass ein Mensch so auftritt und wirkt?
Aus psychologischer Sicht lässt es sich so verstehen: Er wurde so, weil er in seinem bisherigen Leben keinen anderen Weg gefunden hat, ein irgendwann mal erlebtes Leid anders als auf diese Weise zu verarbeiten. Das Muster seiner Notbewältigung aus frühen Tagen – ich muss mich so organisieren, dass ich niemanden brauche – ist hyperstabil. Er benimmt sich immer noch so, wie er als Kind gelernt hat, seelisch zu überleben, obwohl er schon längst nicht mehr in der Ursprungsfamilie lebt, in der er großgeworden ist. Seine Vergangenheit ist nicht vergangen, sondern permanente Gegenwart. Die Software seiner Kindheit bestimmt das Leben als Erwachsener.
Wir Menschen sind seelische Überlebenskünstler. Das müssen wir auch sein, weil viele von uns unter ungünstigen Bedingungen großwerden, manchmal, ohne es zu merken. Wer in ungünstigen Umständen überlebt, bildet allerdings nicht unbedingt die Fähigkeiten aus, die es zu einem guten Leben braucht.
Überleben garantiert die Kunst im Umgang mit Unglück, aber nicht die Offenheit für Glück.
In diesem Buch geht es um die Form von seelischem Überleben, die man als Narzissmus bezeichnet. Deshalb wird es hilfreich sein, wenn ich Ihnen zunächst beschreibe, um welche Not es denn geht. Was erleben Kinder und bearbeiten es in der Folge so, dass dabei narzisstische Erlebens- und Verhaltensweisen herauskommen?
Der erste und besonders bittere Punkt ist, dass die Bedingungen, unter denen narzisstisches Leid gedeiht, so unscheinbar sind. Narzissmusfördernde Bedingungen sind deshalb in besonderem Maße schrecklich, weil sie dem ungeschulten Auge nicht als schrecklich auffallen. Wer seinem Kind eine Form von Beziehung zumutet, die es in narzisstische Nöte bringt, merkt das in der Regel nicht. Auch das Umfeld merkt es oft nicht. Ebenso wenig nehmen es die betroffenen Kinder unmittelbar als schlimm wahr. Das wäre anders, wenn die Kinder geschlagen würden oder andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung zu sehen wären. Dann käme das Jugendamt. Aber nicht bei narzisstischer Erziehung! Das erzeugte Leid ist mit dem von körperlichen Gewalterfahrungen allerdings durchaus vergleichbar. Die blauen Flecke der Seele aufgrund von narzisstischem Missbrauch bleiben zunächst jedoch unsichtbar.
Studiert man die psychologische Fachliteratur, um zu erfahren, wie sich »Narzissmus« zeigt, werden interessanterweise meist die problematischen Auswirkungen in Bezug auf die Umwelt beschrieben, z. B. Egozentrizität, Empfindlichkeit, Empathiemangel und Entwertung.¹¹ Das ist als Beschreibung äußerlicher Verhaltensweisen wichtig und korrekt. Damit wissen wir allerdings noch nichts über die innere Not solcher Menschen.
Meine erste vorläufige Antwort lautet: Die Not besteht darin, dass man wenig bis keine innere Orientierung hat.¹² Man spürt nicht, was man will, sondern man spürt, was man denkt, dass man es spüren sollte. Wenn sich Wünsche und Bedürfnisse nicht aus dem Erleben speisen, sondern man sie sich ausdenken kann, dann wählt man sich nicht das, was zum Moment und zu einem selbst sowie dem Umfeld passt, sondern sucht sich etwas wie aus einem Einkaufsregal aus. So will man dann immer nur das Beste, wie der Anwalt im obigen Beispiel! Oder man möchte die Schönste, der Beliebteste, der Wichtigste oder die Mächtigste sein. Hat man sich eine derartige Ersatzorientierung erst einmal ausgedacht, weiß man anschließend, was man tun muss: Man muss dann andere beeindrucken, kontrollieren, umgarnen, quälen, umsorgen, instrumentalisieren, ausbeuten, austricksen, ausstechen, abhängig machen, erobern oder verführen. Bei narzisstischer Not geht es also paradoxerweise nie um eigene Wünsche, sondern um Zielsetzungen, die die Gewähr bieten, dass man bedeutsam ist oder die Kontrolle hat! Es geht demnach überhaupt nicht um eigene Bedürfnisbefriedigung und Verbundenheit mit anderen!¹³ Das Ziel von narzisstischen Seelenmustern ist Stabilisierung, um die Not zu begrenzen – was keiner merken darf, nicht einmal der Betroffene. Es kann gar nicht um einen selbst gehen, weil es eben dieses »Selbst« gar nicht gibt oder es sich so verletzlich anfühlt, dass es um jeden Preis »geschützt«¹⁴ werden muss. So gilt es, einen weiteren Punkt der Beschreibung festzuhalten: Der Kern narzisstischer Not besteht in innerer Leere, die die Folge eines elementaren Mangels an (Fremd- und) Selbstwahrnehmung ist.¹⁵
Machen wir uns an dem obigen Beispiel klar, worin das innere »Nichts« besteht: Der Mann orientiert sich nicht daran, ob er das Gefühl hat, er sei bei mir gut aufgehoben, sondern an einem entfremdeten Kriterium wie »der Beste«. Er sucht nicht die Verbindung zu mir, sondern zum Kaffee. Er erzählt nichts von sich persönlich, sondern macht sich zum »schwierigen Fall«. Er erzählt nichts von seinen Ängsten, wenn er nicht mehr leistungsfähig ist, sondern definiert sich als unersetzlich für seine Mandanten. Er selbst kommt in meinem Praxisraum im Grunde nicht vor. Nichts zeigt sich, das bei mir einen Kontaktwunsch auslösen könnte. Er ist mit mir zusammen und dabei vollkommen allein.
Aufgrund welcher Erlebnisse entwickelt sich in Menschen ein solcher Mangel an Selbstwahrnehmung? Wie kann es zu einem solchen Defizit kommen? Viele Psychologen unterschiedlicher Richtungen sind sich darüber inzwischen relativ einig.¹⁶ Wir Menschen sind Resonanzwesen. »Der Mensch wird am Du zum Ich« (Martin Buber). Wenn dieses »Mit-anderen-in-Resonanz-Kommen« scheitert oder massiv gestört ist, dann besteht es eine Art, damit zurechtzukommen, darin, dass man ein narzisstisches Erlebensmuster ausbildet.
Die folgenden Abschnitte beschreiben nun die Kontexte, in denen narzisstische Not gedeiht. Es geht um fehlenden situativen Bezug von Resonanz (s. Kap. 1, S. 20), um unpassende emotionale Intensität (s. Kap. 1, S. 23) und Rhythmisierung (s. Kap. 1, S. 25) sowie um das Drama, wenn Kinder sich selbst zum Freund werden müssen, weil draußen in der Welt nur verfälschende Spiegelungen zu finden sind (s. Kap. 1, S. 27).
Die Not, die aus falschem Kontakt erwächst
Ein Bankvorstand, zwei Meter groß, imposante Erscheinung. Er verströmt die Erwartung, dass er Aufmerksamkeit auf sich zieht. Seine Ausstrahlung füllt den Raum mit seiner Dominanz. Laute, tiefe Stimme.
Im Laufe von einem halben Jahr Coaching wurde ihm seine Einsamkeit bewusst, die hinter den depressiven Episoden der letzten Jahre steckt. »Ich bin doch von Menschen umgeben, wie kann ich da einsam sein?«, fragt er fast verzweifelt. Bei einem Familienfest spricht er lange mit seiner 90-jährigen Tante über die Zeit seiner Geburt und woran sie sich so erinnert. Sie ist ganz betrübt. Zögerlich erzählt sie ihm, dass seine Mutter sich immer einen wilden, lauten, bestimmenden Jungen gewünscht hatte, bereits während der Schwangerschaft. Er sei aber schon auf dem Wickeltisch durch seine ruhige, stille, in sich gekehrte Art aufgefallen. Die Mutter wollte ihn so (!) nicht und behandelte ihn stattdessen, wie es ihrem Bild (!) von einem Sohn entsprach. Er bekam keine Resonanz auf sich, sondern auf das, was die Mutter in ihm sah. Der Tante tat das in der Seele weh, und es führte zum vorübergehenden Bruch mit der Schwester.
»Unverstanden und verloren unter anderen war ich offensichtlich von Beginn meines Lebens an!«, so sein tränenreiches Fazit. Er war nie gesehen und gemeint. So wurde er, was er für die Mutter sein sollte: mächtig, laut, bestimmend, beeindruckend. Das Schmuckstück einer exaltierten Frau. Aber nicht er selbst.
Kontakt bekommt man mit anderen Menschen dann, wenn man sein Innenleben wahrnimmt und ausdrückt, dabei auf die Reaktionen der anderen achtet und schließlich wiederum selbst auf das, was andere an Resonanz zeigen, reagiert. So kann man beschreiben, was es heißt, wenn Menschen aufeinander bezogen sind.
Wenn nun primäre Bezugspersonen nicht auf das Kind reagieren, sondern auf ihre Vorstellungen, wie das Kind oder die Beziehung zu sein hat, dann entsteht kein Kontakt, sondern Manipulation. »Werde, der/die du für mich sein sollst!« ist in der Folge das leitende Prinzip. Warum ist so ein Beziehungsmuster so destruktiv?
Menschen sind soziale Wesen – resonanznehmend und resonanzgebend. Vom ersten Atemzug an. Selbstwahrnehmung entwickelt sich an Fremdwahrnehmung. Selbstregulation lernen wir durch die Fremdregulation der Bezugspersonen. Wenn die Eltern diesen Bezogenenheitsraum zum eigenen Nutzen missbrauchen, verliert das Kind seinen Platz. So lauten die Botschaften: Versorge du mich mit Glück! Mach mein Leben sinnvoll! Sing mir ein Lied! Mach mich stolz! Lass mich in Ruhe! Unterhalte mich! Sei das, was ich nie werden konnte! Sei für mich etwas