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DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH: Ein historischer Roman
DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH: Ein historischer Roman
DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH: Ein historischer Roman
eBook572 Seiten7 Stunden

DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH: Ein historischer Roman

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Über dieses E-Book

Christian Franz Paullini (1643 - 1712) aus Eisenach ist eine schillernde Figur des ausgehenden Barock; er war in der Tat ein ungewöhnlich vielseitig begabter Mann. Die Stationen seines Lebens: fürstbischöflicher Leibarzt, kaiserlich gekrönter Poet, Übersetzer, Historiograph des Reichsklosters Corvey und Landmedicus.

Paullini verdingte sich während seiner Studienzeit in Dänemark als Dolmetscher an den geheimnisumwitterten Alchimisten und Goldmacher Francesco Borri. Im fortgeschrittenen Alter verfasste er die berühmte Dreckapotheke, konzipierte eine Academia Pauperum (Höhere Schule für Mittellose) und war Autor zahlreicher früher Werke der Unterhaltungsliteratur.

Eisenach, Gotha, Coburg, Kopenhagen, Corvey und Wolfenbüttel sind einige Stationen seines bewegten und wechselvollen Lebens, dessen letzte Jahrzehnte er wieder in seiner Vaterstadt verbrachte, rastlos tätig als Stadtphysicus, Naturkundiger, Projektemacher und Schriftsteller. Im 19. Jahrhundert wurde er posthum der Fälschung historischer Dokumente beschuldigt, und sein Name kam in Verruf.

Der Schriftsteller und Philosoph Hubert Horstmann, Jahrgang 1937, verfasste auf der Grundlage des Lebens und Wirkens von Christian Franz Paullini den fesselnden und lehrreichen historischen Roman Der Heilkundige aus Eisenach – weitere im Apex-Verlag erschienene Werke des Autors sind die Science-Fiction-Romane Die Rätsel des Silbermonds und Die Stimme der Unendlichkeit.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum5. Mai 2020
ISBN9783748739609
DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH: Ein historischer Roman

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    Buchvorschau

    DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH - Hubert Horstmann

    Das Buch

    Christian Franz Paullini (1643 - 1712) aus Eisenach ist eine schillernde Figur des ausgehenden Barock; er war in der Tat ein ungewöhnlich vielseitig begabter Mann. Die Stationen seines Lebens: fürstbischöflicher Leibarzt, kaiserlich gekrönter Poet, Übersetzer, Historiograph des Reichsklosters Corvey und Landmedicus.

    Paullini verdingte sich während seiner Studienzeit in Dänemark als Dolmetscher an den geheimnisumwitterten Alchimisten und Goldmacher Francesco Borri. Im fortgeschrittenen Alter verfasste er die berühmte Dreckapotheke, konzipierte eine Academia Pauperum (Höhere Schule für Mittellose) und war Autor zahlreicher früher Werke der Unterhaltungsliteratur.

    Eisenach, Gotha, Coburg, Kopenhagen, Corvey und Wolfenbüttel sind einige Stationen seines bewegten und wechselvollen Lebens, dessen letzte Jahrzehnte er wieder in seiner Vaterstadt verbrachte, rastlos tätig als Stadtphysicus, Naturkundiger, Projektemacher und Schriftsteller. Im 19. Jahrhundert wurde er posthum der Fälschung historischer Dokumente beschuldigt, und sein Name kam in Verruf.

    Der Schriftsteller und Philosoph Hubert Horstmann, Jahrgang 1937, verfasste auf der Grundlage des Lebens und Wirkens von Christian Franz Paullini den fesselnden und lehrreichen historischen Roman Der Heilkundige aus Eisenach – weitere im Apex-Verlag erschienene Werke des Autors sind die Science-Fiction-Romane Die Rätsel des Silbermonds und Die Stimme der Unendlichkeit.

    DER HEILKUNDIGE AUS EISENACH

    Erstes Kapitel

        Der Gewitterregen hatte aufgehört, die Wolken wurden heller, von der Georgenvorstadt her brach die Sonne durch. Rund um den leergefegten Marktplatz wurde es wieder lebendig. Trauben von Kindern, die Zuflucht in den angrenzenden Gassen, unter Toreinfahrten und den Dachtraufen der Bürgerhäuser gesucht hatten, schoben sich lärmend und lachend zum Rathaus. Die meisten von ihnen waren nass geworden, und manche hatten sich im Gerangel um trockene Plätze schmutzige Beinkleider oder schlammbespritzte Rocksäume geholt. Doch alle Gesichter glänzten in freudiger Erregung. Der Stellplatz füllte sich. Rektor Konrad Moeller war mit lauter Stimme bemüht, die Schüler klassenweise zu formieren. Er stand etwas erhöht auf der Rathaustreppe und sah, dass sich drüben, vor der Georgenkirche, die Stadtobrigkeit versammelte. Er mahnte den Lehrer der Quinta zur besonderen Eile, denn der Zug sollte von den jüngsten Schülern und gleichaltrigen Mädchen angeführt werden. Dann befahl er der Quarta und Tertia aufzuschließen und den Primanern, am Ausgang der Judengasse zu verharren. Diese aber, aufsässig wie immer, schubsten sich gegenseitig, schwatzten und drängten ungeduldig nach. Er rief ein paar von ihnen namentlich an, drohte mit der Faust, und es gelang ihm für Augenblicke, Ruhe herzustellen.

        Punkt Mittag begannen die Glocken in der Stadt zu läuten. Eröffnet wurde das Geläut durch die neue, erst kürzlich geweihte Glocke von Sankt Georg, dann fielen schwer die Glocken der Annenkirche und der Nikolaikirche ein; es dröhnte vom Glockenturm in der Domstraße und klang hell aus den Kapellen der Vorstädte herüber. Eisenachs Glocken läuteten das Friedensdankfest nach dem Dreißigjährigen Krieg ein.

        Christian Franz stand in der vorderen Reihe am Marktplatz, sein jüngeres Schwesterchen Maria Magdalena an der Hand. Er versuchte, sich die bloßen, schlammbesudelten Füße zu säubern, indem er sie abwechselnd in eine Regenpfütze tauchte und an den Waden abrieb. Der  Kantor würde ihn rügen, wenn er so in die Kirche kam. Dann rückte er Maria den Rautenkranz auf dem feuchten, strähnigen Haar zurecht. Alle Mädchen waren heute mit Rautenkränzen geschmückt. Maria wehrte seine Hand unwillig ab und sah zu ihm auf. Ihr schmales Gesichtchen glühte vor Aufregung. Sie war nur mit einem Hemd bekleidet, aber sie schüttelte heftig den Kopf, als er sie fragte, ob sie friere.

