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DIE GLASTROPFENMASCHINE: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 12
DIE GLASTROPFENMASCHINE: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 12
DIE GLASTROPFENMASCHINE: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 12
eBook681 Seiten9 Stunden

DIE GLASTROPFENMASCHINE: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 12

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Über dieses E-Book

Als Reik Regenbach bei einer Exkursion im Rüdersdorfer Kalk einen seltsam geformten Stein findet, der einem Rattenkopf mit Zähnen und Augen wie Glastropfen ähnelt, spürt er, dass er verfolgt und bedroht wird. Anja Winterlicht, seine Freundin, sieht plötzlich aus, als sei sie ein ganz anderes Mädchen und keinesfalls aus Fleisch und Blut, und ein Fremder versucht, ihn in einen Abgrund zu stürzen. Schon will Reik den Steinernen Kopf wegwerfen, als er fühlt, dass er sich nicht von diesem Fundstück trennen darf. Wenig später verwirrt sich in ihm das Gefühl für Zeit und Raum. Er weiß nur noch, dass er den Baum der zehn Zeiten erreichen muss, dessen Blätter wie Schwanenflügel im Wind rauschen und dessen Äste in verschiedene Welten führen...

 

Hans Bach (* 1940 in Berlin) ist ein deutscher Science-Fiction-Autor; sein bekanntester Roman Die Glastropfenmaschine erschien in der DDR erstmals im Jahre 1988.

Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe KOSMOLOGIEN - SCIENCE FICTION AUS DER DDR.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum20. Juni 2022
ISBN9783755415954
DIE GLASTROPFENMASCHINE: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 12

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    Buchvorschau

    DIE GLASTROPFENMASCHINE - Hans Bach

    Das Buch

    Als Reik Regenbach bei einer Exkursion im Rüdersdorfer Kalk einen seltsam geformten Stein findet, der einem Rattenkopf mit Zähnen und Augen wie Glastropfen ähnelt, spürt er, dass er verfolgt und bedroht wird. Anja Winterlicht, seine Freundin, sieht plötzlich aus, als sei sie ein ganz anderes Mädchen und keinesfalls aus Fleisch und Blut, und ein Fremder versucht, ihn in einen Abgrund zu stürzen. Schon will Reik den Steinernen Kopf wegwerfen, als er fühlt, dass er sich nicht von diesem Fundstück trennen darf. Wenig später verwirrt sich in ihm das Gefühl für Zeit und Raum. Er weiß nur noch, dass er den Baum der zehn Zeiten erreichen muss, dessen Blätter wie Schwanenflügel im Wind rauschen und dessen Äste in verschiedene Welten führen...

    Hans Bach (* 1940 in Berlin) ist ein deutscher Science-Fiction-Autor; sein bekanntester Roman Die Glastropfenmaschine erschien in der DDR erstmals im Jahre 1988.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht diesen Roman als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe KOSMOLOGIEN - SCIENCE FICTION AUS DER DDR.

    DIE GLASTROPFENMASCHINE

    AUFBRUCH

    Erstes Kapitel: Der steinerne Rattenkopf

    Reik Regenbach blickte zu den Mädchen hinüber. Sie saßen zu viert auf einer Doppelbank der Straßenbahn, die zum Kalkwerk Rüdersdorf fuhr. Maria und Anja wandten Reik die Gesichter zu, während Jana und Janine in Fahrtrichtung sahen. Anja erzählte, und die anderen drei lachten fast ununterbrochen. Sie schien in Hochform zu sein.

    Wegen Anja Winterlicht saß Reik in der Bahn. Ihretwegen war er bereit, einen halben Tag durch den Kalk zu laufen und sich etwas über Saurier und Sedimente anzuhören. Frau Seiffert, die Klassenleiterin, stand ganz vorn, und ihr Blick wurde nur wach, wenn sie eine Haltestelle erreichten. Sie hatte die Exkursion organisiert. Wer kein Interesse dafür zeigte, machte in einer anderen Klasse den Wandertag mit. Verwundert hatte sie Reik angesehen, als er sich für Rüdersdorf meldete. Jana und Janine kicherten, weil sie wussten, warum er plötzlich für die Paläontologie schwärmte.

    Reik stand auf dem hinteren Perron. Er war auf sich selbst wütend, denn Anja hatte ihn behandelt, als würde sie ihn überhaupt nicht kennen. »Seht mal, da«, hörte Reik und sah Anjas Finger, der auf einen grünen Skoda wies, »ich wette...«

    Reik versuchte zu erfahren, was Anja wettete, aber er verstand kein Wort. Nur als Jana »Du spinnst ja!«, rief, dachte er: Sie spinnt heute tatsächlich. Hoffentlich fällt sie rein mit ihrer Wette.

    Die Straßenbahn hielt. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern verließ den Wagen. Ein älterer Mann, bebrillt und mit schwarzem Regenschirm unter dem Arm, stieg zu. Er räusperte sich. Anja hob den Kopf und blickte in seine Richtung. Der Mann blinzelte dem Mädchen zu. Dann wandte er sich gleichmütig ab, trat an die Zahlbox und zog sich einen Fahrschein. Er betrachtete ihn von allen Seiten, begann den spärlichen Text zu studieren, und doch war es Reik, als wenn die Aufmerksamkeit des Fremden nur Anja galt. In Reik erwachte ein nie gekanntes Gefühl der Eifersucht.

    Sie kamen an einer Kreuzung vorbei, und Reik hörte, wie die drei Mädchen, die mit Anja gewettet hatten, erstaunte Rufe ausstießen. Sie pressten die Gesichter gegen die Scheibe, und als er zu erkennen versuchte, was es gab, konnte er nur ein grünes Autodach sehen.

    Die Kreuzung blieb hinter ihnen zurück. Die Mädchen verstummten. Sie starrten vor sich hin. Nur manchmal hob eine von ihnen den Kopf, wollte Anja etwas fragen, aber schwieg dann doch. Schweigsam verlief die weitere Fahrt. Gemächlich zogen die schmalen Straßen von Rüdersdorf vorüber.

    Als sie ausstiegen, erwartete sie ein Mann mit dichtem schwarzem Bart und ebensolchen Haaren. Er trug eine kleine runde Brille, die in seinem Gesicht verloren wirkte. Jeans, kragenloser Pullover und Wildlederjacke und dazu die sonnengebräunte Haut verliehen ihm das Aussehen eines Menschen, der viel unterwegs ist, der kaum an seinem Schreibtisch anzutreffen ist.

    »Ich bin der Paläontologe Doktor Berksassen«, stellte er sich vor, »mit dem ihr verabredet seid.«

    Frau Seiffert gab ihm die Hand und errötete leicht.

    Sie gingen einen »inoffiziellen Weg«, wie Berksassen ihnen sagte, kamen in die Welt des Kalkbruchs. Hier war alles weiß, weißgrau oder grauschwarz. Bläulich lagen die Schatten der hochaufragenden Plattenberge auf den Pfaden. Manchmal glaubten sie in einer Winterlandschaft zu sein, und dann wieder fühlten sie sich wie in einem Hochgebirge.

    »Vor zweihundertzehn Millionen Jahren«, erklärte Berksassen, »befand sich hier ein gewaltiges Meer. Fremdartige Reptilien, riesige Schildkröten und Fische mit den ungewöhnlichsten Auswüchsen durchfurchten die Wasser, lieferten sich Kämpfe auf Leben und Tod oder bewegten sich träge über den Grund. Und das, was euch jetzt wie ein kleines Gebirge vorkommt, ist aus den Schalen der toten Muscheln entstanden, die sich Schicht für Schicht übereinanderlegten. Am schlimmsten waren die Schildkröten wie Triassuchelys und Archeion dran. Sicher wurden sie von allen gejagt und ver...

    »Das glaube ich nicht«, unterbrach ihn Anja ruhig, »niemand fing Archeion ungestraft. Sie waren paarweise unterwegs. Triassuchelys in Gruppen. Und kam ihnen jemand zu nahe, dann zogen sie den Kopf ein und benutzten ihren Panzer als Waffe. Was sie so berührten, zersägten sie einfach.«

    »Ein phantasievolles Mädchen...«, begann Berksassen lachend, ohne den Satz zu vollenden. Noch während er sie ansah, Anja wich seinem Blick nicht aus, verschwand das Lächeln, und etwas wie Bestürzung oder tiefe Nachdenklichkeit breitete sich in seinem Gesicht aus. »Na ja«, sagte er endlich, während er sich mit dem Taschentuch einige Schweißperlen von der Stirn wischte, »warum auch nicht. Es würde vieles erklären... sehr vieles sogar.«

    Reik hatte die Szene beobachtet. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Anja, seine Klassenkameradin Anja Winterlicht, belehrt einen

    Wissenschaftler, unterbricht ihn und verwirrt ihn mit einem Blick ihrer Augen.

    Der Pfad wand sich um den Berg, führte höher hinauf. Sie erreichten einen stillgelegten Teil des Kalkwerks. Junge Bäume, Stauden und frische Gräser wiegten sich im Wind.

    Jana, die etwas zurückblieb, ging jetzt neben Reik her. Da fiel dem Jungen die Wette aus der Straßenbahn ein. »Jana«, sagte er hastig, »in der Straßenbahn, um was habt ihr gewettet?«

    »Frag sie doch selbst«, antwortete Jana, »du bist doch ihretwegen hier.«

    »Kann man sich nicht mal irren«, Reik lächelte Jana zu, »bei mir ist sie weg vom Fenster. Wie die sich aufführt... ohne mich.«

    »Weißt du«, Jana spielte nervös mit dem Trageriemen ihrer kleinen Tasche, »das war verrückt. Du wirst es nicht glauben. Anja sagte, dass man Autos hypnotisieren kann, und die bleiben dann einfach stehen. Und da kam der grüne Skoda. Sie starrte ihn an, murmelte etwas, und... und mitten auf der Kreuzung stand der tatsächlich. Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht gesehen hätte.«

    Reik antwortete nichts, und Jana ging wieder schneller, um Janine einzuholen. Er versuchte sich einzureden, dass es ein Zufall war. Oder es hätte auch ein Auto an der Kreuzung stehen können, und ein ähnliches war vorbeigekommen. Nur, dass Anja überhaupt so etwas sagte, das passte nicht zu ihr. Es musste etwas mit ihr los sein. Oder sie tat das alles, um ihn zu testen. Sie wollte vielleicht sehen, ob er auch zu ihr hielt, wenn die anderen gegen sie waren.

    »Sie stellt mich auf die Probe«, murmelte Reik, aber da fiel ihm der Bebrillte und dessen eigenartiges Verhalten ein. Der Mann mit dem Regenschirm war auch am Kalkwerk ausgestiegen. Er hatte ungeschickt Berksassen angerempelt und war kopfschüttelnd auf die Straße gegangen, und dann... Wo war er dann geblieben? Er war einfach weggewesen.

    Reik hob den Kopf, suchte Anja. Sie ging ein wenig abseits und hielt ein Notizbuch in der Hand. Reik beschleunigte seine Schritte. Er wollte ihr zeigen, dass sie sich trotz allem auf ihn verlassen konnte.

    Als er nahe heran war, sah er, dass es kein Notizbuch, sondern ein grünes Plättchen war. Etwas größer als eines dieser Lesezeichen. Reik war schon dicht hinter Anja. Er schaute ihr über die Schulter. Sein Mund öffnete sich, und seine Augen blickten fassungslos. Als begeisterter Elektronikbastler wusste er, dass er etwas Einmaliges sah. Auf diesem Plättchen war vieles gleichzeitig. Die Landschaft wurde düsterrot abgebildet. Da, wo die anderen liefen, wurden sie von phosphoreszierenden Strudeln und glitzernden Entladungen umtost.

    Gleichzeitig aber wogte hier ein Meer. Träge, hellgrün mit kleinen, gekräuselten Wellen. Merkwürdige große Echsen zogen als Schwarm dahin. Das Meer wurde blass, und stattdessen dehnten sich Sümpfe von Horizont zu Horizont aus. Und dann erloschen alle Bilder, und ein seltsamer Flugkörper tauchte auf, kam rasch näher und zerplatzte. Es regnete glühendes Metall. Die dunkelrote Landschaft Rüdersdorf erschien nun erneut, und als zuckende blaue Punkte wurden einige der Wrackteile von jenem geborstenen Flugkörper sichtbar.

    Reik bewegte den Kopf. Da erglänzte ein weißer Punkt in der Mitte des Bildes, und aus dem Punkt wurde Reiks Gesicht. Mit einer schnellen, wenn auch ruhigen Bewegung steckte Anja das Plättchen in eine der vier Blusentaschen. Übrigens hatte Reik diese Bluse noch nie gesehen, die aus einem metallglänzenden, groben Material gefertigt war.

    »Du kannst dich auf mich verlassen«, begann Reik, »das wirst du wohl schon gemerkt haben. Ich bin nur deinetwegen hier...«

    »So«, unterbrach ihn Anja und sah ihn einen Augenblick starr an, »ach so... Meinethalben. Unserer Säugetiernatur wegen. Meinst du das?« Sie lächelte weich, schüttelte ein wenig den Kopf.

    »Was ist?« Reik schluckte. »Hör mal, du hast wohl gestern versehentlich ein Biolexikon gefressen oder so was? Kannst du auch reden wie immer? Oder ziehst du die Show wegen der EOS ab?«

    Er wollte nach dem Plättchen fragen, aber Anja ließ ihn einfach stehen und lief zu den anderen.

    »Anja«, rief ihr Reik hinterher, aber nur Jana drehte sich um, kicherte und schrie ihm ein Wort zu, das er nicht verstand.

    Reik schaute zu Boden. Da fiel sein Blick auf einen seltsam geformten Stein. Der war dunkelblau, von einer rötlichen Brandspur überzogen und hatte die Form eines großen Rattenkopfes. Vor ihm lag ein steinerner Rattenkopf. Reik bückte sich, hob ihn auf. Der Stein war schwer und unhandlich. Reik steckte ihn in seine Umhängetasche, die er sorgfältig verschloss.

    Ich werde ihn anmalen, dachte er, und morgen schenke ich ihn Anja. Und ich werde raufschreiben: von einem Saurier für eine nette Schildkröte. Oder so etwas Ähnliches.

    Langsam ging Reik weiter. Der Tasche entströmte eine ungewöhnliche Kälte, die mit der Zeit zuzunehmen schien. Reik schob die Tasche etwas zurück. Er wollte jetzt schneller gehen, wollte Anja einholen und stumm neben ihr herlaufen, aber er kam nicht dazu.

    »Ich weiß doch, dass du zu mir hältst«, erklang es dicht neben Reik, der zusammenzuckte und herumfuhr. Er blickte direkt in Anjas Augen, die unmittelbar vor ihm stand. Sie lächelte ihm zu. »Vorhin, das war dumm«, fuhr sie fort, »aber wir sind Verliebte, und da streitet man sich auch manchmal.«

    Reik sah nur ihre Augen. Er gewahrte zum ersten Mal – vielleicht lag das an der Sonne, dass sie fast hellgrüne Augen hatte. Er war immer der Ansicht gewesen, dass ihre Augenfarbe hellbraun war.

    »Du redest so komisches Zeug«, sagte er, »entweder du hast zu viel Populärwissenschaft im Fernsehen gesehen, oder... oder es ist dein Ziel, aus mir einen Clown zu machen. Versuch einfach mal wie gestern zu sein.«

    »Du brauchst den Stein nicht anzumalen«, Anja lächelte noch immer, »gib mir den Rattenkopf jetzt.«

    Mechanisch fasste Reik zur Tasche, wollte den Stein herausholen. Eilig zog er die Hand zurück, denn der Stein war glühend heiß. Dabei bemerkte Reik nicht einmal, dass auf der Körperseite große Kälte durch die Tasche drang.

    »Das Ding ist heiß«, sagte er kopfschüttelnd, »komm doch am Nachmittag vorbei und hole ihn ab.«

    »Heiß«, wiederholte Anja, und eine Veränderung ging in ihr vor, »so – also heiß.« Ein seltsames Glitzern entstand in ihren Augen. Die Vormittagssonne spiegelte sich in ihren Pupillen, die zu zwei spitzen, schmerzenden Lichtpunkten wurden. Reik blinzelte geblendet.

    »Tauschen wir«, schlug Anja vor, »ich kenne eine Versteinerung, die noch keinen Namen hat. Gib ihr deinen Namen, und du bist berühmt. Die anderen, die Lehrer, alle werden dich bewundern. Ist das nicht ein guter Tausch gegen diesen heißen Rattenkopf?«

    »Ich weiß etwas Besseres«, sagte Reik und lächelte, wenn auch nicht glücklich, denn diese geschäftsmäßige Art von Anja war ihm bisher unbekannt, »gib mir das Videospiel aus deiner Blusentasche. Für drei Tage. Dann hast du den Rattenkopf.«

    Anja hob die Rechte, deutete nach vorn. Der Pfad, dem die Kinder unter Berksassens Führung folgten, schlängelte sich immer noch bergauf. Er verlief sich auf einer steinigen, leblosen Fläche, die etwa hundert Meter voraus wie abgeschnitten endete. Die Abbruchstelle war mit einem Stahlseil gesichert. Wie tief es dort hinunterging, konnte man nicht sehen, nur lagen drei- bis vierhundert Meter Luftlinie zwischen der Hochfläche hier und ihrer Fortsetzung auf der anderen Seite.

    »Du siehst den Abgrund«, Anjas Gesicht blieb unbeweglich, während sie die Worte sprach, »und ich sage dir, dass dich der Stein in die Tiefe ziehen wird, wenn du ihn dann noch in der Tasche trägst. Nimm dies als Warnung.«

    »Und dich zieht er natürlich nicht in die Tiefe«, spottete Reik, »du kannst ja auch Autos hypnotisieren. Ich finde so was blöd. In Ordnung, mit Janas Logik ist es nicht weit her, aber sie so zu verspotten... Ich bin ziemlich froh, dass ich diese Staubexpedition mitgemacht habe. Jetzt weiß ich wenigstens, wie du auch sein kannst.« Er ließ Anja stehen und lief los. Schnell holte er die anderen ein, ging an Frau Seiffert vorbei und gehörte, als sie bei den Stahlseilen angekommen waren, zur Spitzengruppe.

    Der Pfad war jetzt eingeklemmt zwischen einigen Blöcken und dem Seil. Mindestens hundert Meter unter ihnen wanden sich winzige Schienenstränge durch die Tiefe der Schlucht. Einige Loren und ein hölzerner Schuppen waren zu sehen. Zwei mächtige Bagger stützten sich auf ihre stählernen Fäuste, und dazwischen stand klein und verloren jener beschirmte Mann aus der Straßenbahn. Er hob die Hand gegen die Sonne und blickte hoch. Berksassen stand mit dem Rücken zum Seil und gab acht, dass die Kinder unbeschadet ihren Weg fortsetzen konnten. »Vorsicht«, mahnte er, »geht vorsichtig. Immer einzeln, Freunde. Immer einzeln.«

    Als Reik sich dem Seil näherte, dachte er voll Ingrimm an das, was Anja gesagt hatte. Sie hatte ihm gedroht. Sie war egoistisch.

    Reik erreichte den Abgrund und fühlte in dem Augenblick, wie sich eine Kalksteinplatte unter seinem Fuß löste. Es zog ihn gegen das Seil.

    Berksassen fasste den wegrutschenden Reik und stellte ihn mit einem harten Griff auf die Füße. Reik sah den Wissenschaftler groß an. In der Tiefe schlug die Platte auf. »Schon in Ordnung«, sagte der Paläontologe, »nichts passiert. Gar nichts.«

    Niemand, nicht einmal Frau Seiffert, hatte die Szene registriert. Es war alles so schnell gegangen.

    Es war fast Mittag, als die Gruppe die S-Bahn verließ. Einige hatten Muscheln und Schnecken gefunden, und Berksassen hatte ihnen für den Biologieunterricht einen Trilobiten und einen Ammoniten mitgegeben. Die würden einen Ehrenplatz bekommen.

    »Tust du mir einen Gefallen«, bat Frau Seiffert zum Abschluss Reik, »du kannst doch schnell mal an der Schule vorbeigehen und diesen Schlüssel abliefern. Dann kann ich mit der nächsten Bahn nach Hause fahren.«

    »In Ordnung«, sagte Reik nur und steckte den Schlüssel ein. Er verließ als letzter den Bahnhof. Er blinzelte in die Sonne. Nachdenklich musterte er die Büsche, die den Weg vom Bahnhof bis zu den Neubaublöcken säumten.

    Jeder hat mal seinen miesen Tag, sagte sich Reik und dachte an Anja: »Aber sie hat doch braune Augen.« Er sah sie vor sich, wie sie in die Schule kam. Immer trug sie die langen schwarzen Haare offen, machte nicht all die müden Moden der anderen mit. Sie hatte Geschmack und einen tollen Gerechtigkeitssinn.

    Rüdersdorf schien plötzlich endlos weit weg zu sein, und wäre nicht die Kühle des Steines in seiner Tasche, Reik hätte gemeint, dass das alles nie stattgefunden hatte.

    Reik durchquerte die kleine Gartenanlage und war plötzlich überzeugt, dass Anja am Nachmittag zu ihm kommen würde. Er bog in die Amselstraße ein, wo grau und mächtig das große Schulgebäude stand.

    Es war still in der Schule. Der feine Kies knirschte unter Reiks Schritten, und in einigen Fenstern spiegelte sich die Sonne.

    In der schattigen Vorhalle des Schulgebäudes traf er auf den Stellvertretenden Direktor. Herr Gerstfeld beeindruckte alle. Er war über zwei Meter groß, breitschultrig und wirkte wie ein gut durchtrainierter Sportler. Seine Nase war breit, die Augen waren hinter einer dicken Brille versteckt und die sandfarbenen Haare glatt nach hinten gekämmt.

    »Guten Tag, Herr Gerstfeld«, sagte Reik, »ich sollte nur einen Schlüssel abgeben.«

    Herr Gerstfeld machte eine einladende Handbewegung, und sie gingen, den eigenen hallenden Schritten lauschend, in das Lehrerzimmer.

    Reik zog den Schlüssel aus der Tasche und legte ihn auf einen Tisch. »Ich muss gehen«, sagte er, durch Gerstfelds Schweigen beunruhigt, »in Rüdersdorf war alles in Ordnung.«

    »Wenn du jetzt losrennst«, warnte Herr Gerstfeld, »fangen sie dich ab und haben dich. Darauf warten sie nur.« Nach diesen rätselhaften Worten durchquerte er das Lehrerzimmer und stellte sich ans Fenster. Er beobachtete den leeren Hof. »Was wirst du tun?«, wollte er wissen, und seine dunkle, dröhnende Stimme zerschnitt die Stille. »Wirst du ihr tatsächlich den Rattenkopf geben? Wie willst du dich ihr widersetzen? Das hältst du nicht durch. Sie wird ihn sich einfach holen. Du kommst nicht gegen sie an. Was dann geschieht, wenn sie ihn hat, kannst du dir nicht vorstellen. Nicht in deinen schrecklichsten Träumen. Du darfst ihn nie hergeben!«

    »Ich...«, begann Reik verwundert und brach sofort wieder ab. Er begriff gar nichts mehr. Woher wusste Gerstfeld von dem Stein? Und was hatte es mit diesem auf sich? Reik fasste in die Tasche, wollte den verfluchten Rattenkopf herausholen und auf den Tisch knallen. Und dann würde er loslaufen. Doch wieder schlug ihm eine Hitzewelle entgegen, sodass er die Hand eilig zurückzog.

    »Na, was ist denn?« Herr Gerstfeld lachte. »Ich denke, du willst ihn loswerden? Es gefällt ihm wohl bei dir?« Der Stellvertretende Direktor schien sich an etwas zu erinnern. »Ach ja«, sagte er, »siehst du, das hätte ich fast vergessen. Frau Winterlicht rief heute Morgen an: Ihre Tochter hat Fieber und wird also erst am Montag wieder zur Schule kommen.«

    »Aber«, entgegnete Reik erschrocken, »sie war doch in Rüders... ich meine, ich habe doch mit ihr... Können Sie mir das nicht erklären, damit ich es auch verstehe?«

    »Ja, ja«, sagte Herr Gerstfeld, »verstehen... Du wirst es.« Er wandte sich dem Jungen zu, musterte ihn freundlich durch seine dicken Brillengläser. »Fall aber nicht gleich um«, fuhr er fort, »du musst dich noch ein Weilchen gedulden. Doch du wirst alles erfahren. Alles.«

    »Und wie kann sich Anja den Rattenkopf holen«, fragte Reik mutiger als zuvor, »wenn sie im Bett liegt und Fieber hat?«

    »Das ist es doch«, erklärte Herr Gerstfeld, »eben, weil Anja krank ist, wird sie, die andere, sich den Stein holen. Aber das ist wie bei höherer Mathematik. Man versteht sie nicht, wenn man nicht das kleine Einmaleins weiß. Und du musst sogar noch lernen, was eins plus eins ist. Ich will dir nur soviel sagen: Sie haben sich verrechnet. Weil sie ohne Hoffnung und Zukunft, ohne Liebe und Freundschaft leben, können sie nicht wissen, wie freundliche Gedanken und Zuneigung wirken. Sie sind umgeben von kaltem Licht und sprödem Glas. Und sie wähnen sich allmächtig. Ja... Und plötzlich versagt ihre Kunst, denn der Rattenkopf findet dich sympathisch. Er möchte bei dir bleiben. Und wir wollen das auch. Und das kann eine glückliche Wendung für euch und ein schlimmes Unheil für sie sein. Versuche das zu verstehen; mehr darf ich dir nicht sagen, selbst wenn ich wollte.« Er drehte sich wieder weg, beobachtete weiter den Schulhof. »Na bitte«, sagte er unerwartet, »etwas anderes blieb ihnen nicht.«

    Reik durchquerte den Raum, stellte sich neben Herrn Gerstfeld ans Fenster. Er betrachtete ebenfalls das große Schultor, ohne dass er jedoch etwas Ungewöhnliches entdecken konnte. Die Sekunden verstrichen, wurden zu Minuten. Da hörte Reik einen nadelfeinen Ton, der allmählich anschwoll und zu einer gellenden Sirene wurde. Noch nie hatte er eine solche Sirene gehört. Vielleicht ein Krankenwagen, dachte er.

    Da dröhnte auch schon ein Automotor, und Räder quietschten. Ein Fahrzeug kam durch den Torbogen, stellte sich quer. Die vier Türen des Funkstreifenwagens flogen auf, und fünf Polizisten sprangen heraus. Und ihnen folgte Anja Winterlicht.

    Obwohl das alles in Sekunden geschah, gewahrte Reik, dass dieses Auto größer war als ein normaler Funkstreifenwagen. Zudem waren die Farben grell und spiegelten die Sonne hart wider. Die eingeschalteten Scheinwerfer durchdrangen wie Geisterfinger sogar das Mittagslicht der Sonne und blieben starr auf die Fenster des Lehrerzimmers gerichtet.

    Anja hob die Rechte und deutete auf das Lehrerzimmer.

    »Aber...«, stieß Reik hilflos hervor.

    »Später«, raunte ihm Herr Gerstfeld zu.

    Reik fühlte sich hochgehoben. Wie Schemen glitten die Tische des Lehrerzimmers vorüber. Kaum aber, dass Gerstfeld und Reik den langen Korridor erreichten, öffnete sich ein Fenster. Und dann standen sie auch schon inmitten der Pflanzen, die hinter der Schule wuchsen. Herr Gerstfeld ließ Reik nicht los. Sie liefen durch die Kleingartensiedlung und waren einen Augenblick später in der Pirolstraße.

    Als Herr Gerstfeld Reik freigab, standen sie auf dem Gelände der Kinderkrippe. Schaukeln, Rutschbahnen und hölzerne Elefanten umgaben sie, eine kleine Eisenbahn war da, und ein Schaukelgerüst reckte sich vor ihnen auf. Dahinter lag das gelbe, einstöckige Gebäude.

    Herr Gerstfeld ging darauf zu, und Reik folgte ihm benommen. Der Stellvertretende Direktor machte entschlossen die Tür auf.

    Es roch nach Pudding und nach Kindern. Irgendwo klapperten Kochtopfdeckel, und jemand sang ein Lied dabei. Im Korridor hingen farbige Märchenfiguren an den Wänden. Alles war klein, die Stühle und die Tische. Es gab Blumenvasen mit Margeriten.

    Reik blieb stehen, sah sich staunend um.

    »Schlaf nicht ein«, flüsterte Herr Gerstfeld, »das wollen sie doch nur.« Er ging voran und verharrte schließlich vor einer Tür, auf der Betten abgebildet waren. Lautlos öffnete er. Sie waren im Schlafraum der Kinder.

    Die Kleinen lagen auf den Betten, die reihenweise aufgestellt waren. Einige hatten die Köpfe gereckt. Stupsnasen, die in die Luft ragten. Gerötete Schlafwangen. Halboffene Münder. Lächeln im Schlaf.

    Herr Gerstfeld zog Reik mit sich, und sie verbargen sich hinter einigen Rankenpflanzen.

    Was bedeutet das, fragte sich Reik, seit wann bin ich auf der Flucht vor der Polizei...?

    Weiter kam Reik nicht in seinen Gedanken, denn in dem Augenblick tauchte einer der Bewaffneten vor der Glastür, die den Raum vom Garten trennte, auf.

    Das war kein Polizist. Glashelle, völlig farblose Augen starrten suchend in alle Richtungen. Das marmorweiße Gesicht lag im Schatten der Mütze, und der Mund war zu einem Lächeln gefroren, das fern jedem Mitleid war. Die Uniform, die Reik am Anfang grün erschienen war, schimmerte wie getriebenes Metall, das alle Farben annehmen konnte. Die Waffe war gläsern durchscheinend, und nur ihre Spitze funkelte blutrot.

    Der Verfolger stierte in den Schlafraum und wischte sich immer wieder über die Augen. Schließlich stolperte er, wobei er mit einem Erstickungsanfall zu kämpfen hatte, rücklings die zwei flachen Stufen hinunter und rannte entsetzt fort.

    Reik zitterte am ganzen Körper.

    »Still«, sagte Herr Gerstfeld leise, »es ist alles in Ordnung. Gegen den gewaltigen Strom der freundlichen Kinderträume sind sie machtlos. Sie vergehen hier. Du hast es gesehen. Der wäre fast erstickt, als er hineinsah. Aber wir müssen weiter, denn bald werden die Kinder geweckt, und es gäbe ein heilloses Durcheinander, wenn man uns hier findet. Komm...«

    Welch ein Weg! Obwohl sie durch Straßen liefen, die Reik kannte, konnte er sich hinterher an nichts mehr erinnern. Bäume, Häuser und Kreuzungen tauchten auf und verschwanden. Sie durchmaßen breite Alleen und schmale Gassen. Und irgendwann saßen sie in der S-Bahn zwischen Menschen, die aus dem Fenster sahen oder Zeitung lasen, Rätsel lösten oder sich unterhielten. Und keiner von denen ahnte etwas von dem seltsamen Rattenkopf in Reiks Tasche.

    In Königs Wusterhausen stiegen sie zusammen mit den anderen aus der Bahn, wurden vom Menschenstrom durch den Tunnel getragen und tauchten auf der anderen Seite wieder auf. Sie verließen den Bahnhof.

    Reik bekam Hunger. Er dachte an seine Mutter, die mit dem Essen wartete und sicher wieder und wieder auf die Uhr schaute. Und als sie an einer Bäckerei vorbeikamen, blieb er einfach stehen.

    »Ich glaube nicht«, sagte Herr Gerstfeld, »dass du tatsächlich Hunger hast. Das ist ihr Werk, um uns aufzuhalten.«

    Sie kamen an einem Flüsschen vorbei, bogen links um die Ecke und sahen vor sich das gelbe Schild der 179. Also hatten sie eine Fernverkehrsstraße erreicht. Neben ihnen quietschte eine Autobremse, und der Fahrer stieß die Tür des Fonds auf.

    Herr Gerstfeld schob Reik ins Innere des Wagens und folgte ihm dann. Die Tür schlug zu, und sie fuhren los. Der Fahrer blickte Herrn Gerstfeld an. Er war unbestimmten Alters, trug eine Schirmmütze, eine Sonnenbrille und einen Schnauzbart.

    Sie fuhren nun schon so schnell, dass die anderen Fahrzeuge nichts als zuckende Schatten waren. Bäume, Häuser, Zäune und Menschen verwoben sich zu einer dunklen, vielschichtigen Kulisse ohne Konturen. Selbst das Licht war anders, schien gelblicher oder gar etwas rötlich.

    Reik verlor jedes Zeitgefühl. Vielleicht waren sie nur zehn Minuten gefahren, oder sie waren schon wochenlang unterwegs, als der Fahrer hart bremste. Es zog Reik nach vorn, und er schnappte nach Luft. Der Wagen bog in eine Nebenstraße. Auf der einen Seite war ein schmaler Grünstreifen mit Birken, dann etwas Sand und ein langer, leicht gekrümmter See, auf der anderen Seite standen kleine Einfamilienhäuser.

    Herr Gerstfeld saß schweigend neben dem Fahrer und blickte wachsam nach vorn.

    Der See entschwand ihren Blicken, ein Eisladen mit einigen Tischen und Gartenstühlen im Freien tauchte auf. Die Straße wurde holprig, das Auto sprang wie ein Känguru zwischen dörflichen Häusern und prunkenden Gärten immer weiter. Die Häuserzeile riss jäh ab, das Fahrzeug glitt einen Sandweg hinauf und jagte jetzt an Feldern und Wäldern vorbei.

    »Argarro dero?« Die Frage des Fahrers klang metallisch hell.

    »Dero, dero – vartian«, antwortete Herr Gerstfeld.

    Die Bäume rückten zusammen, der Weg wurde schmal. Es ging bergauf und bergab. Sie fuhren nun langsamer, und das Knistern der vorjährigen Farne und Gräser drang zu ihnen herein.

    Sie hielten an.

    »Salvaston dero«, sagte der Fahrer, verneigte sich sitzend vor Herrn Gerstfeld und Reik.

    Die Türen öffneten sich, und Reik verließ das unheimliche Gefährt.

    Als er draußen das erste Mal tief durchatmete, als er den herben Duft des Waldes und der Erde einsog, stand Herr Gerstfeld schon neben ihm, die Türen des Autos schlossen sich wieder, und wie ein Schatten verschwand es zwischen den Stämmen der Bäume.

    Sie gingen los und liefen durch Kuscheln. Dann riss die Fläche ab. Sie standen vor einer verlassenen Kiesgrube, auf deren Grund zwei große Teiche schimmerten.

    »Hier sollten wir einen Wandertag machen«, sagte Reik und betrachtete andächtig die malerische Landschaft.

    »Wir müssen hinunter«, wies Herr Gerstfeld nur an, und sie rutschten über den Kies, glitten durch Grasnarben und standen schließlich in der Talsohle der Grube. Aus dieser Perspektive wirkte alles noch wilder und fremdartiger.

    Frösche quarrten in den Teichen, rundum wuchsen harte Stauden und schneidend scharfe Gräser. Schwarzbraun lagen einige vergessene Holzschwellen im überwachsenen Sand. Schilf und Seggen umstanden den Teich, in dem ganze Wälder dunkler Wasserpflanzen wuchsen, während einige Seerosen auf ihm trieben.

    »Es dauert nur etwas länger«, erklärte Herr Gerstfeld, »aber die verlieren nicht unsere Spur. Setz dich hin und ruh dich aus!«

    Reik ließ sich in den heißen Sand fallen. Der Hunger war fort. Dafür quälte ihn jetzt Durst.

    »Kann ich ihn nicht einfach wegwerfen«, schimpfte Reik und deutete auf seine Tasche, »da, in den Teich. Oder ich zertrümmere ihn.«

    »Man kann ihn nicht wegwerfen«, Herr Gerstfeld beobachtete scharf den Himmel, während er sprach, »und wenn du es doch tust, dann verbrennt er dich. Dann kommen sie und holen ihn sich. Sie finden ihn, wo er auch steckt.«

    »Meine Mutter wartet auf mich«, gab Reik zu bedenken, »sie wird sich Sorgen machen.«

    »Das hast du schon zweimal gesagt«, erwiderte Herr Gerstfeld, »ich weiß es. Das hier, das geht euch alle an. Eine große Aufgabe.«

    »Ach so«, Reik wurde zornig, »eine große Aufgabe. Wissen Sie, was Sie uns immer gelehrt haben? Wer eine große Aufgabe erfüllen will, kann es tun. Jeden Tag. Er braucht nur seinen kleinen Pflichten ordentlich nachzukommen. Und mit einem Mal soll es unwichtig sein, ob sich meine Mutter Sorgen macht und ich nach Hause muss? Plötzlich gibt es etwas, von dem ich nicht einmal erfahren darf, was es überhaupt ist.«

    Herr Gerstfeld lächelte nachsichtig. »Präzise«, stimmte er zu, »du hast aus deiner Sicht völlig recht. Aber ich bitte dich um etwas Geduld. Und nun steh auf! Wir folgen unserem Weg.«

    Als sich Reik erhob, fühlte er sich erfrischt. Sogar der Durst war weg. Als er kräftig ausschreiten wollte, durchzuckte die Luft ein schriller, schmerzender Ton.

    »Sie haben unsere Spur«, stieß Herr Gerstfeld hervor, »sie dürfen uns auf keinen Fall hier festhalten...« Er zeigte auf den sumpfigen Rand des Teiches und schaute sich suchend um. »Da«, fuhr er fort und deutete zum Himmel, »sie haben es genau berechnet. Deshalb taten sie so, als hätten sie unsere Spur verloren. Sie haben uns bis hierher kommen lassen.«

    Zunächst entdeckte Reik nichts, doch dann gewahrte er einen schwarzen Punkt. Es schien ein Hubschrauber zu sein, der sich ihnen näherte. Doch je näher das Luftfahrzeug kam, desto unheimlicher wirkte es. Es hatte weder Propeller, noch Düsen- oder Raketenantrieb.

    »Nimm den Kopf aus der Tasche«, wies Gerstfeld an, »schnell.« Vorsichtig fasste Reik in die Tasche. Der Stein blieb kühl, glitt wie von allein in die Hand, und es war dem Jungen, als verwüchse seine Haut mit den unbekannten Mineralien.

    Der Steinerne Kopf schimmerte jetzt in allen Farben des Regenbogens und sah überraschend gläsern aus. Es war der Kopf eines Tieres, das Reik unbekannt war. Zwei Rubine bildeten die Augen, und in dem Maul steckten winzige, tropfenförmige Zähne aus Malachit.

    »Richte den Kopf gegen das Luftfahrzeug«, befahl Gerstfeld, »wenn ich das Kommando gebe. Zögere nicht und traue nicht deinem Gefühl. Es könnte dir sagen, dass dein Arm leblos und unbeweglich ist. So etwas tun sie.«

    Reik nickte wortlos. Er fasste den Steinernen Kopf mit beiden Händen und verfolgte mit den Augen jenes Gefährt, das sich ihnen näherte. Ein feines, gleichmäßiges Sirren lag in der Luft. Düsterrote Scheinwerferfinger tasteten den Boden ab. Zwei mächtige grünschimmernde Gläser, hinter denen anscheinend die Flugkanzeln lagen, waren wie Reptilienaugen auf alles gerichtet, was die Scheinwerfer berührten.

    »Sie kommen mit Chooroon, dem Letzten Fahrzeug aus dem diamantenen Hangar«, flüsterte Gerstfeld heiser, »sie können mit der Zeit um die Wette fliegen und sogar Gedanken überholen. Und an Bord haben sie die Maschine Norrh. Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich. Es gibt nicht ein Lebewesen auf tausend belebten Planeten, von dem sie nicht wüsste, wann es was tun wird. Und sie haben den Lenker des Letzten Fahrzeugs, Cerberon den Hellen. Wenn du gute Augen hast, dann siehst du gleich hinter ihm Anja Winterlicht stehen. Sie ist in eine Rüstung aus Plutonitan gehüllt und hält die Waffe in der Hand, die deine Gedanken verwirren soll, die ein Fieber in dir erzeugen wird. Und du wirst hassen, was du lieben müsstest, und du wirst lieben, was dich zerstört. Vergiss das nie!«

    Und dann war Chooroon dicht vor ihnen. Auch das Innere wurde sichtbar. Ein phantastischer Anblick bot sich dem Jungen.

    Im selben Augenblick entrang sich Reik ein gurgelnder Schrei. Etwas Brennendes fuhr ihm in die Gedanken. Dort oben, über ihm in der Luft stand Anja Winterlicht, und sie sah schöner aus als jedes andere Mädchen. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, und ihre Augen blickten unsagbar traurig drein.

    Da fühlte Reik, dass es nur einen gab, der verhindern wollte, dass er Anja haben konnte, und dieser eine hieß Gerstfeld. Gerstfeld mit den Froschaugen und den dicken Brillengläsern. Und er wusste auch, dass er nur den Rattenkopf fortschleudern musste, um glücklich zu sein.

    »Den Steinernen Kopf hoch!«, klang es aus endloser Ferne.

    Es war, wie Reik es wusste, irgendwoher wusste: Die Arme waren bleischwer, er konnte sie nicht heben. Und er wollte sie nicht heben. Es ging um Anja und ihn... Und doch hoben sich seine Arme mehr und mehr, und schließlich zeigte die Schnauze des Tierkopfes auf Chooroon. Dunkelheit erfüllte die Welt. Und diese Finsternis trug ihn wie der Herbstwind das Blatt. An Reiks Seite aber schwebte Gerstfeld.

    »Nun hast du ein wenig von der Wirkung ihrer Waffen erlebt«, weich und freundlich klangen die Worte des großen Mannes, »und vielleicht ahnst du jetzt, wie wichtig es ist, dass sie den Steinernen Kopf nie bekommen. Denn er kann diese Wirkung vervielfachen.«

    Reik stöhnte nur, noch immer schmerzte ihm der Kopf, suchten ihn verwirrende Bilder heim, auch wenn sie zusehends schwächer wurden.

    »Wir haben ein wenig Zeit«, fuhr Gerstfeld fort, »und deshalb will ich dich beruhigen, was deine Mutter betrifft.« Er zog ein Plättchen aus der Tasche, das dem glich, welches Anja in Rüdersdorf benutzt hatte. Gerstfeld hielt es so, dass Reik hineinsehen konnte. Aus einem vielfarbigen Liniengewirr kristallisierten sich Dinge heraus. Zuerst ein Kalender mit dem heutigen Datum. Reik erkannte ihn sofort: Es war sein Kalender. Er hatte ihn sich selbst angefertigt. Dann sah er seine Flugmodelle, die begonnene Eisenbahnanlage und auf seinem Tisch die Teile, die er heute hatte zusammenlöten wollen. Eine Hand kam ins Bild, nahm ein Teil. Der Junge aber, zu dem die Hand gehörte, war – Reik. Reik erblickte sich selbst, wie er am Tisch saß und zwei Teile zusammenfügte. Und dann sah er in der Tür seine Mutter stehen. »Möchtest du noch etwas essen?«, fragte die Mutter.

    »Nein«, antwortete Reik, »ich bin satt. Ich setze noch schnell diese Teile zusammen, und dann hole ich die Wäsche ab.«

    »Aber...«, Reik wandte den Kopf, suchte Gerstfelds Augen, »das geht doch nicht...«

    »Nein«, entgegnete Gerstfeld, »du bist das nicht. Das ist dein Ersatz. Verstehst du? Solange du in Sachen Steinerner Kopf unterwegs bist, ist der für dich da. Ein ausgezeichneter Schüler. Nur Einsen bringt er nach Hause. Er hilft immer und überall. Wäscht, trocknet ab, holt die Wäsche, kauft ein. Schleppt im Winter Kohlen und bringt die Asche runter. Er ist höflich, ohne zu duckmäusern. Man muss ihn nie bitten oder drängen. Er fühlt sich auch nicht als der Größte. Es ist ihm nicht gegeben, zu spotten oder zu lästern. Zufrieden?«

    »He«, Reik kratzte sich den Kopf, »gegen den habe ich überhaupt keine Chance. Wenn ich zurückkomme, werden ihn meine Eltern nur ungern wieder gegen mich eintauschen wollen.«

    »Nein«, Gerstfeld lachte, »das glaube ich nicht. Sie werden, ohne dass sie es je begreifen, froh sein, dass du wieder da bist. Denn dem da fehlt etwas, was nur du hast.«

    »Und was ist das?«

    »Es ist einfach das, was dich ausmacht.«

    »Werde ich sehr lange weg sein?«, fragte Reik.

    »Was ist lange, was ist kurz?« Gerstfeld hob die Schultern. »Es hat hunderttausend Jahre gedauert, ehe der Steinerne Kopf vollendet war, und Millisekunden genügen, ihn in der Wut der Explosion zu vernichten. Menschen werden geboren und sterben, ehe eine Stadt gewachsen ist, und viele Städte blühen auf und welken, ehe ein Gebirge nur zwanzig Meter niedriger geworden ist. Lang und kurz sind keine Begriffe, die uns jetzt beschäftigen sollten. Frage etwas anderes!«

    »Sie sagten, dieser Ersatz von mir, der wird immer höflich sein – sicher auch zu Anja Winterlicht. Aber wie kann er das, wenn sie in diesem Letzten Fahrzeug sitzt?«

    »Du hast nicht aufgepasst«, Gerstfeld lächelte, »ich sagte, dass Anjas Mutter angerufen hat, um ihre Tochter zu entschuldigen. Sie liegt fiebernd im Bett.«

    »Ich habe es mir gemerkt«, Reik sprach hastig, »sehr gut sogar. Aber das ist verwirrend. In meiner Klasse sind eine echte Anja und ein falscher Reik, und hier bin ich, der wirkliche Reik, und ist eine unechte Anja. Wer ist das überhaupt, diese verkleidete Anja?«

    »Sie ist die Herrin von Zitadorra, einem bösen Ort«, Gerstfeld presste die Lippen zusammen. »Aber das sagt dir noch nichts«, fuhr er dann fort, »und vielleicht wird es dir nie etwas sagen. Denn wir wissen nicht, wie sich alles entwickelt. Doch wenn du ihr gegenübertreten musst, dann sei auf der Hut. Fürchte sie.«

    »Ich will es mir merken«, erklärte Reik, »nur noch eine letzte Frage: Wer sind Sie? Ich weiß, dass auch Sie nicht Herr Gerstfeld sind.«

    Das Gesicht des wuchtigen Mannes wurde einen Augenblick lang glatt und starr. Die grauen Augen erinnerten an eingefärbtes Glas. Doch dann kehrte das Leben in sie zurück. Er lächelte weich. »Ja, ja«, sagte er in der Art von Herrn Gerstfeld, »das stimmt. Und der Tag ist nicht fern, da wirst du wissen, wer ich bin. Aber die ASGEDAN-Runde hat beschlossen, dass ich noch in dieser Gestalt bleiben soll. Sage also ruhig Herr Gerstfeld zu mir. Und du bist der Schüler Reik. Vorerst noch. Doch nun pass auf, wir sind gleich da.«

    Schmale Lichtkorridore schoben sich aus der Finsternis. Aus dem Schweben wurde ein kurzer Fall. Wasser spritzte auf. Reik sprang, als er die Nässe um sich fühlte, steil in die Höhe, schüttelte die Tropfen ab.

    Gerstfeld stand nicht weit von ihm. »Dies«, er machte eine weitausholende Handbewegung, »ist das Reich Seiner Majestät Strepton Pyrogenum von der Pestard und seiner Frau, der Königin Lyssa Albina. Hier ist die Pforte, die man überwinden muss, wenn man diesen Weg geht.«

    Zweites Kapitel: Der fiebrige König lässt bitten

    Die endlose Weite der Landschaft, die sich flach wie ein Tablett um sie erstreckte, beunruhigte Reik. Die Sonne schien kraftlos durch eine fahle Wolkendecke, und eine dünne Nebelschicht stieg auf, erinnerte an schmutzigen Schnee, der jedes Leben erstickt. Fast schwarz standen in unregelmäßigen Abständen bizarre Bäume, die ihre kahlen, spitzen Äste wie fleischlose Hände in den milchigen Himmel krallten. Kleine weißlich-gelbe Pflanzen ragten aus den Wassern, die den größten Teil der Ebene bedeckten, und bildeten stellenweise fahle Teppiche. Das einzige Geräusch, das es hier gab, war das unregelmäßige Tröpfeln herabfallenden Wassers. Kein Vogellaut, kein Insektengesumm durchbrachen die unheilvolle Stille. In der Ferne gab es zwei Waldsäume. Es mochten Nadelbäume sein; das fast schwarze Grün reichte auf den Boden herab und ließ keine Stämme erkennen. Irgendwo sprang ein Tier aus dem Wasser, fiel aufklatschend zurück.

    Gerstfeld zog das Plättchen aus der Tasche und ließ Reik hindurchschauen. Reik sah jetzt die Wälder ganz nahe. Es waren Bäume, die auf ihren Wurzeln wie auf Stelzen standen. Blätter besaßen sie nicht. Nur nasse, grünliche Algenbehänge, von denen es herabtropfte.

    »Und wir müssen bis da hin?« Zweifel flackerten in Reiks Augen.

    »Noch viel weiter«, antwortete Gerstfeld.

    Sie gingen los. Das Wasser platschte unter ihren Füßen. Gleichgültig blickte Reik auf Gerstfelds breiten Rücken, der sich vor ihm ruhig bewegte. Das war das einzige Zeichen dafür, dass sie überhaupt vorankamen. Und dann die Kreise auf dem Wasser. Bei jedem Schritt entstanden sie, breiteten sich aus, schnitten einander, wurden ungleichmäßig, liefen weiter nach außen, verschwanden irgendwo. Aber schon waren die nächsten Ringe da, und das Spiel begann von vorn.

    »Gehen wir überhaupt?«, murmelte Reik nach einer Weile müde und ausgelaugt.

    »Ich muss so gehen, wie du es vorgibst«, sagte Gerstfeld sanft, »denn mein Auftrag ist, so lange wie möglich an deiner Seite zu bleiben.

    Wenn du auf der Stelle trittst, mache ich das auch. Kommst du voran, komme ich ebenfalls vorwärts, und legst du dich nieder, weil das Land stärker ist als du, dann lege ich mich neben dich hin.«

    »Aber Sie sind doch vorn«, widersprach Reik, »wie kann ich da das Tempo bestimmen?«

    »Du tust es trotzdem«, erläuterte Gerstfeld, »denn dieses Land der Grauen Bilder ist deine Prüfung. Aber eins musst du wissen: Gibst du auf, dann wird die Paradestraße Seiner Majestät vierzig Zentimeter länger, sein Thron wird höher werden, und das Tränenfließ wird heftiger als vorher rauschen und brausen... Und Seine Majestät wird den Steinernen Kopf gegen einige zehntausend Unglückliche bei ihnen eintauschen. Bedenk es.«

    Neben ihnen gurgelte es in einer Lache, und ein grauer, nackthäutiger Kopf, augenlos und doch ihre Bewegungen wahrnehmend, hob sich aus den Fluten. Ein offenes, zahnloses Maul reckte sich ihnen hungrig entgegen, bewegte sich hin und her, suchte etwas.

    »Moraxon«, sagte Gerstfeld und zog Reik mit einem heftigen Ruck aus dem Umkreis des tastenden Mauls, »man nennt es das Glatthäutige.«

    Reik sah das Wesen gebannt an. Es watschelte auf flossenartigen Beinen aus der Lache, schob den unförmigen, qualligen Körper zwischen die niedrigen Pflanzen und tastete ununterbrochen nach der Beute, von der es wusste. Gleich darauf wandte es sich ab, stürzte sich zurück ins Wasser, das hoch aufspritzte. Es tauchte in dämmrige Tiefen hinab.

    Noch immer stand Reik unbeweglich. »Ich will zurück«, sagte er leise, »schnell zurück!«

    »Dreh dich um«, forderte Gerstfeld den Jungen auf, »sieh, wohin wir dann kommen.«

    Reik folgte der Aufforderung. War die Landschaft vor ihnen trostlos und verloren, so schien sie hinter ihnen noch schrecklicher. Da war nichts. Kein toter Baum, kein Algenwald, nicht eine Pflanze.

    Grau und aufgeweicht war der Boden, kraterzerrissen und von schwefligen Nebelschwaden durchsetzt. Das Land schien sich zu neigen, endlich in einer nachtschwarzen Tiefe selbst zu Nebel zu werden.

    »Nun, willst du dorthin?«

    »Der Rattenkopf«, flüsterte Reik tonlos, »er soll uns wegbringen. Warum kann er das nicht?«

    »Es geht nicht«, antwortete Gerstfeld, »es geht nicht. Wir müssen durchkommen, oder...« Er blickte Reik besorgt an, dann aber nickte er ihm aufmunternd zu.

    Doch Reik rührte sich nicht. Er betrachtete hilflos die Wasseroberfläche, die jenes blinde Tier barg. »Wir treten immer nur auf der Stelle«, stöhnte er. »Was soll das? Dann kann ich mich auch hinsetzen und warten.«

    In der Lache entstand eine unruhige Bewegung. Ein grünlicher Lichtschein schwebte aus der Tiefe herauf. In dem phosphoreszierenden Licht erschienen schlangenartige Tiere, weißlich wie riesige Fliegenmaden, bestachelt wie Raupen und über einen Meter lang. Sie kamen unglaublich schnell nach oben, ihre Tastrüssel wie eine Lanze nach vorn gerichtet. