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Einleitung in das Neue Testament
Einleitung in das Neue Testament
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eBook1.507 Seiten15 Stunden

Einleitung in das Neue Testament

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Über dieses E-Book

Well-structured and easy to read the authors of this textbook present this introduction on level with the current academic debate. The writings are at the centre of the work. They are organised in four thematic blocks, preceded by general topics (questions on synopsis, pseudepigrapha). Every writing is analyzed following its structure, its genesis (time, place, author, sources, and hypothesis of separation) and its specific discussion (cultural milieu, situation, content).
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Nov. 2019
ISBN9783170361102
Einleitung in das Neue Testament

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    Buchvorschau

    Einleitung in das Neue Testament - Martin Ebner

    image1

    Kohlhammer Studienbücher Theologie

    Herausgegeben von:

    Christian Frevel

    Gisela Muschiol

    Dorothea Sattler

    Hans-Ulrich Weidemann

    Band 6

    Martin Ebner

    Stefan Schreiber (Hrsg.)

    Einleitung in das Neue Testament

    3., überarbeitete Auflage

    Verlag W. Kohlhammer

    Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    3., überarbeitete Auflage 2020

    Alle Rechte vorbehalten

    © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

    Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

    Print:

    ISBN 978-3-17-036108-9

    E-Book-Formate:

    pdf: ISBN 978-3-17-036109-6

    epub: ISBN 978-3-17-036110-2

    mobi: ISBN 978-3-17-036111-9

    Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

    In übersichtlicher, gut lesbarer Form stellen die Autorinnen und Autoren dieses Studienbuchs das Grundwissen der neutestamentlichen Einleitung auf dem neuesten Stand der Fachdiskussion dar. Inhaltlich stehen die Einzelschriften im Vordergrund, die zunächst hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer Entstehung (Zeit, Ort, Verfasser, Traditionen, Quellen, Teilungshypothesen) diskutiert werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dann auf dem spezifischen Diskurs jeder Schrift, der Perspektive, unter der die christliche Botschaft profiliert wird (kulturelles Milieu, Situation, Inhalte). Es wird erkennbar, wie sich »Theologie« in geschichtlichen Situationen entwickelt. Daneben finden sich Darstellungen der Kanon- und Textgeschichte des Neuen Testaments, der Synoptischen Frage, der für das NT wesentlichen literarischen Formen »Biographie« und »Brief« sowie der Lebensdaten des Paulus.

    Die AutorInnen der einzelnen Kapitel sind: Martin Ebner, Bonn – Marlis Gielen, Salzburg – Gerd Häfner, München – Martin Karrer, Wuppertal – Matthias Konradt, Heidelberg – Joachim Kügler, Bamberg – Dietrich Rusam, Bamberg – Thomas Schmeller, Frankfurt – Stefan Schreiber, Augsburg – Michael Theobald, Tübingen.

    Prof. em. Dr. Martin Ebner lehrte Exegese des Neuen Testaments an der Universität Bonn. Prof. Dr. Stefan Schreiber lehrt Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Augsburg.

    Inhalt

    Vorwort

    Vorwort zur 3. Auflage

    A.  Einführung

    A.I.  Der christliche Kanon

    (Martin Ebner)

    A.II.  Der Text des Neuen Testaments

    (Stefan Schreiber)

    B.  Die vier Evangelien

    B.I.  Die synoptische Frage

    (Martin Ebner)

    B.II.  Die Spruchquelle Q

    (Martin Ebner)

    B.III.  »Evangelium«

    (Martin Ebner)

    B.IV.  Das Matthäusevangelium

    (Martin Ebner)

    B.V.  Das Markusevangelium

    (Martin Ebner)

    B.VI.  Das Lukasevangelium

    (Dietrich Rusam)

    B.VII.  Das Johannesevangelium

    (Joachim Kügler)

    C.  Die Apostelgeschichte

    (Dietrich Rusam)

    D.  Die Briefe

    D.I.  Briefliteratur im Neuen Testament

    (Stefan Schreiber)

    D.II.  Chronologie: Lebensdaten des Paulus

    (Stefan Schreiber)

    D.III.  Der Römerbrief

    (Stefan Schreiber)

    D.IV.  Der erste Korintherbrief

    (Thomas Schmeller)

    D.V.  Der zweite Korintherbrief

    (Thomas Schmeller)

    D.VI.  Der Galaterbrief

    (Michael Theobald)

    D.VII.  Der Philipperbrief

    (Michael Theobald)

    D.VIII.  Der erste Thessalonicherbrief

    (Stefan Schreiber)

    D.IX.  Der Philemonbrief

    (Martin Ebner)

    D.X.  Der Epheserbrief

    (Michael Theobald)

    D.XI.  Der Kolosserbrief

    (Michael Theobald)

    D.XII.  Der zweite Thessalonicherbrief

    (Stefan Schreiber)

    D.XIII.  Die Pastoralbriefe (1 Tim/2 Tim/Tit)

    (Gerd Häfner)

    D.XIV.  Der Hebräerbrief

    (Martin Karrer)

    D.XV.  Der Jakobusbrief

    (Matthias Konradt)

    D.XVI.  Der erste Petrusbrief

    (Marlis Gielen)

    D.XVII.  Der zweite Petrusbrief

    (Marlis Gielen)

    D.XVIII.  Der erste Johannesbrief

    (Joachim Kügler)

    D.XIX.  Der zweite Johannesbrief

    (Joachim Kügler)

    D.XX.  Der dritte Johannesbrief

    (Joachim Kügler)

    D.XXI.  Der Judasbrief

    (Marlis Gielen)

    E.  Die Offenbarung des Johannes

    E.I.  Apokalyptische Literatur

    (Stefan Schreiber)

    E.II.  Die Offenbarung des Johannes

    (Stefan Schreiber)

    Anhang

    Vorwort

    Die »Einleitung in das Neue Testament« möchte grundlegende Fragen klären, die sich vor der Lektüre eines neutestamentlichen Buches stellen, z. B. nach dem Verfasser oder der Zeit der Abfassung. Daher orientiert sich die vorliegende Einleitung weitgehend an der kanonischen Reihenfolge der Bücher: Auf eine Einführung zu Kanon und Text (Teil A) folgen die Evangelien (Teil B), die Apostelgeschichte (Teil C), die Briefe (Teil D) und die Offenbarung (Teil E). Übergreifende Fragen sind in jedem Teil an den Anfang gestellt.

    Die Behandlung der einzelnen Schriften gliedert sich grundsätzlich in drei Abschnitte, so dass man rasch die Antwort auf spezielle Fragen finden kann: (1) Struktur: Bei narrativen Texten wird die innere Struktur der Erzählung (Plot), bei diskursiven Texten die Struktur der Argumentation analysiert. (2) Entstehung: Darunter werden nicht nur die Abfassungszeit, sondern auch verarbeitete Quellen und Traditionen, Vorstufen des Textes bzw. Teilungshypothesen diskutiert. (3) Diskurs: Die Perspektive wird dargestellt, unter der die christliche Botschaft profiliert wird: in welches kulturelle Milieu sie spricht, wogegen sie sich absetzt, welche Inhalte sie dafür einsetzt. Es wird gezeigt, wie sich »Theologie« in geschichtlichen Situationen entwickelt.

    Die Gestaltung des Druckbildes liefert Lesehilfen: In Kleindruck gesetzte Passagen enthalten vertiefende Informationen, die beim ersten Durchgang durchaus ausgelassen werden können. Literatur, auf die im Text durch Autorennamen (und, wo zur Eindeutigkeit nötig, Kurztitel) verwiesen wird, ist am Ende jedes Beitrags aufgelistet, wobei wir vier Rubriken unterscheiden: Kommentare, Einzelstudien, Forschungsüberblicke und sonstige Literatur. Drei Anhänge am Schluss des Bandes bieten eine Auflösung wichtiger Abkürzungen, ein Glossar einschlägiger Fachbegriffe sowie einige Karten zur geographischen Welt des Neuen Testaments.

    Unser Dank gilt zuerst der Kollegin und den Kollegen, die Beiträge zu diesem Werk übernommen und ihr Expertenwissen eingebracht haben. Viele fleißige Köpfe und Hände haben im Hintergrund bei der Entstehung dieser Einleitung mitgewirkt, haben Bücher geschleppt, Manuskripte geschrieben und Korrekturen gelesen; namentlich danken wir dafür sehr herzlich Frau Elfriede Brüning und Frau Angelika van Dillen, Markus Lau, Eva Rünker und Thomas Schumacher, Hanna Mehring, Michael Hölscher und Manuel Verhufen. Für die Mühen der formalen Endredaktion mit diversen Abgleichungen und Vereinheitlichungen der Manuskripte bedanken wir uns sehr bei Annedore Wilmes und Anika Thockok. Dem Reihenherausgeber, Herrn Kollegen Hans-Josef Klauck, sagen wir Dank für die unkomplizierten Gespräche im Vorfeld und die Durchsicht des Manuskripts. Schließlich gilt unser Dank dem Verlag W. Kohlhammer für die kompetente und interessierte Begleitung und Betreuung der Einleitung, besonders dem Lektor Herrn Jürgen Schneider und Herrn Florian Specker.

    Münster, im März 2008

    Martin Ebner

    Stefan Schreiber

    Vorwort zur 3. Auflage

    Die dritte Auflage lässt die »Einleitung« in neuem Layout erscheinen. Das hat uns auch die Gelegenheit gegeben, dem Gang der Forschungsdiskussion entsprechend größere und kleinere Bearbeitungen der einzelnen Artikel vorzunehmen, um die Aktualität des Buches zu gewährleisten. Den Autorinnen und Autoren danken wir für die Bereitschaft, noch einmal Zeit und Mühe in ihre Artikel zu investieren.

    Außerdem ist uns das Problem gendergerechter Sprache aufgefallen. Da die einzelnen Artikel von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren verantwortet werden, haben wir keine Einheitlichkeit in den Sprachregelungen angezielt. Jeder und jedem wurde deshalb freigestellt, in welcher Form sie/er seine Sensibilität dafür in den Text einbringt.

    Frau Lena Zacherle und Herrn Paul Weininger danken wir sehr herzlich für das umsichtige Korrekturlesen, den Herren Florian Specker und Dr. Sebastian Weigert vom Verlag Kohlhammer für ihr Engagement, die umsichtige Lektorierung und die gute Zusammenarbeit bei der Gestaltung der dritten Auflage.

    Augsburg/Bonn, im September 2019

    Martin Ebner

    Stefan Schreiber

    A.  Einführung

    A.I.  Der christliche Kanon

    (Martin Ebner)

    1.  Dein Buch verrät dich!

    Bis auf den heutigen Tag verrät die Bibelausgabe ihre Benutzer. Ein geübtes Auge kann allein am Inhaltsverzeichnis erkennen, welcher konfessionellen Richtung sie angehören oder sich zugehörig fühlen.

    1.1  Moderne Bibelausgaben

    Gibt es zwischen den atl und ntl Büchern eine eigene Rubrik »Die apokryphen Bücher des Alten Testaments«, handelt es sich um eine Bibelausgabe aus den Kirchen der Reformation. Präziser: Werden lediglich 1/2 Makk, Jud, Tob, Sir und Weish aufgelistet, ist es die Zürcher Bibel (reformierte Kirche), finden sich zusätzlich Bar, Zusätze zum Buch Ester und zum Buch Daniel sowie das Gebet des Manasse, ist es die Lutherbibel (Lutheraner).

    In seiner ersten Vollbibel von 1534 hat Martin Luther nur diejenigen Bücher des AT als kanonisch gelten lassen, deren hebräische Überlieferung (damals) feststand (veritas hebraica). Alle anderen atl Bücher, die nur in griechischer Sprache überliefert waren, hat er dagegen in die Rubrik »Apokryphe« (»Verborgene« [Bücher]) gestellt: »das sind die Bü­cher, so der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind.« Im Unterschied zu den Lutheranern haben die reformierten Kirchen die Apokryphen förmlich aus dem Kanon ausgeschlossen. Auf dem aktuellen Büchermarkt finden sich gewöhnlich Alternativausgaben mit und ohne Apokryphen. Die neue Ausgabe der Zürcher Bibel (2007) verzichtet jedoch (wieder) vollends auf die Apokryphen.

    Werden die atl Apokryphen dagegen eingeordnet unter die Bücher der Ge­schichte (Tob, Jud, Zusätze zu Est, 1/2 Makk), der Weisheit (Weish, Sir) so­wie der Prophetie (Bar, Zusätze zu Dan), so handelt es sich um eine Bibelaus­gabe, wie sie für den katholischen Raum typisch ist. Auf der Linie des triden­tinischen Konzils (1546) werden die von den Reformatoren in die zweite Reihe gestellten Apokryphen zwar als »deuterokanonisch« (»zu einem zweiten Kanon gehörig«) bezeichnet, aber vom Offenbarungscharakter her gleichwer­tig behandelt.

    Etwas subtiler sind die Unterschiede bei den ntl Büchern. Hier kommt es auf die Reihenfolge unter den Briefen an. Testfälle sind Jak und Hebr. In einer katholischen Bibelausgabe führt Jak die »Katholischen Briefe« an. In einer Lutherbibel dagegen hat er die vorletzte Position unter den Briefen insgesamt. Die Rubrik »Katholische Briefe« wird vermieden. Der Hebr, der in katholi­schen Ausgaben die Paulusbriefsammlung abschließt, ist in Lutherausgaben ebenfalls nach hinten gerückt; er steht vor Jak. Die Zürcher Bibel stimmt zwar mit der Reihenfolge der katholischen Ausgaben überein, nimmt jedoch Hebr aus den Paulusbriefen heraus und stellt ihn an den Anfang der »übrigen Briefe« (Ausgabe 1955; Ausgabe 2007 ohne jegliche Untergliederungen).

    Für diese unterschiedliche Reihenfolge sind theologische Entscheidungen verantwortlich: Für Luther ist Jak eine »stroherne Epistel«, weil er – im Gegensatz zu den pln Briefen – die Werke gegenüber dem Glauben zu stark betont (Jak 2,14); Hebr kann für Luther, für den die Sündenvergebung für Glaubende aus Gnade allein zum Herzstück seiner Theologie gehört, schon deswegen nicht sympathisch sein, weil er in 6,4–8 die sog. zweite Buße verweigert.

    Ein untrügliches Unterscheidungsmerkmal zwischen den konfessionellen Lagern ist schließlich die Schreibweise der Eigennamen. Findet man »Kafar­naum« (anstelle des vertrauten »Kapharnaum«), so hat man die sog. Einheits­übersetzung in der Hand, ein 1963 unmittelbar nach dem Zweiten Vatikani­schen Konzil von katholischer Seite aus begonnenes Übersetzungswerk, des­sen ursprüngliches Ziel eine ökumenisch verantwortete Bibelübersetzung war. Eine tatsächliche Mitwirkung von Beauftragten der evangelischen Kirche in Deutschland und des Deutschen Evangelischen Bibelwerks ließ sich jedoch nur für das Psalmenbuch, Röm, Gal und die Lesungen der Sonn- und Feiertage erreichen. Immerhin ist ein gemeinsames Richtlinienwerk hinsichtlich der biblischen Eigennamen und Ortsbezeichnungen erstellt worden (»Loccumer Richtlinien«), das »die bisherige konfessionelle Unterschiedenheit künftig« überwinden sollte (Einführung der Einheitsübersetzung 1972). Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Während im katholischen Bereich die Einheitsüber­setzung Eingang in die liturgischen Bücher gefunden hat und damit die gottes­dienstliche Praxis prägt (ab 2016 in revidierter Fassung), ist das im protestantischen Raum auch für die ge­meinsam verantworteten Passagen nicht der Fall. Völlig parallel dazu steht es mit der tatsächlichen Anwendung der Loccumer Richtlinien: Ziemlich treff­sicher lassen sich unter diesem Kriterium die Verfasser von wissenschaftli­chen Beiträgen einem bestimmten konfessionellen Lager zuordnen. Bereits ein Spatium markiert den Unterschied: Wer – gemäß den Loccumer Richtlinien – »1 Kor« schreibt (und »Eins Korinther« sagt), outet sich als Katholik, wer dagegen »1Kor« schreibt (und »Erster Korinther« sagt), als Protestant – und zwar unabhängig von den spezifischen theologischen Positionen, die längst quer über die Konfessionsgrenzen hinweg vertreten werden. Dass die Zürcher Bibel 2007 die Loccumer Richtlinien für die Schreibweise der Eigennamen übernommen hat, ist im Blick auf die formale Gestaltung von Bibelüberset­zungen ein demonstratives Zeichen ökumenischer Annäherung.

    Aus diesen Beobachtungen hinsichtlich der Reihenfolge der biblischen Bü­cher, ihrer drucktechnischen Vereinheitlichung sowie des gottesdienstlichen Gebrauches von Übersetzungen lässt sich einiges für das Phänomen Kanon als Spiegel für Gruppenformationen lernen: (1) Obwohl der Kanon festgelegt scheint, ist er doch ständig in Bewegung, sofern sich die Gruppen, die sich über den Kanon definieren, verändern. Ihre Abgrenzungs- bzw. Verständi­gungsaktionen schlagen sich auf die Gestaltung (Reihenfolge der Bücher, drucktechnische Vereinheitlichungen) sowie den Einsatz der als kanonisch erachteten Bücher (gottesdienstlicher Gebrauch) nieder. An »kanonischen Veränderungen« lassen sich demnach Gruppenformationen ablesen. (2) Erst neue Akzentsetzungen, Ausschluss bzw. Degradierung bestimmter Bücher, Veränderung der Reihenfolge – wie in der Reformationszeit – fordern dazu heraus, das bisher Übliche präzise zu definieren (Trient). (3) Die kanonischen Bücher neu oder anders zu gruppieren, ist eine Konsequenz aus zuvor getrof­fenen theologischen Entscheidungen. Die theologische Kritik der Reformato­ren an der Werkgerechtigkeit der Papstkirche schlägt sich u. a. in der Neu­positionierung von Jak und Hebr nieder; das sola scriptura-Prinzip – in Abset­zung vom Traditionsprinzip der Papstkirche – in der Beschränkung allein auf die hebräischen Bücher des AT als offenbarungsrelevant. (4) Die augenfäl­ligste Markierung von Gruppengrenzen geschieht – im Blick auf den Kanon – über Formalia, wie an den Loccumer Richtlinien zu beobachten war. Was als ein Schritt hin zu größerer ökumenischer Verständigung gedacht war, hat sich zum Signal gegenseitiger Unterscheidbarkeit entwickelt, so dass anstelle eines angezielten einheitlichen Benennungssystems von Namen und Büchern klar unterscheidbare Sozioskripte (1Kor/1 Kor) bzw. Soziolekte (Erster Korin­ther/Eins Korinther) entstanden sind.

    Mit diesen Erkenntnissen wollen wir nun an die frühchristlichen Bibelaus­gaben herangehen und fragen entsprechend

    • nach formalen Auffälligkeiten (→ 1.2),

    • nach der Abfolge der Bücher sowie nach möglichen Analogien und Alter­nativen (→ 2.) und

    • nach den Gruppenprozessen, die hinter der Kanonbildung stehen (→ 3.).

    1.2  Frühchristliche Bibelausgaben

    Auch die frühen Christusgläubigen verraten ihre religiöse Orientierung durch das Buch, in dem ihre heiligen Schriften zu lesen waren. Das gilt sowohl gegenüber der paganen Umwelt (1.2) als auch innerhalb der christlichen Gruppierungen (2.2). Gegenüber der paganen Buchkultur spielen vor allem drei Faktoren eine Rolle: Christusgläubige verwenden den Kodex als Buchform sowie ein eige­nes Abkürzungs- und Buchbenennungssystem.

    1.2.1  Der Kodex als Buchform

    Die Auswertung der 172 griechischen Bibelhandschriften und Fragmente aus den ersten vier Jahrhunderten hat Folgendes ergeben: 158 stammen aus Kodi­zes, also der uns heute geläufigen Buchform, und nur 14 aus Buchrollen (C. H. Roberts/T. C. Skeat, Birth 38–44). Was ist daran auffällig? Bis ins 3. Jh. n. Chr. war die Rolle die Buchform für literarische Texte schlechthin. Der Kodex dagegen, ab dem 1. Jh. n. Chr. nachweisbar, steht für die Verbreitung von Gebrauchsliteratur. Erst im 4. Jh. n. Chr. halten sich beide Formen die Waage, bevor im 5. Jh. n. Chr. der Kodex – vermutlich unter christlichem Ein­fluss – zur bestimmenden Buchform für literarische Texte wird.

    Buchrollen sind lange Bänder, die aus aneinander geklebten Papyrusblättern oder Pergamentseiten bestehen. Der Text wird in Spalten nebeneinander ge­schrieben. Beim Lesen zieht man die Rolle auseinander und wälzt in paralle­len Handbewegungen jeweils ein Stück der Rolle von links nach rechts, um mit den Augen von einer Textspalte zur nächsten zu kommen. Die längste Rolle, die aus der Antike erhalten ist, stammt aus Ägypten (1150 v. Chr.) und ist 40,5 m lang, die Tempelrolle aus der Bibliothek von Qumran am Toten Meer misst 8,2 m. Platons »Symposion« ließe sich auf einer Rolle von etwa 7 m unterbringen (H. Blanck 75–86).

    Ganz anders der Kodex (von lat. codex = Baumstamm). Einzelne Papyrus­blätter, ab dem 4. Jh. auch Pergamentseiten, werden gefaltet und in der Falz­linie mit einem Faden vernäht (Fadenheftung). Solche »Bögen« können in beliebiger Anzahl am Rücken miteinander vernäht werden. Das so entstandene »Buch« wird – anders als die Buchrolle – durch einen festen Einband ge­schützt (H. Blanck 86–96).

    Vorläufer des Kodex sind die so genannten membranae, eine Art Notiz­bücher, die nur aus wenigen zusammengehefteten Papyrusbögen bestanden. Sie waren vor allem im römischen Kulturraum verbreitet (vgl. Quint., Inst Or X 3,31f.) – im Griechischen gibt es dafür keine eigene Bezeichnung (vgl. 2 Tim 4,13) – und wurden im Schulunterricht, für Tagebuchnotizen sowie im öffentlichen und privaten Aktenwesen eingesetzt.

    Werden mehrere dieser Notizbücher zusammengeheftet und mit einem Ein­band versehen, haben wir einen Kodex vor uns, also die Form, die mit der Zeit auch für literarische Texte Verwendung fand. Erste Vorstöße in diese Rich­tung lassen sich Ende des 1. Jh. beobachten. Allerdings war das eine Art Re­volution im Buchwesen, vergleichbar den Reclam-Bändchen als Alternative für die kostbar gebundenen Klassikerausgaben Ende des 19. Jh. Auch in die­sem Fall hat es eine Weile gedauert, bis die neue Form des Taschenbuchs für literarische Texte gesellschaftsfähig wurde. Der römische Dichter Martial (38/41–103/104 n. Chr.) hat einen ausgesprochenen – und offensichtlich nöti­gen – Werbetext verfasst, als seine Gedichte in Kodexform neu aufgelegt wurden. Vor allem durch den Verweis auf die Handlich­keit und die Reisetauglichkeit des Kodex will er zum Kauf reizen (Ep I 2). Aber es hat bis ins 5. Jh. gedauert, bevor der Kodex zur selbstverständlichen Buchform auch für literarische Texte geworden ist. Die christlichen Schriften erscheinen von Anfang an in Kodexform. Die Spuren der Fadenheftung in den Papyri sind bis heute das Zeugnis dafür.

    Über die Gründe, weshalb Christen – im Unterschied zu den Buchkonven­tionen ihrer Zeit – zur Kodexform für ihre heiligen Schriften gegriffen haben, wurde viel gerätselt.

    »Big Bang«-Theorien (

    G. N. Stanton

    , Jesus 167) machen Prototypen dafür verantwortlich: Das MkEv (

    C. H. Roberts

    , Codex), die Vier-Evangeliensammlungen (

    T. C. Skeat

    , Origin) bzw. die Paulusbriefe (

    H. Y. Gamble

    58–65) seien als Kodex erschienen und hätten mit dieser Form dann für die Ausgabe auch der anderen christlichen Schriften Schule gemacht. Ökonomische Gründe werden genannt: Bei einem Kodex werde das teure Schreibmaterial besser ausgenutzt, weil – im Unterschied zur Buchrolle – Vorder- und Rückseite beschriftet werden können. Allerdings konnten die Kosten nur dann niedriger gehalten werden, wenn Kodizes in höherer Auflage hergestellt wurden. Denn die Textaufteilung musste im voraus genau berechnet werden, damit am Ende nicht freie Seiten übrig blieben, ganz abgesehen von der Fadenheftung und vom Einband, deren Kosten desto niedriger gehalten werden konnten, je mehr identische Exemplare auf einmal produziert wurden (

    D. Trobisch

    , End­redaktion 116). Andere verweisen auf den Vorteil des Kodex gegenüber Buchrollen insbe­sondere für Wandermissionare und Wanderprediger (

    E. J. Epp

    ;

    M. McCormick

    ).

    Vielleicht sind die Gründe viel einfacher und sagen zugleich etwas über den soziologischen Ort der Buchproduktion aus: Das Schriftbild vieler christlicher Handschriften, so urteilen Spezialisten, sei weniger professionell als in den meisten Rollen griechischer Literatur. Fast alle frühchristlichen Manuskripte »sind das Werk von Männern, welche – wenngleich mit dem Schreiben ver­traut – so doch nicht gewohnt sind, Bücher zu schreiben. Und trotz ihrer Be­mühungen, so ›literarisch‹ wie möglich zu sein, verraten sie die dokumentari­sche Praxis, die ihnen geläufiger ist« (C. H. Roberts, Book 26). Dazu gehört, dass Zahlen durch Buchstaben mit Überstrich zum Ausdruck gebracht werden, also A = 1; B = 2 usw. So ist es in juristischen Dokumenten und amtlichen Schriftstücken üblich. In Abschriften von klassischen Literaturtexten dagegen werden Zahlen in Worten ausgeschrieben (A.R. Millard, Pergament 67). Anders gesagt: Die Produktion der christlichen Bücher verweist auf Personen, die in der Verwaltung tätig sind, seien es öffentliche Büros der Stadtverwal­tung oder die privaten Kontore von Großhändlern oder Juristen. Für die Ver­vielfältigung der christlichen Schriften greifen sie auf die Praxis (→ 1.2.2) und die Form zurück, die ihnen geläufig sind: eben die Notizhefte, die man – wie es ab Ende des 1. Jh. gelegentlich auch für literarische Texte Usus wird – zu Kodizes zusammenheften kann (G. N. Stanton, Jesus 178f.). Vermutlich wurde der Unterschied im Medium erst im Nachhinein wahrgenommen, dann aber als bewusstes Unterscheidungsmerkmal eingesetzt – sowohl gegenüber den heiligen Schriften des Judentums, die bis auf den heutigen Tag auf Buch­rollen geschrieben sind (R. Seeliger 554: »Konfessionsmerkmal«), als auch im Blick auf pagane Texte, insbesondere mit kulti­schem Inhalt (L. W. Hurtado, Artifacts 80). Diesbezüglich ist es überaus aufschlussreich, dass auch im christlichen Literaturbetrieb des 2. und 3. Jh. n. Chr. Buchrollen verwendet wurden, aber nicht für die Texte, die Christen als ihre heiligen Schriften betrachteten, sondern z. B. für patristische Traktate (Irenäus, Adversus Haereses) oder liturgische Texte (Belege bei L. W. Hur­ta­do, Artifacts 55.57).

    1.2.2  Ein eigenes Abkürzungssystem: nomina sacra

    Quer über alle christlichen Handschriften lässt sich von Anfang an ein be­stimmtes Abkürzungssystem beobachten. Es betrifft vor allem die Wörter Gott, Herr, Jesus und Christus. Deshalb spricht man auch – im Blick auf die Abkürzung – von nomina sacra. Ausgeschrieben wird jeweils nur der erste und letzte Buchstabe – und mit einem Überstrich versehen. In den ältesten Handschriften, die nur Großbuchstaben verwenden (→ A.II.1.), sieht das dann folgendermaßen aus:

    Erstaunlich ist: Auch die deklinierten Formen werden entsprechend abgekürzt, also: θεῶ (Dativ von Gott) = ΘΩ, Ἰησοῦ (Genitiv von Jesus) = ΙΥ

    Natürlich gibt es Randunschärfen. In einigen Handschriften werden weitere Begriffe abge­kürzt, in P⁶⁶ etwa ἄνθρωπος/Mensch und υἱός/Sohn, in P⁴⁶ zusätzlich πνεῦμα/Geist, σταυρός/Kreuz und πατήρ/Vater. Insgesamt handelt es sich um etwa 15 Wörter (außerdem: Retter, Mutter, Himmel, Israel, David, Jerusalem). Auch leichte Variationen in der Art der Abkürzung lassen sich feststellen: Für die Abkürzung werden drei Buchstaben verwendet (ΠΗΡ für Vater in P⁴⁶) oder die ersten beiden Buchstaben des jeweiligen Wortes (ΙΗ für Jesus in P⁴⁵). Gelegentlich werden nomina sacra auch einfach ausgeschrieben; es kann sogar vorkommen, dass in ein und derselben Handschrift der gleiche Begriff einmal ausge­schrieben wird, während er an anderen Stellen als nomen sacrum abgekürzt erscheint (Standardwerke für den generellen Befund:

    L. Traube

    ;

    A. Paap;

    Einzeluntersuchungen:

    D. Estes; C. E. Hill; P. Malik

    ).

    Trotzdem bleibt der Befund insgesamt erstaunlich einheitlich: Die vier Be­griffe Gott, Herr, Jesus und Christus werden in nahezu allen ntl Handschriften regelmäßig als nomina sacra notiert (D. Trobisch, Endredaktion 16–31; Zweifel am einheitlichen System äußert C. M. Tuckett; kritische Replik von C. E. Hill; L. W. Hurtado, Artifacts 124–133).

    Was ist an diesem Befund so auffällig? Ganz abgesehen davon, dass in Tex­ten klassischer Autoren Abkürzungen stets vermieden werden, entspricht das für die christlichen Manuskripte beschriebene Abkürzungssystem in keiner Weise der Abkürzungspraxis, wie sie in der griechisch-römischen Antike geläufig ist. Man findet Abkürzungen z. B. auf Ostraka und in Inschriften. Aber da werden Begriffe normalerweise dadurch abgekürzt, dass man das Ende der entsprechenden Wörter weglässt, nicht den Mittelteil. Die Kenn­zeichnung der Buchstabenauslassung geschieht durch Hoch- oder Tiefstellung der letzten Buchstaben oder durch ein Sonderzeichen am Ende, etwa einen waagerechten Strich, nicht durch einen Überstrich. Die Abkürzungen sind nicht auf bestimmte Begriffe festgelegt und die Art der Abkürzungen ist viel variantenreicher als in christlichen Texten. Schließlich besteht die Hauptfunk­tion von Abkürzungen in nichtliterarischen Texten in der Platzersparnis. Dafür hätte man in christlichen Texten andere Wörter wählen müssen. Hinter der Abkürzungspraxis in christlichen Handschriften scheint also ein eigenes Sys­tem zu stecken.

    Gelegentlich wird auf Analogien zur Schreibweise des Gottesnamens in jüdischen Schrift­rollen verwiesen (Referat:

    L. W. Hurtado

    , Artifacts 101–110). Aber: Das Tetragramm in hebräischen Texten (יהוה) ist keine Abkürzung, sondern der voll ausgeschriebene Gottes­name, der allerdings beim Vorlesen nicht ausgesprochen, sondern durch eine andere Got­tesbezeichnung ersetzt wird. In griechischen Übersetzungen der hebräischen Bibel, wie Qumranhandschriften zeigen, werden die hebräischen Buchstaben des Gottesnamens, teils in althebräischer Schrift, beibehalten oder in ein analoges griechisches Schriftbild übertra­gen (πιπι).

    Weiterführend dagegen ist die Beobachtung, dass der Überstrich, den christli­che Schreiber zur Kennzeichnung einer Abkürzung benutzen, dem Querstrich entspricht, den man in Rechnungen und Dokumenten über Buchstaben setzt, um sie als Zahlen zu markieren. Wir stoßen also auf das gleiche Milieu, das wir schon für die Wahl der Kodexform verantwortlich gemacht haben (→ 1.2.1): auf christliche Schreiber aus dem Bereich der privaten bzw. öffent­lichen Verwaltung. Sie haben offensichtlich auf den Überstrich aus dem ihnen vertrauten Markierungssystem zurückgegriffen, um die »heiligen Namen« in den christlichen Schriften zu kennzeichnen – und damit bereits im Schriftbild vor allem einen theologischen Trennstrich zur profanen Literatur und Religio­sität zu ziehen. Besonders eindrucksvoll kommt das in P⁴⁶ zum Ausdruck, wenn in 1 Kor 8,4–6 auch mit Hilfe des Schriftbildes der eine Gott und Herr den vielen Göttern und Herren gegenübergestellt wird:

    »… kein GT außer einem einzigen. Und wenn es auch viele so genannte Götter gibt … wie es viele Götter und viele Herren gibt, für uns: ein einziger GT und VR, aus dem alles ist und wir auf ihn hin, und ein einziger HR JES CRS durch den alles ist und wir durch ihn …« (den griechischen Text bietet

    L. W. Hurtado,

    Artifacts 130).

    Wenn man bedenkt, dass die ältesten Handschriften den Text in Großbuchsta­ben ohne Zwischenraum bieten, dann ist der Überstrich über den nomina sacra zugleich eine ausgesprochene Lesehilfe für eventuell nicht besonders geübte Vorleser in den christlichen Gemeinden (M. Hengel 41f.; vgl. D. Trobisch, Endredaktion 30). Dass jeweils mit dem letzten Buchstaben des nomen sacrum zugleich der korrekte grammatische Fall angegeben wird, könnte einen weite­ren Vorleser-Service darstellen.

    L. W. Hurtado

    (Origin) versucht, den Ursprung des christlichen Abkürzungssystems mit der Funktion des Überstrichs als Markierungszeichen für Buchstaben als Zahlen zusam­menzubringen: Bei der Notierung des Jesusnamens durch IH ergibt sich ein Zahlwert von 18 (Ι = 10; Η = 8), was dem Zahlenwert des hebräischen Wortes für »Leben« (חי) ent­spricht. Aber das prägende System arbeitet mit den Anfangs- und Endbuchstaben der abge­kürzten Begriffe – und nicht mit den ersten beiden Buchstaben, was eher der gängigen Abkürzungspraxis entspräche. Eine tatsächliche Analogie hat dagegen

    A. R. Millard

    (Abbreviations) ausfindig machen können: Verkürzungen von Eigennamen, vor allem von Städten, auf ihre ersten und letzten Buchstaben finden sich auf phönizischen und palästini­schen Münzen aus der hellenistischen Periode (auf diese Weise gelingt es z. B., Aschkelon und Aschdod auseinander zu halten) und auf Graffiti aus den punischen Städten Nordafrikas.

    Ein ausgesprochenes Manko der gängigen griechischen Ausgaben des NT, Nestle/Aland genauso wie Greek New Testament, besteht darin, dass sie die nomina sacra weder im Volltext noch im Apparat berücksichtigen.

    1.2.3  Ein abweichendes Buchbenennungssystem

    Vom »Evangelium nach Johannes« zu sprechen ist uns geläufig. Das ent­spricht auch den »Überschriften« (inscriptiones) der ältesten Handschriften (P⁶⁶/um 200 n. Chr.; P⁷⁵/3. Jh. n. Chr.: ΕΥΑΓΓΕΛΙΟΝ ΚΑΤΑ ΙΩΑΝΝΗΝ). Die Kurzformvariante »nach Johannes« (ΚΑΤΑ ΙΩΑΝΝΗΝ) setzt die überge­ordnete Rubrik »Evangelien« in den Kodizes voraus (im Codex Sinaiticus aus dem 4. Jh. sogar als Kopfzeile verwendet) und dürfte deshalb jünger sein (S. Petersen 253f.; vgl. die Evaluation der Handschriften durch S. J. Gathercole).

    Allerdings stellt diese Art der Benennung im Rahmen der antiken Konven­tionen eine Kuriosität dar. Denn normalerweise gibt man den Titel eines Wer­kes im Nominativ und den Autor im Genitiv an, etwa »des Aristoteles Poetik«. Unter den ntl Büchern ist das für die Katholischen Briefe (z. B. »des Jakobus Brief«) oder die Offenbarung (»Offenbarung des Johannes«) auch der Fall. Die 14 Paulusbriefe sind zwar nach den Briefadressaten benannt, also »an die Rö­mer«, »an Timotheus«, setzen aber – ganz in der Linie der antiken Konvention – dabei als Ergänzung »des Paulus Brief« voraus. Also: Ausgerechnet diejeni­gen Bücher, die in den christlichen Sammlungen am Anfang stehen, fallen aus dem antiken Benennungssystem heraus.

    Wenn man nach möglichen Analogien sucht, so wird gewöhnlich darauf verwiesen, wie christliche Autoren der Väterzeit verschiedene Übersetzungen der hebräischen Bibel ins Griechische zitieren. Auch in diesem Fall wird der Name des »Autors« durch κατά/nach eingeführt: z. B. »nach Aquila«, »nach Symmachos«, »nach den Siebzig« (gemeint sind die legendären 70 Übersetzer der hebräischen Bibel) usw. (M. Hengel 9f.). Mit diesen Titelangaben, die eine Nennung des Autors im Genitiv vermeiden, verbindet sich offensichtlich die Intention, den Text als Übersetzungs- und Deutungsvariante ein und der­selben Sache, eben der hebräischen Bibel, auszuweisen. Der Name steht in diesem Fall nicht für den Autor – der Text liegt ja längst vor –, sondern für den Übersetzer (und Deuter) des alten Textes für eine andere Zeit in einem anderen Kulturraum. Diese Nuance dürfte auch bei der auffälligen Benennung der Evangelien im Vordergrund stehen: Es liegen vier Versionen ein und der­selben Sache vor, die für eine spätere Zeit in unterschiedlichen Kulturräumen übersetzt und gedeutet wird: eben die Gestalt Jesu.

    1.2.4  Ein Buch, das aus dem Rahmen fällt

    Durch verschiedene buchspezifische Merkmale, die sozusagen auf den ersten Blick wahrgenommen werden können, fallen Christen mit ihrem Buch, das eigentlich aus einer Schriftensammlung besteht, im Rahmen der antiken Kon­ventionen auf: (1) Anstatt ihre identitätsstiftenden Schriften in Buchrollen festzuhalten, benutzen sie dafür Notizhefte, wie sie in der Schule oder der Verwaltung üblich sind, und fügen sie zu einem Kodex zusammen. (2) Sie verwenden – für Texte, die als »Literatur« eingestuft werden sollen, eigentlich undenkbar – ein Abkürzungssystem, dessen Form (Markierung von Buchstaben als Zah­len durch Überstrich) ebenfalls dem Verwaltungswesen abgeschaut ist. (3) Ausgerechnet die Schriften am Anfang der Buchsammlung entsprechen nicht den üblichen Buchtiteln, sondern lassen den Autor als Interpreten eines ihm selbst vorausliegenden Stoffes erscheinen.

    Um welche Einzelschriften handelt es sich? Inwiefern setzen sich durch Auswahl und Anordnung der Schriften christliche Gruppierungen intern von­einander ab?

    2.  Die christliche Büchersammlung: Analogien und Alternativen

    Die ersten vollständigen Buchausgaben des NT stammen aus dem 4. Jh. (Co­dex Sinaiticus = א 01; Codex Vaticanus = B 03) und dem 5. Jh. (Codex Ale­xandrinus = A 02; Codex Ephraemi Syri Rescriptus = C 04). Die meisten Handschriften aus dem 2. und 3. Jh. n. Chr. bezeugen eine einzige Schrift (→ A.II.1; vgl. auch die Übersicht bei D. Trobisch, Endredaktion 44f.), was aber mit deren Er­haltungszustand zusammenhängen kann. Immerhin hat T. C. Skeat (Manu­script; kritische Replik: S. D. Charlesworth) die These aufgestellt, dass P⁶⁴, P⁶⁷ und P⁴ Fragmente ein und des gleichen Kodex sind. Damit ergäbe sich bereits für ca. 200 n. Chr. ein Beleg für einen Vier-Evangelienkodex. Dass die ntl Schriften vor und neben den vollständigen Ausgaben als Teilsammlun­gen in einem Kodex überliefert worden sind, scheint üblich gewesen zu sein. Diese Teilsammlungen sind in ihrer Schriftenzusammenstellung offensichtlich derart konstant, dass die modernen Urtextausgaben mit vier Kürzeln auskom­men, um den Umfang der jeweiligen Handschrift zu kennzeichnen:

    Erstaunlich ist die Kombination von Apg und den sog. Katholischen Briefen (von Jak bis Jud), die in unseren modernen Bibelausgaben immer getrennt voneinander zu finden sind: die Apg im Anschluss an die Evangelien und vor den Paulusbriefen, die Katholischen Briefe im Anschluss an die Paulusbriefe. Für diese Reihenfolge hat sich Erasmus von Rotterdam entschieden und damit unsere modernen Ausgaben geprägt – eigentlich gegen den Befund. Denn diese Anordnung wird nur von einer Minderheit der Handschriften bezeugt (K. Aland/B. Aland 91). Die Mehrheit steht in frühchristlicher Tradition: Apg und Katholische Briefe bilden eine Sammlungseinheit, Praxapostolos genannt. Das belegen sowohl die großen Gesamtausgaben des 4./5. Jh. n. Chr. als auch kleine Fragmente (vgl. D. Trobisch, Endredaktion 48 mit Abb. 3). Lediglich die Anordnung des Praxapostolos innerhalb der Schriftengruppen kann variie­ren: Er kann vor oder nach der Paulusbriefsammlung platziert sein. Unter den vier ältesten Gesamtausgaben ist das aber lediglich beim Codex Sinaiticus der Fall. Alle anderen zeigen folgende Anordnung:

    Ebner_Abb_1.eps

    Auch im Blick auf die Stellung des Hebr zeigen die vier ältesten Gesamtausgaben eine eindeutig andere Positionierung, als wir sie von unseren modernen Ausgaben her gewohnt sind: Hebr steht am Ende der pln Gemeindebriefe, also im Anschluss an 2 Thess und vor den Mitarbeiterbriefen 1/2 Tim, Tit und Phlm, also mitten in der Paulusbriefsammlung. Auch in diesem Fall war es die byzantinische Tradition, die auf die modernen Ausgaben durchgeschlagen hat.

    Die Teilsammlungen des NT stellen jeweils Schriften der gleichen Gattung zusammen. Zahlenmäßig am stärksten vertreten sind die Briefe (7 + 14). Es folgen die Evangelien, die jeweils eine fortlaufende Jesuserzählung bieten (4). Apg und Offb stellen jeweils das Unikat der Gattung Geschichtsschreibung bzw. Apokalypse dar. Die Anordnung dieser gattungsmäßig zusammenge­stellten bzw. kombinierten Sammlungen folgt nicht der Zeit ihrer Entstehung, sondern dem Prinzip der erzählten Zeit: Am Anfang stehen die Evangelien, die in unterschiedlichen Versionen Jesu Worte und Taten überliefern. Die Apg nimmt in den Blick, wie das Wirken Jesu durch die Apostel fortgesetzt und seine Botschaft »bis an die Grenzen der Erde« (Apg 1,8) verbreitet wird. In den sich anschließenden Briefen kommen die Apostel, von denen die Apg erzählt, selbst zu Wort. Sie richten sich mit ihren Belehrungen und Ratschlä­gen an Gemeinden und Einzelne. Am Ende steht die Offb, die visionär von der Vollendung der Welt, also von der Durchsetzung der Gottesherrschaft, die Jesus verkündet hatte, erzählt.

    Gibt es für eine derartige Anordnung von Büchergruppen Analogien oder Vorbilder?

    2.1  Die entscheidende Analogie für die ntl Büchersammlung: die Septuaginta (LXX)

    Wie schon im Blick auf die in der Antike ungewöhnliche Titelformulierung der Evangelien erweist sich auch im Blick auf die Anordnung der Teilsamm­lungen als naheste Analogie die Septuaginta (LXX), also die im Christentum benutzte griechische Übersetzung der auf hebräisch überlieferten jüdischen Bibel. Auch die LXX zeigt einen vierteiligen, nach Gattungen geordneten Auf­bau (N. Lohfink 79), wobei aber tatsächlich in jeder Rubrik eine größere Anzahl von Schriften gesammelt ist:

    Ebner_Abb_2.eps

    So ist die Anordnung im Codex Vaticanus, wobei hier im Unterschied zu un­seren modernen Ausgaben die Psalmen am Anfang der Weisheitsbücher und das Zwölfprophetenbuch am Anfang der Prophetenbücher stehen.

    Die Anordnung der Buchgruppen Tora – Geschichte – Weisheit – Prophetie wird bereits durch Melito v. Sardes bezeugt, der Ende des 2. Jh. eigens in den Orient gereist ist, um präzise Erkundigungen über Zahl und Reihenfolge der atl Bücher einzuziehen. Den Brief, in dem Melito seinem Bruder die Bücher präzise auflistet, hat Eusebius in seiner Kirchen­geschichte zitiert (Hist Eccl IV 26,13f.). Völlig gleich strukturierte Listen bieten der 39. Osterfestbrief des Athanasius (367 n. Chr.) oder die Synode von Laodizea im Kanon 59 (um 363 n. Chr.). Allerdings zeigen diese frühen Kanonlisten, dass – bis auf die Tora, die konstant aus den Büchern Gen, Ex, Lev, Num und Dtn besteht – sowohl innerhalb als auch zwischen den Gruppen Umstellungen möglich sind bzw. Ergänzungen vorgenommen werden: die Bücher Esr/Neh, die Melito ganz am Ende seiner Liste aufführt, sind in den beiden anderen Kanonlisten »richtig« in der Gruppe »Geschichte« eingeordnet. 1/2 Makk und Weish, die von vornherein in Griechisch verfasst wurden, sowie Sir tauchen erst in späteren Kanonlisten bzw. in den ersten Kodizes auf, die als christliche Gesamtausgaben konzipiert sind (Codex Vaticanus: Weish; Sir; Codex Sinaiticus: 1/2 Makk, Weish; Sir). Nur ein kleiner Teil der Zeugen stellt die Weisheitsbücher hinter die Prophetie (Codex Sinaiticus sowie Codex Alexandrinus; P.

    Brandt

    ).

    Im Spiegel der LXX gesehen, bilden die atl Schriftengruppen den Verständnis-Unterbau für die Konstruktion des NT: Das Fundament bilden die Evangelien mit dem Schwerpunkt auf der Verkündigung Jesu – in Analogie zur Gesetzge­bung des Mose. Die beiden mittleren Schriftengruppen, Geschichte und Weis­heit bzw. Apg und Briefe, behandeln die Konkretisierung dieses Fundaments in der weiteren Geschichte, während im Abschnitt Prophetie bzw. Offb der Aus­blick auf die Zukunft geschieht. Dabei löst die Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde am Ende der Offb nicht nur die Erwartung Jesu von der kom­menden Gottesherrschaft ein, sondern greift auch auf den paradiesischen Uranfang von Gen 1 zurück. Umgekehrt bilden – jedenfalls aus der Sicht der ntl Schriften – die atl Propheten die Brücke zur Figur Jesu.

    Ebner_Abb_3.eps

    Analog zur Korrelation zwischen Apg und den Briefen zeigt sich auch in der LXX eine enge (personale) Verbindung zwischen der Rubrik Geschichte und Weisheit: Ähnlich wie in der Apg wird auch in den Geschichtsbüchern der LXX ausführlich vom Leben und den Taten derjenigen Personen erzählt, deren Gotteslob und Lebensweisung – analog zu den ntl Briefen – dann in den Bü­chern der Weisheit zu hören ist, nämlich David und Salomo, die in den Psal­men (»Davidspsalter«) bzw. im Buch der Sprichwörter, der Weisheit Salomos sowie im Hohelied zu den Lesern sprechen.

    2.1.1  Vorgabe eines jüdischen Bibelkanons in griechischer Sprache?

    Inwieweit lässt sich diese großartige Vorgabe bereits auf jüdischer Seite bele­gen? Anders gesagt: Konnten die Christen der ersten Jahrhunderte auf einen in griechischer Sprache verfassten jüdischen Bibelkanon zurückgreifen? Zu Recht wird das in der neueren Forschung in Frage gestellt: »Eine genuin jüdi­sche, vorchristliche Schriftensammlung in griechischer Sprache von kanoni­scher Geltung, die – auch im Bereich der Geschichtsbücher und Weisheits­schriften – eindeutig und klar abgrenzbar ist und sich durch ihren größeren Umfang von dem hebräischen Bibelkanon unterscheidet, lässt sich nicht nachweisen, und erst Recht nicht, daß ein derartiger ›Kanon‹ im vorchristli­chen Alexandrien ausgebildet worden sei« (M. Hengel/R. Deines 183).

    Spätestens gegen Mitte des 3. Jh. v. Chr. werden in Alexandrien die fünf Bücher Mose (Gen – Dtn) ins Griechische übersetzt, vor allem als Verständ­nishilfe für diejenigen Juden, die in der hellenistischen Metropole aufgewach­sen sind und kein Hebräisch mehr verstehen (»alexandrinische Übersetzung«). Damit wurde ein Übersetzungsprozess angestoßen, der völlig unsystematisch verlief. Je nach lokalen Interessen und Bedürfnissen wurden weitere Bücher in Alexandria (große Propheten und Zwölfprophetenbuch), im Mutterland Judäa (Rut, Hld, Klgl, Koh, Est) und an anderen Orten der Diaspora übersetzt und teils verbreitet. Aber: Nachdem jüdische Schriften – auch deren griechische Übersetzungen – auf Rollen geschrieben werden und gewöhnlich für jedes Buch eine separate Buchrolle vorgesehen ist (Josephus allerdings scheint da­von ausgegangen zu sein, dass die fünf Bücher Mose auf eine einzige Buch­rolle passen: Bell VII 150), konnte es – anders als beim Kodex – zu einer technisch verifizierbaren Reihenfolge der Einzelbücher überhaupt nicht kom­men (M. Tilly 54f.; A. Aejmelaeus 323f.). Deshalb bleiben frühe kanonische Abgrenzungsversuche auf die Angabe der Bücherzahl beschränkt, womit dann wahrscheinlich die Anzahl der Buchrollen gemeint ist.

    22 Bücher gibt Josephus an (Jos., Ap I 38), 24 sind es nach 4 Esr 14,44–46. »Die Anzahl 24 wird dadurch erreicht, dass 1/2 Sam, 1/2 Kön, 1/2 Chr, Esr/Neh, die 12 ›kleinen‹ Propheten als je ein Buch gerechnet werden; die Reduktion auf 22 nimmt darüber hinaus Ri und Rut, Jer und Klgl als je ein Buch zusammen. Beide Zahlen betonen die Idee der Vollständigkeit und der Vollkommenheit: 22 ist die Anzahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets; 24 ist die doppelte Anzahl der 12 Monate bzw. der 12 Stämme Israels« (

    E. Zenger

    , Einleitung A.II.1).

    Allerdings lässt sich in den frühen verbalen Beschreibungen des jüdischen Kanons sehr deutlich eine Einteilung in drei Schriftengruppen feststellen: das Gesetz, die Propheten und die anderen Bücher der Väter (so im Vorwort zur griechischen Übersetzung von Sir; vgl. Jos., Ap I 39f.; vgl. Lk 24,44). Nach­dem alle Bücher in Rollenform vorliegen, kann damit nicht eine bestimmte Reihenfolge gemeint sein, sondern ist auf eine bestimmte Rangfolge abgeho­ben. Sie gibt die Wertigkeit der drei Schriftengruppen für die Gestaltung des jüdischen Lebens an, die sich auch im liturgischen Gebrauch spiegelt: Die Tora, also die fünf Bücher Mose, bilden im synagogalen Sabbatgottesdienst die lectio continua. Aus den »Propheten«, die als Kommentar zur Tora gelten, werden jeweils nur solche Abschnitte ausgewählt, die diesen Kommentar-Charakter besonders unterstreichen. Die »anderen Bücher«, gewöhnlich »Schriften« genannt, also die Weisheitsbücher, dienen dem Hausgebrauch. Allenfalls die Psalmen finden für das gemeinsame Gebet in der Synagoge Verwendung.

    Wie insbesondere das Vorwort zur griechischen Übersetzung von Sir zeigt, gilt die Rangfolge der jüdischen Schriften für die hebräischen Originale ge­nauso wie für die griechischen Übersetzungen – mit dem einen Unterschied, dass die Übersetzungen an die Präzision der Ursprache natürlich nicht heran­reichen können. Anders gesagt: Was die Rangfolge der Schriften angeht – und das ist das einzige Ordnungskriterium, das sich jüdischerseits ausmachen lässt – wird im Judentum kein Unterschied zwischen griechischen Übersetzungen und den hebräischen Originalrollen gemacht.

    Auf zwei Einzelheiten muss noch hingewiesen werden: Unter »Propheten« wird jüdischer­seits stets die Kombination aus Geschichtsbüchern (Jos – 2 Kön) und großen (Jes, Jer, Ez) sowie den zwölf kleinen Propheten verstanden (vgl. die Übersicht bei

    E. Zenger

    , Einlei­tung A.II.1). Nur so macht die Interpretation des jüdischen Schriftenkanons, wie sie Josephus (Ap I 39–41) vorlegt, Sinn. Danach geben Gesetz und Propheten einen geschichtlich fort­laufenden Duktus wieder, der von der Entstehung des Menschengeschlechts bis hin zu Artaxerxes reicht. Diese an der erzählten Zeit orientierte Perspektive auf die Schriften ist auch für die Christen leitend geworden.

    2.1.2  Die christliche Konstruktion der Septuaginta (LXX)

    Die Christen haben für die Konstruktion ihres Kanons nur eine Wertigkeits­vorgabe der heiligen Schriften des Judentums, keine Vorgabe für deren Rei­henfolge. Das heißt aber: Die Zusammenstellung der ins Griechische über­setzten Schriften aus der jüdischen Tradition in der präzisen Reihenfolge der später so genannten LXX ist ihr Werk. Rein technisch gesehen hat die für Christen typische Kodexform sie zur Fixierung der Reihenfolge gezwungen. Wahrscheinlich ist die Festlegung bereits im Vorausblick und d. h. in Kombi­nation mit der Zusammenstellung der ntl Schriften vorgenommen worden.

    Ebner_Abb_4.eps

    Mit der Tora am Kopf der Büchersammlung respektieren auch Christen deren Fundamentalcharakter. Die entscheidende Veränderung gegenüber der typisch jüdischen Einteilung in drei Schriftengruppen besteht darin, dass der Block »Propheten« gattungsmäßig säuberlich sortiert wird: Die »wirklichen« Ge­schichtsbücher bleiben stehen, die »wirklichen« Prophetenbücher werden aus­gelagert und ans Ende der Büchersammlung gestellt. Damit entstehen im jüdi­schen Bücherteil vier Gruppierungen. Im ntl Bücherteil bekommen damit sowohl die Apg als auch die Offb – jeweils Unikate ihrer Gattung – ein ge­wichtiges Pendant. Außerdem wird die Inszenierungsstruktur zwischen Apg und den sich anschließenden Briefen (die Personen, von denen erzählt wird, sprechen selbst) durch die jetzt im jüdischen Schriftenteil neu entstandene Abfolge der beiden Schriftengruppen Geschichte und Weisheit vorgeprägt.

    Sowohl gemäß den allerersten Kanonlisten als auch gemäß den ältesten Kodizes besteht der christliche Kanon aus diesen beiden aufeinander bezoge­nen und offensichtlich aufeinander abgestimmten Teilen, die bereits gegen Ende des 2. Jh. (z. B. von Melito) »Altes« und »Neues Testament« genannt werden.

    Durch die Endstellung der Prophetie in beiden Sammlungen bekommt die Gesamtausgabe einen besonderen Drive. Beide Schriftenteile sind über die Figur Jesu verbunden: Die atl Propheten schlagen eine Brücke zu Jesus. Seine Verkündigung von der Gottesherrschaft wird am Ende der Gesamtsammlung visionär eingeholt (Offb) und realisiert sich in einer paradiesischen Neuschöp­fung, die ihr Spiegelbild im Anfang (Gen 1) hat.

    2.2  Alternativen

    Die vorgestellte zweiteilige Schriftensammlung, die wir heute als christliche Bibel (τὰ βιβλία/die Bücher) kennen, war nicht der einzige Versuch, die für Christen verbindliche Tradition festzuschreiben, also zu kanonisieren. Es gab im 2. Jh. im Milieu der christlichen Gemeinde von Rom zwei weitere Versu­che, aus dem Strom der von Christen gebrauchten Literatur bestimmte Schrif­ten auszuwählen und als – ausschließlich – verbindlich zu erklären. Und das bedeutet: Nur sie durften in den Gottesdiensten vorgelesen werden. Nur auf sie durfte man sich im Blick auf die eigene (religiöse) Identitätsbestimmung berufen.

    Die Zusammenstellung eines Kanons (κανών/Maßstab) im Sinn einer Liste von Schriften, die für das Selbstverständnis einer Gruppe als verbindlich gel­ten, hat immer mit einem Ausschluss- bzw. einem Fixierungsverfahren zu tun (J. Assmann 103–129; G. G. Stroumsa 11). Bestimmte Schriften, die Ak­zente einbringen, mit denen man sich nicht identifizieren möchte, werden ausgeschlossen. Diejenigen Schriften, auf denen das eigene Selbstverständnis aufbauen soll, werden gesammelt und als einzig verbindlich erklärt. Damit wird aber zugleich der bis dahin fließende Traditionsstrom eingefroren: Jegli­che Literatur, die nach diesem Zeitpunkt entsteht, kann sich nur als Interpreta­tion des festgelegten Maßstabs (= Kanon) verstehen und muss sich durch ent­sprechende Bezugnahmen als »orthodox« ausweisen. Und: Viele Schriften, die bis zum Datum der Kanonisierung noch als gleichwertige Ursprungstradition gehandelt werden konnten, verlieren ab sofort diesen Anspruch, wenn sie nicht in den »Kanon« aufgenommen worden sind.

    Das gilt auch für den Kanonisierungsprozess der vorgestellten, orthodox gewordenen christlichen Bibel. Als dieser Kanon zusammengestellt wurde, gab es noch viel mehr christliche Schriften, die aber nicht berücksichtigt wur­den; ganz einfach kontrollierbar ist das an der (vermuteten) Entstehungszeit. Das jüngste Dokument der ntl Schriften ist 2 Petr, vermutlich im Zeitraum 140-160 n. Chr. entstanden (→ D.XVII.2.6). Viel früher entstan­dene und inhaltlich durchaus gewichtige Schriften wurden dagegen nicht auf­genommen, z. B. der erste Clemensbrief, der die Vorstellung einer apostoli­schen Sukzession von Christus über die Apostel hin zu den Bischöfen (1 Clem 42) erstmals belegt (Ende des 1. Jh.), oder das Thomasevangelium, eine Sammlung von Jesussprüchen (frühe Fassung evtl. um 120–140 n. Chr.) – um nur zwei prominente Vertreter zu nennen, die später zu den »apostolischen Vätern« bzw. zum gnostischen Schrifttum gerechnet werden. Der Schnitt, den der Kanon macht, ist offensichtlich nicht chronologischer, sondern sachlicher Natur. Wenn wir die Entscheidungs- und Absetzungsprozesse, die auch bei der Kanonisierung der orthodox gewordenen Schriftensammlung abgelaufen sind, historisch angemessen beurteilen wollen, dürfen wir nicht vorschnell Kriterien aus heutiger Sicht einführen, sondern müssen versuchen, im Ver­gleich mit tatsächlich vorliegenden Alternativen diejenigen Akzente herauszu­schälen, die sich im Gegenüber zu anderen christlichen Identitätsentwürfen zeigen.

    Es gab zwei entscheidende Alternativen zum orthodox gewordenen christli­chen Kanon. Beide betreiben mit gleicher Vehemenz Selektionsarbeit im Sinn eines Identitätsfindungsprozesses – aber ganz anders: Markion mit seinem zweiteiligen Schriftenkanon und Tatian mit seiner Evangelienharmonie.

    2.2.1  Der Kanon des Markion

    Auch Markion legt einen zweiteiligen Kanon vor. Aber er sieht ganz anders aus als der orthodoxe. Er besteht aus einem einzigen Evangelium – wir kennen es heute unter dem Namen »Lukasevangelium« – und aus zehn Paulusbriefen, die unter Voranstellung des Gal der Länge nach angeordnet sind (Gal, 1/2 Kor, Röm, 1/2 Thess, Eph [bei Markion Laodizeerbrief genannt], Kol, Phil, Phlm).

    Ebner_Abb_5.eps

    Wie kommt Markion auf diese Idee? Welche Kriterien sind für ihn leitend? Darüber gibt die Einleitung Auskunft, die er seiner Ausgabe vorangestellt hat (Tert., Marc IV 6,1; vgl. 1,1: »Beigabe«), bekannt unter dem Titel »Antithe­sen«. Darin setzt er den Gott, den Jesus verkündigt hat, von dem Gott ab, von dem die Schriften der Juden – von ihm »Altes Testament« (vetus testamentum) genannt – erzählen. Zwei Götter mit je unterschiedlichen »Werken« stehen sich also gegenüber: auf der einen Seite der Gott der Liebe, der sich der Men­schen aus reiner Güte erbarmt, und auf der anderen Seite der Schöpfergott, der die Welt geschaffen hat, sie nach seinen Gesetzen regiert und dessen Prinzip Gerechtigkeit heißt. Das ist der Gott der Juden, während Jesus der Gesandte des ganz anderen Gottes ist. Mit höchst eindrucksvollen Beispielen gelingt es Markion, diesen Gegensatz zu illustrieren: Gemäß dem Gesetz des Gottes der Juden gilt »Auge um Auge«, aber Jesus hat diese Regel durch die Feindesliebe außer Kraft gesetzt. Elischa als Prophet des Judengottes hat Kinder von Bären fressen lassen, aber Jesus sagt: »Lasst die Kinder zu mir kommen!« usw.

    In Konsequenz dieser antithetischen Gegenüberstellung hat Markion das AT, also alles, was für Christen als »die Schrift« schlechthin galt, rundweg abgelehnt. Auch die zwölf (jüdischen) Apostel haben nach Markion Jesus völlig missverstanden. Sie halten ihn für den Messias des jüdischen Gottes und verfälschen, d. h. judaisieren seine Worte. Nach Markion hat einzig und allein Paulus Jesus korrekt rezipiert. Dabei liest Markion die ersten beiden Kapitel des Gal als Dokument des leidenschaftlichen Kampfes, den Paulus für die Durchsetzung des einen und einzigen Evangeliums führt, das er verkündet (Gal 1,6–8) – wogegen die jüdischen Falschbrüder in Galatien dieses Evange­lium verfälschen wollen, indem sie eine Rejudaisierung durch Werbung für die Beschneidung einzuführen versuchen. Urtypen dieser Verfälschungskam­pagne sind ihm die jüdischen Apostel, gegen die Paulus schon in Jerusalem (Jakobus, Petrus, Johannes: Gal 2,9) und in Antiochien (Petrus; Jakobusleute: Gal 2,11–14) zu kämpfen hatte. Kurz: Nur ein Einziger hat Jesus kongenial verstanden: der Apostel Paulus. Seine Kampagne will Markion fortsetzen: Ausschließlich die Briefe des Paulus deklariert er als authentisches Glaubens­gut. Dieser einzig richtigen Umsetzung der Botschaft Jesu stellt er folgerichtig ein einziges Evangelium voran, das sozusagen den Originalton der Verkündi­gung Jesu wiedergibt.

    Dass er ausgerechnet das LkEv dafür auswählt, wird oft damit in Verbindung gebracht, dass Lk ihm als Paulusbegleiter aus Kol 4,14 bekannt gewesen sein muss (

    B. M. Metzger

    97). Das aber setzt die Namenskenntnis voraus. Dass er den Autor des Evangeliums, den Menschen »Lukas«, nicht hätte identifizieren können, wird ihm jedoch zum Vorwurf ge­macht (Tert., Marc IV 2). Insofern wird eher ein sachlicher Grund zutreffen: Nur im LkEv konnte er eine Abendmahlserzählung vorfinden, die wie der Abendmahlsbericht des Paulus in 1 Kor 11,23–26 den Anamnesisbefehl enthält (vgl. Lk 22,19f.; Idee von

    U. Schmid

    , Evangelium 74–77).

    M. Klinghardt

    (Evangelium) dreht neuerdings den Spieß um und setzt das Evangelium des Markion als das erste und älteste überhaupt; die kanonisch gewordenen Evangelien seien erst als Reaktion darauf entstanden (→ 3.2.2).

    Markion bleibt seinem Antithesen-Grundsatz derart treu, dass er sogar die von ihm auserwählten Schriften von judaisierenden Bemerkungen befreit: Die Kindheitsgeschichte des LkEv, die im Jerusalemer Tempel spielt und von allerlei jüdischen Bräuchen erzählt, passt nicht in sein Programm. Markion lässt »sein« Evangelium mit Lk 3,1 beginnen und springt – unter Auslassung der Botschaft des Täufers, der Vorfahren Jesu, seiner Versuchung und seiner Ablehnung in seiner Heimatstadt – sofort zu Lk 4,31. Auch spezifische Text­eingriffe nimmt er vor: Im Logion vom neuen Wein und den alten Schläuchen streicht er dessen letzten Teil: »Und niemand, der alten Wein ge­trunken hat, will neuen; denn er sagt: Der alte Wein ist besser« (Lk 5,39). Aber auch aus den Paulusbriefen streicht Markion judaistische Anklänge, die er für nicht-pln Interpolationen hält, z. B. Gal 3,16–4,6, wo Paulus versucht, die Abra­hams­kindschaft auf Christen zu übertragen, oder 2 Thess 1,6–8, weil der Gott des Markion mit »Feuerflammen« und »Vergeltung« nichts zu tun hat (eine Liste der wichtigeren Auslassungen und Änderungen bietet E. Evans 643–646; detaillierte Untersuchung im Blick auf die Paulusbriefe: U. Schmid, Marcion).

    Leider ist von Markion selbst keine Originalschrift erhalten. Dafür besitzen wir über ihn die »reichste antihäretische Literatur« (

    B. Aland

    , Art. Marcion/Marcioniten 89) überhaupt. Hauptquelle ist das fünfbändige Werk von Tertullian (ca. 150–230 n. Chr.), in dem er sich mit Markion ausführlich auseinandersetzt (Adversus Marcionen). Im Spiegel der Auseinan­dersetzung mit Markion müssen also seine Thesen und Zitate herausgefiltert werden.

    Wann und unter welchen Umständen hat Markion seine Thesen entwickelt und seinen Kanon zusammengestellt? Markion stammt aus Sinope am Schwarzen Meer (geboren um 85 n. Chr.). Er ist einflussreicher und vermö­gender Reeder – und von daher viel auf Reisen (Tert., Marc Praescr 30,1). Er tritt der römischen Gemeinde bei und beehrt sie, wohl aus diesem Anlass, mit einer großen Geldspende von 200.000 Sesterzen. 144 n. Chr. kommt es zum Bruch mit der römischen Gemeinde, die ihm sein Geldgeschenk zurückerstat­tet. Der Grund für diese Trennung werden die theologischen Thesen des Mar­kion gewesen sein. Der geht fortan seine eigenen Wege und wirbt mit großem Erfolg für seine Variante des Christentums. Im Westen wie im Osten findet er Anhänger. Er gründet eine eigene Kirche, die in den nicht-griechischsprachi­gen Gebieten Syriens und Armeniens bis ins 6. Jh. n. Chr. Bestand hat. Ende des 2. Jh. war der Markionismus eine ernst zu nehmende Alternative zu der Variation des Christentums, die sich dann durchgesetzt hat und deren Kanon wir bis heute lesen.

    Ein wesentlicher Grund für den großen Erfolg des Markion war, dass er zu seinen theologischen Thesen eine entsprechende Schriftensammlung vorgelegt hat, sozusagen das Buch zur Theologie, das in seinen Gemeinden als Basis­buch der Verkündigung fungierte. Vermutlich wurde es als Kompaktkodex verbreitet. Vielleicht hat Markion seiner Büchersammlung sogar den Titel »Neues Testament« gegeben (W. Kinzig 534–542; ablehnend: B. M. Metzger 102; für eine patristische Herkunft des Titels plädiert W. C. van Unnik). Das läge ganz im Horizont seiner Antithesen und seines Lieblings­wortes »neu«, das dort so oft wie kein anderes Wort verwendet wird (A. von Harnack 87f.). Vor allem aber ist eine Stelle aus Tertullian aufschlussreich:

    »… Gewiss, das ganze Werk, das er geschaffen hat, einschließlich der vorangestellten Antithesen, zielt darauf ab, eine Opposition zwischen Altem und Neuem Testament zu etablieren (ut veteris et novi testamenti diversitatem constituat) und von daher seinen Christus vom Schöpfer zu separieren, als gehöre er zu einem anderen Gott und habe mit Gesetz und Propheten nichts zu tun« (Marc IV 6,1).

    Wenn Tertullian die Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament nicht selbst erfunden hat (neben Tertullian ist die Bezeichnung »die Bücher des Alten Testaments« [τὰ τῆς παλαιᾶς διαθήκης βιβλία] so früh nur noch im Brief des Melito von Sardes [→ 2.] belegt: Eus., Hist Eccl IV 26,14), dann hat er diese Begrifflichkeit von Markion übernommen. Und bei Markion können sich diese evtl. durch 2 Kor 3,14 inspirierten Begriffe – analog zu seiner Theo­rie in den »Antithesen« – nur auf die entsprechenden jüdischen bzw. markio­nitischen Schriftensammlungen beziehen.

    Die Konzeption von zwei Göttern, die konträre Qualitäten aufweisen und unterschiedliche Prinzipien vertreten (»Dualismus«), ist typisch gnostisch. Im Blick auf Markion ist um­stritten, ob es bereits diese gnostische Voreinstellung, also eine dogmatische Brille, war, die ihn in den Paulusbriefen eine kongeniale Sicht hat finden lassen, während er in den jüdi­schen Schriften den Kontrast dazu fand (

    W. Schneemelcher

    36), oder ob es die Lektüre des Paulus selbst war, die diese dualistische Spezialeinstellung in ihm provoziert hat (

    G. May

    ). Jedenfalls werden in der neueren Forschung die gnostischen Züge im System des Markion stärker betont (

    B. Aland

    , Versuch; im Gegenüber zu A.

    von

    Harnack

    ).

    C. Mark­schies

    (Gnosis) hat sogar die These aufgestellt, das stark mit Schwarz-Weiß-Malerei arbei­ten­de System des Markion habe andere gnostische Richtungen, u. a. die Valentinianer, dazu herausgefordert, auf Markion zu reagieren und auf eine größere »Bewahrung der Einheit Gottes bei aller Differenzierung im Gottesbild« zu achten (174). Im Gegenzug hat

    J. M. Lieu

    herausgestellt, dass die eigentlich häretische Anschärfung des Markionbildes ein Werk der Kirchenväter ist.

    2.2.2  Tatians Diatessaron

    Wiederum ganz anders ist die zweite Alternative zum orthodox gewordenen Kanon konzipiert. Sie besteht aus einer einzigen Schrift, in der allerdings alle vier Evangelien zu einem einzigen zusammengefasst und miteinander harmo­nisiert sind. Wir sprechen deswegen von einer Evangelienharmonie. Gemäß einer Notiz bei Eusebius – der ersten Erwähnung überhaupt – hieß der Verfas­ser Tatian, sein Werk nannte er Diatessaron (Hist Eccl IV 29,6). Der Begriff διὰ τεσσάρων/durch vier stammt aus der Musiktheorie und bezeichnet eine Folge von vier harmonischen Tönen. Insofern ist »Evangelienharmonie« eine adäquate Übersetzung. Alle Widersprüche und Unstimmigkeiten unter den Evangelien, also alle »Missklänge«, werden ausgemerzt und zu einer harmoni­schen Einheit verbunden. Das JohEv bildet den groben Erzählrahmen, die anderen Evangelien werden eingepasst; bestimmte Einzelheiten können weg­gelassen (z. B. die Genealogien) oder geändert werden (im Sinn seiner enkra­titischen Einstellung ändert Tatian den »Weintrinker« in Mt 11,19 zu einem schlichten »er trinkt«). Zum Teil wird auch Material übernommen, das in den vier kanonisch gewordenen Evangelien nicht zu finden ist (z. B. die Notiz, bei der Taufe Jesu habe ein großes Licht den Ort erhellt; zu Einzelheiten vgl. W. L. Petersen, Diatessaron 1994; ders., Diatessaron 2004).

    Am Beispiel der Aussendungsrede seien Technik und Intention der Harmonisierung ver­deutlicht: Während Mt und Lk den Stock verbieten, erlaubt ihn Mk:

    Die Evangelienharmonie im Diatessaron lautet folgendermaßen (Rekonstruktion aus dem Kommentar von Ephraem Syrus, 4. Jh.):

    »Nehmt nicht Gold noch Silber oder Kupfer in eure Gürtel, keine Tasche für den Weg oder zwei Gewänder, sondern nur einen Stecken (shabta), nicht einen Stab (hutra), und kein Schuhwerk, sondern Sandalen.«

    Das Problem des Widerspruchs hinsichtlich der Ausrüstung mit einem Stab wird dadurch gelöst, dass im Syrischen zwei verschiedene Termini für das griechische ῥάβδον/Stab ver­wendet werden: Angeraten wird ein shabta, womit ein Wanderstab gemeint ist, verboten wird dagegen ein hutra, womit im übertragenen Sinn weltliche Autorität und Macht ge­meint sind. Abgeschaut hat sich Tatian diesen Ausweg durch Differenzierung von Begrif­fen in diesem Fall vielleicht bei den synoptischen Evangelien selbst. An unserer Stelle werden nämlich unterschiedliche Termini für »Schuhe« eingesetzt, was Tatian eins zu eins übernimmt: »Schuhwerk« (ὑποδήματα) wird mit Mt 10,10; Lk 10,4 verboten, während »Sandalen« (σανδάλια) mit Mk 6,9 erlaubt werden (W. L.

    Petersen

    , Diatessaron 2004, 58f.).

    Ziel des Diatessarons ist es also, Widersprüche zwischen den einzelnen Evan­gelien so geschickt wie möglich auszuräumen. Dadurch kreiert Tatian – nach innen gerichtet – eine eindeutige Lesart der Evangelien und schafft auf seine Weise – eben durch Auswahl, Ausschluss und sogar Abänderung bestimmter Textversionen – einen eigenen de facto-Kanon, in dem über die strittigen Punkte bereits entschieden ist. Nach außen hin kann er der süffisanten Kritik eines Kelsus (ca. 180 n. Chr.) begegnen, der aufgrund der Inkonsistenzen in den christlichen Schriften deren Wahrheitsgehalt anzweifelt (vgl. Orig., Contra Celsum V 52).

    Tatian hat sicher die erfolgreichste Evangelienharmonie verfasst, aber er war nicht der Erste. Das Modell hat er vermutlich bei Justin, seinem Lehrer, ken­nengelernt, dessen Schüler er wurde, als er, geboren in Syrien, auf der Suche nach der »wahren Philosophie« nach Rom kam. Nach dessen Tod (163/167 n. Chr.) hat er dort eine eigene Schule gegründet, kam aber in Schwierigkeiten mit der christlichen Gemeinde, die sich wegen häretischer Tendenzen vermut­lich gegen 172 n. Chr. von ihm trennte. Tatian kehrte in seine Heimat nach Syrien zurück, gründete dort eine Schule und begann, sein Diatessaron (ver­mut­lich auf Syrisch) zu verfassen, vermutlich gegen 175 n. Chr. Es wird ein ungeheurer Erfolg. Bis 425 n. Chr. bleibt das Diatessaron der Standardevan­gelientext der syrischen Kirche. Erst Theodoret, Bischof von Cyrrhus 423–457 n. Chr., lässt auf einer Visitationsreise alle Exemplare (mehr als 200) einzie­hen und durch das »Evangelium der Getrennten« (damit ist der Vier-Evange­lienkanon gemeint) ersetzen. In gut einem Viertel seiner griechischsprachigen Pfarreien war das Diatessaron im liturgischen Gebrauch (W. L. Petersen, Diatessaron 2004, 56).

    Es hängt sicher mit diesem radikalen Trennstrich zusammen, dass keine einzige syrische Kopie des Diatessaron erhalten geblieben ist. Der Text ist uns nur in Übersetzungen und Zitaten überliefert. Das älteste Papyrusfragment mit dem Text der Grablegung in griechi­scher Sprache stammt aus Dura Europos und ist – die Stadt wurde 236 oder 237 von den Persern zerstört – deshalb weniger als 80 Jahre von der Urschrift entfernt. Die Übersetzun­gen ins Arabische, Lateinische, Althochdeutsche und Persische zeigen, dass kaum ein anderes Dokument der frühen Christenheit – außer den kanonischen Evangelien – soviel Verbreitung gefunden hat.

    2.3  Akzentsetzungen und theologische Markierungen des orthodox gewordenen Kanons

    Im Gegenüber zu den tatsächlichen Alternativen ergeben sich für den ortho­dox gewordenen christlichen Kanon deutliche Akzentsetzungen und theologi­sche Markierungen. Sie lassen sich mit drei Stichworten charakterisieren: Pluralität, Dialog und jüdische Traditionsbasis.

    (1) Dem einen Evangelium bei Markion und der Evangelienharmonie bei Tatian stehen im christlichen Kanon die vier Evangelien gegenüber. Durch die völlig gleich strukturierten Überschriften werden sie als gleichwertige Versio­nen der einen Urbotschaft gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Exklusivitäts­anspruch des einen Evangeliums bei Markion und dem Vereinheitlichungs­prinzip in der Evangelienharmonie kommt damit ein klares pluralistisches Prinzip zum Ausdruck.

    (2) Im christlichen Kanon sind nicht nur Paulusbriefe zu lesen wie bei Mar­kion, sondern auch die Briefe der jüdischen Apostel: Jakobus, Petrus, Johan­nes und Judas (Katholische Briefe). Als Leseanweisung stellt der Kanon die Apg voran, also diejenige Schrift, die von den vielen Aposteln erzählt und sie alle in Kontinuität zu Jesus stellt. Durch die Brille der Apg gelesen, profitieren die jüdischen Apostel allerdings von einem zeitlichen Vorrang vor dem später dazugestoßenen Paulus, was in der Antike automatisch immer auch einen sachlichen Vorrang bedeutet. Das ist ein ausgesprochener Gegenakzent zu Markion. Entsprechend werden in den Handschriften vor dem 9. Jh. die Briefe des Paulus denen der jüdischen Apostel gewöhnlich nachgeordnet. Stellt Mar­kion seiner (Paulus)Briefsammlung den Gal voran als Kampfschrift für das einzige Evangelium, führt im Kanon der Röm die Paulusbriefsammlung an, also genau die Schrift, die um die Einheit der Kirche aus Juden und Heiden besorgt ist, aber auch für gegenseitigen Respekt plädiert und um ein gelingen­des Neben- und Miteinander ringt.

    (3) Das dialogische Prinzip kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass die Katholischen Briefe genau in der Reihenfolge angeordnet sind wie die Gesprächspartner des Paulus auf dem Jerusalemer Treffen in Gal 2,9: Jakobus, Petrus, Johannes (ergänzt durch Judas, der als Bruder des Jakobus, des Her­renbruders, vorgestellt wird und insofern die Briefsammlung rahmt). Was Markion ein für alle Mal ad acta legen wollte, die Auseinandersetzung mit der jüdischen bzw. judenchristlichen Seite, das wird über die Bücher des Kanons für immer festgeschrieben. Die theologische Diskussion und das Ringen um die gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Wege, also genau die Ge­sprächssituation, die Paulus in Gal 2,1–10 referiert, werden sozusagen über die Bücher des Kanons als Dauereinrichtung installiert: Die jüdischen Apostel sprechen in ihren Briefen genauso zum Leser wie Paulus in seinen Briefen. Das Gespräch über die unterschiedlichen theologischen Ansätze muss auf der Ebene der Rezipienten weitergeführt werden. Das wird zum Programm erhoben.

    (4) Auf Grund seines antithetischen Prinzips will Markion den guten Gott Jesu, für den nach seiner Sicht ausschließlich Paulus und das eine Evangelium einstehen, vom jüdischen Schöpfergott und damit der jüdischen Tradition ein für alle Mal trennen. Im christlichen Kanon dagegen bleiben die Schriften des Judentums handgreifliche Basistradition. Sie bilden den ersten Teil des christ­lichen Kanons. Nachdem die ntl Schriften in ihrer Anordnung auf die Grup­pierungen der atl genauestens abgestimmt sind, erscheint die ntl Tradition nach den Vorgaben dieser Basistradition geformt, die jüdische Schriftenreihe ent­sprechend als Bauplan für die Anordnung ntl Bücher. Schließlich dürfte von besonderer symbolischer Programmatik sein, dass in beiden Teilen des christ­lichen Ka­nons gleichförmig abgekürzte nomina sacra zu finden sind: Der Gott Jesu ist der gleiche Gott, von dem auch die jüdischen Schriften spre­chen.

    3.  Die Entstehung des christlichen Kanons

    Die präzise zeitliche Ansetzung, die ausschlaggebenden Impulse genauso wie die eigentlichen Akteure des christlichen Kanons sind mehr denn je umstritten. Daran ist vor allem das spärliche Datenmaterial schuld, das eindeutige Schlussfolgerungen

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