         »Silentium! Silentium!« Rektor Moeller hatte ein paar Schritt vor dem Haufen der Lateinschüler Aufstellung genommen und hob würdevoll die Arme. Mit gerunzelten Brauen wartete er, bis Ruhe eingetreten war. »Eins, zwei... Wär-Gott-nicht-mit uns...«, begann er in tiefem Bass.

        »Wär Gott – nicht mit uns – diese Zeit«, ertönte es vielstimmig aus jugendlichen Kehlen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Rund um den Marktplatz wurde der Gesang aufgenommen. Dicht gedrängt standen die Bürger: Männer und Weiber, Meister und Zunftgesellen, Händler, Bauern, Tagelöhner, Krüppel; barhäuptig alle, und die meisten barfüßig, in Hemden und Hosen aus grobem Leinen.

        »...wir hätten müssen verzagen«, schmetterte Christian Franz. Er war von Herzen froh. Die Sonne lachte vom Himmel. Die Menschen hatten sich mit Blumen und Laubzweigen herausgeputzt. Ein Geruch von frischem Brot, der sich mit den Ausdünstungen der nahen Garküche vermischte, lag in der Luft. Nach dem Dankgottesdienst würde es ein Fest geben. Und auch der Vater würde dabeisein. Christian Franz reckte den Kopf. Als er den Vater endlich erspähte, im braunen Kaufmannsrock, den fünfjährigen Georg Heinrich an der Hand und den jüngeren Johann Christian auf den Schultern, lachte er freudig auf. Wie oft hatte er den Vater in den letzten Monaten vermisst, wenn ihn Handelsreisen im Auftrag der Residenz oder des Rates von der Stadt fernhielten. Das Leben bei den Großeltern war wohl behütet. Es gab immer etwas zu essen im Pfarrhaushalt, und Großmutter Clara verkürzte manchen der langen, dunklen Abende mit lustigen Geschichten oder frommen Liedern und lehrreichen Spielen. Wenn er aber dann neben den Geschwistern in dem breiten Bett lag, sehnte er sich nach der Hand des Vaters, die ihm vor dem Einschlafen beruhigend über den Schopf fuhr und die bösen Träume fernhielt. Hin und wieder kamen sie zurück, die Träume von der sterbenden Mutter.

        Sie hatten die Georgenkirche nun fast erreicht. Die Kirchenmauern waren mit Birkengrün geschmückt, von den schmalen Fenstern hingen rote Bänder herab. Gerade begab sich die versammelte Obrigkeit zum Eingang. Ganz vorn ging, auf zwei Kammerjungfern gestützt, die erblindete Herzoginwitwe Christine, dahinter schritt, im festlichen Ornat, vierschrötig und mit hochmütigem Gesicht, der herzogliche Statthalter, Zacharias Prüschenck. In gebührendem Abstand folgten der Bürgermeister und die Mitglieder des Stadtrates.

        Am Eingangsportal musste sich Christian Franz von der Schwester trennen. Er schob sie in das Kirchenschiff und stieg,  gedrängt von den nachfolgenden schwatzenden und kichernden Chorschülern, die enge Treppe zur Orgelempore hinauf. Kantor Schuchardt erwartete sie bereits und sorgte schnell für Ruhe.  Da er gleichzeitig Lehrer der Lateinschule, der Quarta, war und außerdem ein gewichtiges Wort mitzureden hatte, wenn es darum ging, von Fall zu Fall zu entscheiden, welchem Chorschüler es  erlaubt sei, in der einträglichen, wenn auch nicht so hoch angesehen Kurrende,  bei einer Kindtaufe,  Hochzeit oder einem Begräbnis, mitzusingen, genoss er ziemliche Autorität.

        Die Schüler nahmen, sich gegenseitig schubsend, Aufstellung um das große, auf einem hölzernen Ständer liegende Choralbuch, dessen riesige Noten und Buchstaben von allen Plätzen aus gut zu lesen waren. Dann kündigte ein Räuspern des Kantors den nahen Einsatz an.  Die Schüler erstarrten. Unten, im Kirchenschiff, war noch Bewegung, wurde gehüstelt, geraunt, mit den Füßen gescharrt. Ein Kranker stöhnte und holte rasselnd Luft. In den hinteren Bänken fiel eine Krücke  auf den Steinfußboden. Doch auf der Orgelempore war Totenstille. Alle Augen waren auf Kantor Schuchardt gerichtet.  

       Der Chor begann leise und a capella. »Singet dem Herrn...«,  das oft gesungene, lateinisch vorgetragene Eingangslied. Drei, vier helle Knabenstimmen bahnten den Weg, schwangen auf, sprangen über die Empore. Etwas tiefer fielen die anderen Stimmen ein.  Der Choral schwoll an und erfüllte die Kirche bis hinunter zum Altar. Es folgte das Kyrie eleison im Wechselspiel des Altargeistlichen mit der Gemeinde, dem Chor und der Orgel, dann das Lied »Ehre sei Gott in der Höhe«.

        Christian Franz’ Augen hatten sich längst von dem Choralbuch, aber auch von Kantor Schuchardt gelöst, er kannte die Texte und die Noten auswendig und wusste genau, wann seine Einsätze kommen mussten.  Er blickte verstohlen in das Kirchenschiff hinab, er sah, wie Caspar Rebhan, der Superintendent, mit würdevollen Schritten den Altarraum durchmaß und sich der Kanzel näherte, während der Altargeistliche die Kerzen zurechtrückte, dann die Bibel aufschlug  und sich anschickte, eine Stelle aus der ausgewählten Epistel vorzulesen. Ihn beschäftigte plötzlich der Gedanke, dass auch er eines Tages  im schwarzen Talar vor dem Kreuz stehen und gemessenen Schritts durch den Altarraum gehen würde. Er lächelte, als er sich das bildlich vorstellte: Es würde  sehr feierlich sein in der Kirche. Überall brannten Wachskerzen, nicht nur auf dem Altar, sondern auch zwischen den Bänken und auf den Brüstungen der Empore. Der Vater nickte ihm aus der ersten Reihe stolz und aufmunternd zu, und die neben ihm knienden Geschwister  staunten ihn mit  großen Augen  an, als er auf die Kanzel  stieg.

        Er wusste, dass er zum Predigtamt bestimmt war. Die Großeltern hatten es ihm am Grab der Mutter anvertraut. Die Mutter hatte ein Gelübde abgelegt, als sie ihn schon lange – viel  zu lange - unter dem Herzen mit sich herumtrug.  In höchster Not hatte sie Gott angerufen, denn viele schwangere Frauen waren schon im Kindbett gestorben, und meist waren es Mütter von Mägdlein gewesen. Sie war noch so jung. Sie wollte nicht sterben. Angstvoll hatte  sie darum gebetet, mit einem Knäblein niederzukommen und versprochen, den Knaben, so es Gott gefalle,  zum geistlichen Leben zu erziehen.

         Die Gemeinde sang »Wir glauben all an einen Gott.« Caspar Rebhan predigte von der Kanzel. Er sprach vom großen, langen Krieg und von Feuersbrunst, von Aufruhr und Pestilenz, von Zwietracht, Not  und Teuerung.  Christian Franz hörte ihn reden, hörte die Worte, nahm aber nicht auf, was er sagte. Er war jetzt ganz in der Erinnerung versunken. Ja, der Herr hatte sich ihrer erbarmt. Ohne Schaden an ihrem Leib hatte sie ein gesundes Knäblein geboren und in den folgenden vier Jahren noch vier Geschwisterchen zur Welt gebracht. Dann aber...  Er sah sie wieder, schweißgebadet und mit wirren Haaren, auf dem Bett liegen. Ihre Schreie hatten ihn aus dem Spielen gerissen. Durch einen schmalen Türspalt hatte er erkennen können, dass Großmutter und die Hebamme bei ihr waren. Vater war gekommen, hatte ihn wortlos zur Seite gestoßen und dieTür hinter sich geschlossen; später hatte er das Haus mit einem kleinen, in blutbeflecktes Sackleinen gehüllten Bündel verlassen. Als er zurückgekommen war, war ihm ein Mann im grauen Umhang und in schlottrigen, kotigen Galoschen gefolgt, mit einer Brille auf der knorpeligen Nase und einem Lederköfferchen in der Hand. Die Mutter hatte gewimmert. Verängstigt und frierend war Christian Franz in die Ecke unter der Treppe gekrochen und nach einer Weile vor Erschöpfung eingeschlafen. Als er am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte die Mutter mit hochgebundenem Kinn und einem Kruzifix in den Händen auf dem Bett gelegen. Eine Wachskerze hatte neben ihr auf dem Schemel gebrannt.

        »Christian!« Ein Knuff  in die Seite schreckte ihn auf. Die Schüler um ihn herum hatten die Knie gebeugt. Der Altargeistliche betete, die Gemeinde stimmte mit Gesang ein. Erschrocken ließ er sich auf die Knie fallen, doch im nächsten Augenblick erhoben sich die Mitschüler schon und Orgelspiel erklang. Da begriff er, dass der Gottesdienst zu Ende war. »Verleih... uns Frieden... gnädiglich«, hörte er Kantor Schuchardt mit gedämpfter Stimme sagen. »Verleih uns Frieden...«, begann der Knabenchor zu singen. Von unten drangen Geräusche herauf, Füßescharren, Schritte, Gemurmel. Die Gemeinde verließ die Kirche.

        Als er durch das Tor ins Freie gedrängt wurde, schloss er geblendet die Augen. Die Sonne lachte noch immer vom Himmel, ihre Strahlen wurden von den umliegenden gekalkten Hauswänden und den vielen Butzenscheiben auf den Platz reflektiert. Vom Rathausturm ertönte Musik herüber, der Stadtpfeifer spielte eine lustige Weise, und das Volk rings  um den Markt und in den angrenzenden Gassen nahm die Melodie auf und summte und sang mit.

        Maria Magdalena wartete schon auf ihn. Der Rautenkranz saß schief auf ihrem Kopf und war über der Stirn aufgegangen, die Enden standen wie kleine Hörner von ihr ab. Sie zitterte in ihrem dünnen Hemd; in der Kirche war es kühl gewesen. Er schnäuzte ihr die Nase mit dem Hemdzipfel und wollte sie an sich drücken, aber sie wich mit gespreizten Händen zurück. »Kommt jetzt das Fest?«, wollte sie wissen. Er bejahte, obwohl auch er nicht genau wusste, was ein Fest eigentlich war. Nur dass es lustig zugehen und Geschenke geben würde, war von den Primanern her durchgesickert.

        Zunächst aber mussten sich die Schüler, unter dem Kommando der Klassenlehrer, wieder zu einem geordneten Zug formieren. Rektor Moeller stimmte das Lied an, das sie über den Markt zurück zum Rathaus begleiten sollte: »Erhalt uns Herr bei deinem Wort.«

        Vor dem Rathaus war ein Podest errichtet und mit  Buchenzweigen geschmückt worden. Ein paar Stufen führten hinauf und am anderen Ende wieder hinunter. Oben standen zwei Tische, einer in der Mitte, der andere, von Weidenkörben flankiert, vor dem Abgang.  Ratsherren standen um den mittleren Tisch.  Als die Quinta ankam, blies der Stadtpfeifer einen Dreiklang. Rektor Moeller kletterte auf das Podest und schritt auf die Ratsherren zu. Sie unterhielten sich eine Weile. Dann verbeugte er sich vor den Herren, kam zurück zur Treppe und breitete die Arme aus

        »Jetzt  beginnt das Fest«, sagte Christian Franz, »glaub ich.«

        »Zur Erinnerung an diesen Tag«, rief Rektor Moeller, »den neunzehnten August anno Domini sechzehnhundertfünfzig... stiftet der wohledle Rat unserer Stadt für die Schüler unserer Anstalt... und die Mägdlein, so sie begleiten... einen Friedensgroschen. Neu geschlagen in der Münze zu Gotha!«

        »Hoho, juchhe!«, tönte es sofort über den Markt. Die Schüler klatschten begeistert. Rektor Moeller hob die Stimme. »Danket dem Rat und haltet die Gabe in Ehren!« Auch die wartenden Eltern, das schaulustige Volk spendeten nun Beifall. Auf ein Zeichen des Rektors erklommen die Quintaner der Reihe nach das Podest und nahmen am Mitteltisch ihren Friedensgroschen in Empfang. Als der erste von ihnen, etwas verlegen und unschlüssig, dem Abgang zusteuerte, brandete erneut Beifall auf: Am anderen Tisch wurde ihm eine große goldbraune Brezel überreicht.

        »Jetzt wir!«, sagte Maria Magdalena. Sie zog aufgeregt an ihrem Bruder. Gemeinsam stolperten sie die Treppe hoch. Auch Christian Franz wurde verlegen, als er so viele Gesichter auf sich gerichtet sah. Der Marktplatz wimmelte vor Menschen, sie drängten sich vor den Mauern der Georgenkircke, vor der Apotheke, im Eingang zur Markt- und zur Judengasse, und alle Menschen sahen ihn an. Er senkte die Augen, erst als er vor den Ratsherren stand, hob er den Blick. Der ehrwürdige Rat und berühmte Bildnismaler, August Erich, im dunkelbraunen Amtkleid, mit mächtiger Perücke, lächelte ihn an. »Wie heißt du?«

    »Paulin, Christian Franz.  

    »Vom Kaufmann Paulin... in der Predigergasse«, erläuterte ein zweiter Ratsherr. »Die Mutter selig war Kammerzofe bei der Herzogin.«

        »Ach, von unserem Paulin. Und die Kleine?«

        »Maria Magdalena, meine Schwester«, sagte Christian Franz.

        »Haltet in Ehren!«, sagte der Rat, reichte ihnen freundlich die Münzen und wandte sich an den nächsten Schüler.

        »Gib ihn mir!«, raunte Christian Franz dem Schwesterchen zu, als sie sich dem Brezeltisch näherten. »Ich steck ihn in die Hosentasche.« Maria Magdalena gab ihm bereitwillig den Groschen, ihre Augen hingen an den Weidenkörben, aus denen die Brezeln hervorleuchteten.

    Am Brezeltisch hatte sich ein kleiner Stau gebildet, denn die Schüler konnten wählen, ob sie eine dunklere Brezel mit Kümmel und Salz oder eine hellere mit einer Honigkruste wollten, und die Wahl fiel nicht leicht. Versprachen nämlich die einen mit ihrer Süße ein köstliches Erlebnis, so lockten die anderen mit ihrem größeren Umfang. Maria Magdalena, die vor ihrem Bruder ging, konnte sich lange nicht entscheiden. Wartend warf Christian Franz wieder einen Blick hinunter  in die Menge, in die vielen Gesichter, und bemerkte, nur ein Dutzend Schritte entfernt, den Vater mit den beiden Brüderchen an der Hand. Er winkte ihnen zu, die Kleinen lachten und streckten ihm die Arme entgegen. Neben ihnen stand ein hochaufgeschossener, fremder Junge, der spöttisch zurückwinkte und ihn dann unentwegt anstarrte. Er hatte lange, blonde, mit einem schmutzigen Stirnband zusammengehaltene Haare und war nur mit einer zerlumpten Kniehose bekleidet. Jetzt schnitt er ihm eine höhnische Fratze. Christian Franz hob fragend die Schultern, doch in diesem Moment sagte Maria Magdalena: »Jetzt du!« und drückte strahlend eine große Kümmelbrezel an ihre Brust. Er nahm zögernd ebenfalls eine Kümmelbrezel, zeigte sie in der erhobenen Hand den beiden Geschwistern und bemerkte dabei die gierigen Blicke des fremden Jungen. Der steckte ihm plötzlich die Zunge heraus und verschwand nach hinten in der Menge.

        Christian Franz schob die Schwester zur Treppe, es kam ihm jetzt so vor, als würde er auch von andern Gesichtern gierig angestarrt, und er war froh, dass der Vater mit den Geschwistern nahte. Zusammen bahnten sie sich einen Weg aus dem Gedränge.

        Sie schlugen den Weg zur Garküche ein, denn die Stadt hatte ihre Bürger zu kostenlosem Suppenschmaus und Freibier eingeladen. Christian Franz zog die Münzen aus der Tasche, um sie seinen Brüdern zu zeigen; sie blinkten in der Sonne, er ließ sie durch die Hände gleiten, prüfte ihre Ränder, ihre Prägungen, warf sie in die Luft und fing sie mit dem Handrücken auf; die Kleinen aber äugten verstohlen nach den Brezeln und wollten kein rechtes Interesse für die glänzenden Metallscheibchen aufbringen. Da gab er sie dem Vater zur sicheren Aufbewahrung. »Was können wir dafür kaufen?«, fragte er.

        »Der Groschen bringt ein Pfund Fleisch oder fünf Pfund Brot«, sagte der Vater, »ihr sollt sie aber in Ehren halten und nicht ausgeben.«

        »Warum eigentlich?«, wollte Maria Magdalena wissen.

        »Als Notgroschen für schlechtere Zeiten«, belehrte sie Christian Franz.

         »Aber die Brezeln können wir essen«, begehrte Maria Magdalena auf. Sie brach energisch ihre Brezel in der Mitte durch, steckte den Arm durch die eine Hälfte, teilte die andere in vier gleiche Stücke, gab dem Vater und den kleinen Brüdern davon und begann zu essen. »Du auch!«, sagte sie mit vollem Mund zu Christian Franz. Er teilte seine Brezel nach ihrem Beispiel.

       Sie waren an der Garküche angekommen. Es roch nach Kohlsuppe und Bier. Noch war das Gedränge um die dampfenden Suppenbottiche erträglich, denn die Masse der Schüler wartete vor dem Rathaus darauf, die Geschenke in Empfang zu nehmen, und die Eltern warteten auf ihre Sprösslinge. Christian Franz erspähte sogar noch freie Plätze an den aneinandergereihten flachen Tischen und Bänken, und nachdem sie Maria Magdalena und die Jungen dort abgesetzt hatten, reihten sich Christian Franz und der Vater in die Schlange vor den Bottichen ein. Es gab reichliche Suppenportionen. Sie wurden in irdenen Näpfen ausgegeben, nur für Löffel musste jeder Esser selbst sorgen. Doch der Vater hatte vorgesorgt. Mit verschmitztem Gesicht zog er zwei Holzlöffel aus der Tasche und ging Bier holen.

        Die Kinder löffelten abwechselnd, und wer nicht warten mochte, bis er wieder an der Reihe war, setzte seinen Napf an den  Mund und schlürfte von der warmen, mit Kümmel und Liebstöckel gewürzten Brühe, in der sogar Fettaugen schwammen. Es ging lustig zu in der Garküche. Die Menschen aßen, schlürften, schwatzten miteinander, lachten. Wer keinen Platz gefunden hatte, aß im Stehen  oder hockte auf der Erde. Bierkannen begannen zu kreisen. Und vom Rathausturm ertönten immer wieder fröhliche Klänge.

        Es wurde zusehends voller in der Garküche. Immer mehr Menschen, Erwachsene und Kinder, drängten herein, schubsten und stießen sich, suchten nach Sitzplätzen, vergrößerten die Warteschlangen vor den Suppenbottichen und dem Bierausschank. Ab und zu kam es zu kleinen Rempeleien, ertönte ein Fluch. Als der Vater mit der Bierkanne zurückkam, musste er sich mühsam einen Weg bahnen. Er brachte Kofent, ein Dünnbier, das aus dem zweiten Aufguss der Maische gebraut wurde. Kofent war in der Brauerstadt Eisenach ein Grundnahrungsmittel wie Grütze oder Rüben und wurde zu jeder Tageszeit getrunken. Er gab die Kanne den Kindern und begann eifrig Suppe zu löffeln.

        Christian Franz hatte die Bierkanne angesetzt und wollte gerade einen langen Zug nehmen, als er unter dem Tisch eine merkwürdige Bewegung spürte, so als ob sich ein Hund oder ein Kind auf allen Vieren an seinen Beinen vorbeizuzwängen versuchte. Er beugte sich nach links, um unter die Tischplatte zu blicken, doch da stieß er an den löffelnden Vater, der ihn energisch mit dem Ellenbogen zurückdrückte; zugleich fühlte er,  wie eine Hand an seinem rechten Oberschenkel entlang tastete und blitzschnell in seine Hosentasche fuhr, wo er die beiden Friedensgroschen gehabt hatte. Er sprang auf, da war die Hand verschwunden, doch Maria Magdalena, die ihm mit den Brüdern gegenüber saß, schlug plötzlich um sich und starrte dann wie gelähmt auf ihren Arm: die Brezelhälfte war weg. »Diebe!«, rief Christian Franz, »Diebe!« Der Vater fuhr hoch und verschüttete seine Suppe, der ganze Tisch kam in Bewegung, doch in dem Gedränge war nichts Verdächtiges auszumachen. Augenblicke später aber tauchten am langen Tischende zwei Jungenköpfe auf, einer von ihnen mit einem Stirnband, verharrten nur Sekunden und tauchten wieder ab. Als Christian Franz, der den fremden Jungen gleich wiedererkannt hatte, zur Stelle war, waren die beiden längst in der wogenden Menge verschwunden.

        Maria Magdalena weinte bitterlich. Der Angriff auf ihren Arm hatte sie erschreckt, und sie vergoss Tränen über den Verlust der Brezel. Sie beruhigte sich erst ein wenig, als ihr Christian Franz ein großes Stück von seiner Brezelhälfte abgegeben hatte. Er teilte seine Beobachtungen dem Vater mit. »Vorher hab ich den Jungen nie gesehen. Ich glaube, auch den anderen nicht. Die sind nicht an unserer Schule«, sagte er bestimmt.

        »Vielleicht Straßenkinder«, sagte der Vater mit düsterer Miene. »Kriegswaisen, die irgendwo  in  den Trümmern  der  vielen  abgebrannten  Häuser leben.  Sie betteln und klauen...«

        »Ja, beklaut haben sie mich!« klagte Maria Magdalena.

        »...um nicht zu verhungern«, beendete der Vater seinen Satz. Nachdenklich fuhr er fort: »Die gibt es vielerorts, auch jetzt noch, wo der Krieg vorbei ist. Die meisten kommen aus zerstörten Dörfern, aus dem Hessischen vor allem. Es zieht sie in die Städte, da finden sie was zu essen und bleiben länger unentdeckt.«

    Zweites Kapitel

        Der Ostermorgen dämmerte herauf, als sie, an den wuchtigen Mauern von St. Georg vorbei, in die Schmelzergasse einbogen. Der Himmel war bedeckt, ganz im Osten färbten sich die ersten, lockeren Wolken zartrosa. Doch die Gasse lag noch grau und verschlafen vor ihnen. Es roch nach Ruß, kaltem Rauch und Pferdemist. Hier wohnten und arbeiteten die Huf-, Nagel- und Messerschmiede, die Schwertfeger, Schlosser und Büchsenmacher. Schemenhaft zeichneten sich rohe Bretterzäune, dahinter Lehmfachhäuser und Stallungen ab. In einer Toreinfahrt stand ein Fuhrwerk mit gebrochener Achse. Krähen hatten sich auf den Holmen niedergelassen.

        Christian Franz lief gähnend hinter dem Vater her. Ihn fröstelte, er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Er gab sich Mühe, Schritt zu halten. Große, flache Steine sollten es den Passanten in der Gasse ermöglichen, trockenen Fußes durch den aufgewühlten, mit Schneeresten und Kot vermengten und von Radspuren durchfurchten Lehmbrei zu kommen. Doch die Abstände waren für Erwachsenenbeine berechnet. So musste er von Stein zu Stein hüpfen und springen, und manchmal strauchelte er. Der Vater achtete nicht darauf. Er lief schweigend  voran. Er hatte weder gesagt, warum sie so früh unterwegs sein mussten, noch, wohin sie gingen.

        Sie hatten die Gasse am Frauenberg erreicht, und der Vater schlug die Richtung zum nahen Stadttor ein. Es war nun fast hell geworden. Über der schnurgeraden Häuserzeile zur Linken stiegen hie und da Rauchfähnchen auf; ein Kopf mit Nachtmütze lugte aus einem halbgeöffneten Fenster, warf den beiden Wanderern einen Morgengruß zu und spuckte rasselnd auf die Gasse. Der Weg war hier breiter und teilweise gepflastert, sie konnten nebeneinander gehen, und Christian Franz bemerkte erst jetzt, dass der Vater einen Fuß nachzog: Er hinkte, und seinem Gesicht war anzusehen, dass er Schmerzen hatte.

       »Habt Ihr wieder eure Gicht, Vater?« Doch der Vater antwortete nur mit einem kurzen, rauhen Lachen und einer wegwerfenden Handbewegung. Er war in den letzten Tagen recht schweigsam und oft mürrisch gewesen. Vielleicht spürte er, dass ein Gichtanfall nahte. Dann war er immer schlecht gelaunt, obwohl er versuchte, es vor den Kindern zu verbergen.

        Rechterhand tauchten jetzt die verfallenden Türme des  alten Doms auf. Aus dem Kirchenschiff wurden schon seit  langem Steine für den Neubau herzoglicher und städtischer Gebäude gebrochen; viel Material verschwand auch in den Mauern von Bügerhäusern, die im Großen Krieg abgebrannt waren und nun allmählich wieder aufgebaut wurden. Auch die breite, steinerne Treppe, die über den Frauenplan zum Dom hinaufführte, war durch wilden Abriss schon arg lädiert. Ein Hundekadaver mit schwarzgrauem Zottelfell lag auf der untersten Stufe. Er konnte noch nicht lange da liegen, denn die Ratten hatten ihn kaum angefressen.

        Das Frauentor wurde gerade geöffnet. Es war das einzige der fünf Stadttore, das Christian Franz noch nicht durchschritten hatte. Der Vater hatte es ihm verboten, und die Torwächter waren von Rektor Moeller angewiesen, Schülern bis zur Quarta nur in Gruppen oder in Begleitung Erwachsener den Durchgang zu gewähren. Gleich hinter dem Tor begann der endlose Wald. Auf den Wegen, die nach Ruhla und Meiningen und weiter nach Nürnberg führten, gab es Schluchten und wilde Abgründe; nachts heulten die Wölfe, und manch ein Wanderer berichtete von Irrlichtern und grausigen Gespenstern im Mariental, am Fuße der Wartburg. Auch sollten sich aus Kriegszeiten noch versprengte, heimatlose Söldner und andere Wegelagerer in den Forsten rund um den »Rynnestieg« aufhalten.

        Der Turm über dem massiven Steintor war viereckig und trug eine gespitzte Dachhaube mit einem Erkerfensterchen und einer Wetterfahne. Rechts, an der Mauer schloss sich das Wohngebäude für die Wächter und den Torschreiber an. Die Ketten der Zugbrücke rasselten. Der Weg aus der Stadt war frei. Der Vater begrüßte die beiden Torwächter nur flüchtig, aber wie alte Bekannte, und humpelte eilig auf die Brücke. Von draußen drängten ein paar malerische Gestalten heran. Sie waren bäuerlich gekleidet, stellten aber auch Teile von Uniformen zur Schau, die bunt zusammen gewürfelt waren, als hätten sie diese im Vorbeigehen auf einem Schlachtfeld aufgelesen; einer hatte vielfach geflickte gelbe Stulpenstiefel an, ein anderer einen blauen schwedischen Rock, ein dritter Wams und Federhut, wie sie die  französischen Kürassiere trugen. Sie schienen am Vorabend, nach Einbruch der Dunkelheit, angekommen zu sein und keinen Einlass mehr in die Stadt gefunden zu haben. Nachts waren die Tore fest verschlossen. Spätankömmlinge konnten, so sie Geld dabei hatten, im Gasthof vor der Stadtmauer, die anderen mussten unter freiem Himmel übernachten. Die Ankömmlinge waren unsicher auf den Beinen, sie hatten fahle Gesichter und redeten und fluchten mit heiseren Stimmen durcheinander; offenbar hatten sie bis in den Morgen hinein gezecht. Zwei von ihnen schleppten ein Reh mit durchschnittener Kehle auf den Schultern, sie hofften wohl, das Wildbret am Ostertag  besonders günstig verkaufen zu können. Der Torschreiber stellte sich ihnen in den Weg.                                                                            

         »Christian!« Der Vater hatte sich schon ein gutes Stück entfernt, Christian Franz war neugierig stehengeblieben, er hatte die finstere Miene des Schreibers bemerkt und wollte sehen, ob  sich vielleicht Händel zwischen den Torwächtern und den Fremden anbahnten. Schnell hatte er den Vater eingeholt. Als sie den breiten Stadtgraben und den aufgeschütteten mächtigen Schutzwall passiert hatten, dehnte sich vor ihnen, dunstverhangen und grau, das Mariental, zogen sich Fichten- und Eichenwälder bergwärts und verschwanden im Nebel, bis sie, noch höher, plötzlich im roten Licht der aufgehenden Sonne wieder sichtbar wurden. Die Hänge und Hügel linkerhand waren zum Teil bewirtschaftet, weitflächige Hopfenfelder wechselten mit dunklen Gruppen knorriger Obstbäume.

        »Wohin gehen wir eigentlich, Vater?«

        »Rütgen schneiden – bevor die Sonne drauf fällt.«  Sie stapften jetzt in eine feuchte Wiese hinein und folgten den Windungen eines Bachs. Kopfweiden tauchten aus dem Nebel auf, und Christian Franz dachte schon, dass sie Weidenruten zum Korbflechten  schneiden würden. Doch der Vater verließ plötzlich den Bach, durchquerte die Wiese und eilte hügelan auf eine Gruppe von Haselsträuchern zu. »Da sind wir endlich. Nun hurtig, Junge. Ich darf nicht, ein Knäblein muss es machen... So einer wie du.  Also, pass auf!« Er zog ein Messer aus der Tasche, schnitt einen jungen Haseltrieb ab und hielt Christian Franz die Klinge hin. Es war ein ganz neues Messer. Christian hatte es noch nie gesehen. Auf der Klinge waren drei Kreuze eingraviert. Er bückte sich nach einem Trieb und setzte das Messer an. »Nein, so!« korrigierte ihn der Vater hastig. »Mit einem einzigen glatten Schnitt, hat der Bader gesagt.«

        Christian Franz begann, Ruten zu schneiden. Er wusste nicht, wozu sie die Ruten brauchten, und warum der Vater so zur Eile drängte, und welchen Bader er meinte. Aber er fragte nicht. Er spürte, dass der Vater gereizt und dass es besser war, einfach seine Anordnungen zu befolgen. Er schnitt Rute um Rute, der Vater sammelte sie schweigend ein und wickelte sie in ein großes Stück Leinen. Als sie einen Armvoll zusammen hatten, sagte er: »Gut so.« Er ließ sich das Messer geben, wischte die Klinge sorgfältig ab, steckte sie in eine Scheide aus Ziegenleder und schob es in die Tasche zurück. Dann klemmte er sich das Rutenbündel unter den Arm und reichte Christian Franz die freie Hand. »Komm!«

        Sie gingen den gleichen Weg zurück.  Der Vater sah jetzt zufrieden, beinahe fröhlich aus.  Er blinzelte unter seinen buschigen Augenbrauen in die aufgegangene Sonne. »Gerade noch geschafft. Kein Strahl darf die Rütgen berühren. Und sie müssen am Ostermorgen geschnitten sein.« Er lächelte dem Jungen zu. In Frankfurt auf der Messe hat mir ein Bader das Geheimnis anvertraut... wie man die Fußgicht vertreibt.«

        »Mit Haselrütgen?«

        »Wirst das schon machen, Junge.«

        »Was soll ich machen?«

    Der Vater überhörte die Frage. Er zog den Jungen mit sich, und bald waren sie wieder an der Stadtmauer angelangt. Die Fremden krakeelten immer noch vor dem Tor herum. Sie hatten Bierkannen aus dem Gasthof geholt, tranken und redeten auf den Stadtschreiber ein mitzuhalten. Das Reh hatten sie auf der Zugbrücke abgelegt. Die Torwächter verwehrten ihnen den Eingang in die Stadt mit nachlässig  gekreuzten Hellebarden. Sie grinsten, als sie den Kaufmann Paulin mit seinem Sohn durchließen. »Schon wieder besoffen, die Galgenvögel.«

        »Wenn das dem Prüschenck zu Ohren kommt!«, sagte der Vater im Vorbeigehen.  »Mit Wilddieben macht der nicht viel Federlesens.«   

       Es war später Nachmittag. Nach dem Osterkirchgang und der Vesper mit den Großeltern und Geschwistern hatte Christian Franz das Schwein und das Schaf versorgt und sich für Leseübungen in den kleinen Hinterhofgarten zurückgezogen. Er konnte schon recht gut lesen,

    deutsch und latein, er las flüssig, ohne den Gebrauch der Finger, und der Lehrer hatte ihn dafür gelobt. Anfangs hatte Großvater viel Geduld und Mühe und manche Abendstunde bei Kerzenschein aufgewandt, um die Neugier auf die kleinen schwarzen Buchstaben zu wecken: Wie sie hießen, wie Silben und Worte aus ihnen entstanden, und was die Worte bedeuteten. Inzwischen las er aus eigenem Antrieb. Zuerst wiederholte er die Verse aus den Evangelien, die sie am Vortag durchgenommen hatten, so lange, bis er sie aus wendig hersagen konnte, dann nahm er sich einen neuen Vers vor, buchstabierte ihn, versuchte hinter seinen Sinn zu kommen, und es machte ihm großen Spaß, wenn er einen Vers entdeckte, den der Pfarrer in der Predigt schon zitiert oder gar zum Leitspruch einer Predigt gewählt hatte.

        Heute jedoch hatte ihm der Vater – was er noch nie getan hatte – eine Textstelle zum Üben vorgegeben und mit einem Augenzwinkern gesagt: »Lies das, aus dem Evangelium Marci, das kannst du aufsagen, wenn du hernach die Rütgen schwingst.«

    Die Rütgen schwingst? Christian Franz schüttelte verständnislos den Kopf, als er die Schrift und die markierte Stelle aufgeschlagen hatte. Kapitel zwei, Vers elf: »Ich... sage dir... stehe auf, nimm dein... Bette und gehe heim«, las er. Er las es noch einmal. »Nimm dein  Bette und gehe heim.« Das sollte er sagen? Warum? Zu wem sollte er das sagen?  »Nimm dein Bette...« War vielleicht jemand im Haus, von dem er nicht wusste? Hatten die Großeltern einen Schlafgast einquartiert, als er in der Früh mit dem Vater weggegangen war? Nimm dein Bette und gehe! Warum sollte er das sagen und dabei Rütgen schwingen? Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Er versuchte weiterzulesen. Doch auch der nächste Vers gab ihm keine Aufklärung. Da wandte er sich dem Anfang des Kapitels zu und las in der Inhaltsangabe: »Jesus heilt in Kapernaum einen Gichtbrüchigen.« Er hielt inne. Einen Gichtbrüchigen! Das war das Geheimnis. Begierig las er weiter. Doch nach einer geraumen Weile schlug er die Bibel enttäuscht zu. Er konnte einfach nicht verstehen, was da gesagt wurde, und von Rütgen war nirgendwo die Rede. Es dämmerte schon, als er missmutig ins Haus zurückging.

        Nach dem Abendessen sagte der Vater. »Wenn du die Kleinen ins Bett gebracht hast, komm in den Stall.« Das Stallgebäude war an das Wohnhaus angebaut und enthielt zwei Verschläge, einen für das Schwein, im zweiten war gerade noch Platz für zwei Schafe und den Wintervorrat an Rüben, Eicheln und Heu, doch eines der beiden Schafe war zur Weihnachtszeit geschlachtet worden, und das Viehfutter war beinahe aufgebraucht. Als sich Christian Franz  vom Hof her dem Stall näherte, sah er durch die Türritzen, dass drinnen Licht brannte. Das war ungewöhnlich. Vater hatte es streng verboten, den Heuschober mit Kerzenlicht zu betreten, und er hatte sich selbst immer streng an das Verbot gehalten. Ein Luftzug, ein Flackern, ein Funke genügte mitunter, um einen Brand zu entfachen, und unversehens stand auch das Wohnhaus in Flammen. Es  hatte schon viele verheerende Brände in der Stadt gegeben.

        Christian Franz öffnete die Tür. Sein erster Blick fiel auf ein Talglicht, das ruhig in einem flachen Tontöpfchen  auf einem Schemel blakte. »Komm herein!«, hörte er den Vater sagen. Er folgte der Aufforderung und stieß unwillkürlich einen Schrei aus. Der Vater lag, nackt bis auf einen schmalen Lendenschurz, neben dem Schaf auf der strohbedeckten Erde. Er hatte sich seitlich hingestreckt, stützte den Kopf  auf den angewinkelten Arm und lachte verhalten. »Hab ich dich erschreckt? Schließ die Tür und komm näher!« Christian Franz hatte den Vater noch nie nackt gesehen. Unsicher huschten seine Augen über den bleichen Körper, von dem sich der grauschwarze Haarschopf und die dunklen Büschel unter den Armen seltsam abhoben. Zögernd trat er heran. »Was macht Ihr hier, Vater?«

         »Du sollst mir helfen, Junge. Podagra, meine Fußgicht. Du musst sie herauspeitschen.«

         »Herauspeitschen?«

         »Mit den Haselrütgen, da.« Er deutete in die Ecke, wo das Rutenbündel lag, das sie am Morgen geholt hatten. »Du nimmst fünf Stück in die Hand und schlägst einfach los.«

        »Ich soll Euch schlagen?«, fragte der Junge entsetzt.

        »Nur zu. Du fängst am Rücken an und peitschst langsam abwärts bis zum Arsch, dann den rechten Oberschenkel hinab bis zum Fuß, dann den linken Oberschenkel bis zu den Zehen. Durch die Zehen fährt die Gicht aus dem Leib... sagt der Bader.«

        Christian Franz war verwirrt. Schläge hatte es im Haus der Großeltern, im Pfarrhaus Himmel, nie gegeben. Auch Vater strafte nur mit Worten, nicht mit der Hand.  Vaters Hand hatte ihn nach dem Tod der Mutter so oft beruhigt, ihm die bösen Träume verscheucht, aufmunternd die Wangen getätschelt. »Wie kann ich Euch absichtlich wehtun?«, fragte er, den Tränen nah.

        »Ich sage dir doch, du sollst mir helfen, Dummkopf. Nicht mir tust du weh, sondern der alten Gichthexe.« Ein Schaudern fuhr durch den großen Körper. »Mach schon, es wird langsam kalt!«

        Christian Franz bückte sich nach den Ruten. »Jesus... in Kapernaum... hat dem Kranken... die Sünden vergeben«, brachte er stotternd hervor. »Er hat ihn nicht ausgepeitscht.«

        »Aber du bist nicht Jesus!« Der Vater wälzte sich auf den Bauch. «Jetzt fang endlich an!«

        Christian Franz schluckte. Das Rutenbündel in seiner Faust traf die Schultern des Vaters, zweimal, dreimal. Er hörte ihn seufzen. Das Schaf war aufgesprungen und zerrte an seinem Strick. Das Schwein hatte den Rüssel durch den Verschlag gesteckt und sah ihn aus kleinen Triefaugen aufmerksam an.

        »Weiter, mehr!«, rief der Vater. Er zuckte unter den Rutenstreichen zusammen, und manchmal stöhnte er auf, doch er gebot dem Jungen, nicht nachzulassen und feuerte ihn zu immer größerem Eifer an.

        Christian Franz rannen Tränen über das Gesicht. Ein Schwindel erfasste ihn, und wie durch Nebelschleier hindurch sah er, dass sich rote Striemen auf der misshandelten Haut bildeten. Erschrocken hielt er inne, doch schon traf ihn ein schneidender Ruf weiterzumachen. In seiner Not begann er herauszuschreien, was ihm gerade in den Sinn kam: »Steh auf... nimm dein Bette... und geh!... Steh auf, nimm dein Bette und geh heim!«

        »Recht so, Junge, recht so!«, keuchte der Vater.   

    Drittes Kapitel

        Er hatte den Vater noch oft auspeitschen müssen, und der Vater schwor jedes Mal, dass es ihm danach besser gehe, doch die Besserung war immer nur von kurzer Dauer. Die Fußgicht blieb sein ständiger Begleiter.

        Christian Franz war nun elf Jahre alt und hatte die Unterabteilung der Quarta erreicht. In der Oberabteilung saßen die Dreizehnjährigen. Kantor Theodor Schuchardt musste beide Abteilungen, insgesamt siebzig Schüler, in einem Klassenzimmer unterrichten. Es herrschte immer Raumnot in der Lateinschule. Sie war in den Mauern des alten Dominikanerklosters untergebracht, die neben der Wohnung des Rektors auch das Stadtgefängnis und das Zeughaus beherbergten.

        Es war halb sieben Uhr in der Frühe. Die Schüler hatten gebetet und gesungen. Quartallehrer Schuchardt hatte, wie gewohnt, seine Taschenuhr aufgezogen und auf das Pult gelegt und hatte den beiden Klassenhälften, den Inferiores und den Superiores, das heutige Tagespensum verkündet. Nun wandte er sich, die Hände mit dem gefürchteten »Schwüppchen« auf dem Rücken, den Superiores, den älteren Schülern im hinteren Teil des Klassenzimmers zu.

        Christian Franz fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und seufzte. Es war, als wenn ihn der Teufel narrte. Mit geschlossenen Augen konnte er den langen Satz fehlerlos herbeten, doch sobald er die Lider öffnete, um den Federkiel in die Tinte zu tauchen und in sauberer Linie über das Papier zu führen, brachte er die Reihenfolge der Wörter an irgendeiner Stelle durcheinander. Musste es nun heißen: »...gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre« oder kam »Friede« vor »gut Wetter« oder hieß es gar »...gute Gesundheit«?

        Oben hatte er mit dicken Buchstaben auf das Blatt geschrieben: »Was heißt denn täglich Brot?« Das war die Nachfrage zur vierten Bitte des Pater noster.  Und es sollte Luthers Erläuterung folgen, so wie sie im Katechismus stand. Auf  buchstabengerechte Wiedergabe legte Kantor Schuchardt großen Wert. Er legte den Kopf in den Nacken, kniff die Augen zusammen und begann mit gedämpfter Stimme zu deklamieren: »Was heißt denn täglich Brot? Alles, was zur Leibes Nahrung und Notdurft gehört, als Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker...«

        »Halts Maul, Esel!«, raunte ihm der Banknachbar zu und drohte mit der geballten Faust. Das war Johann Jakob, der Sohn vom Lohgerber Kley aus Steinbach, der einzige Rotschopf unter den Quartanern.

        »Selber Esel!«, raunte Christian Franz zurück. Er sah sich verstohlen um, doch es war niemand sonst aufmerksam geworden, und Kantor Schuchardt im hinteren Teil des Klassenzimmers wandte ihm den Rücken zu. Er schloss wieder die Augen und flüsterte: »...Acker, Vieh, Geld, Gut...  fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und treue Oberherren, gut Regiment, gut Wetter...« Er stockte.  Eine Merkhilfe! Vier Substantiva ohne Eigenschaft, dann vier Substantiva mit dem Adjektiv »fromm« und zwei mit dem Adjektiv »gut«. Bedächtig brachte er die Wörter auf das Papier, schloss erneut die Augen, begann den Satz wieder von vorn und beendete ihn schließlich mit der Aufzählung »...gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.« Er schrieb auch diese Wörter hin, las das Ganze, immer noch im Flüsterton, sorgfältig durch und legte den Federkiel beiseite. Geschafft!  

        War er der Erste? Sein Vordermann hatte den Kopf auf beide Hände gestützt, es sah aus, als ob er angestrengt nachdenke, vielleicht aber war er eingeschlafen. Es kam oft vor, dass

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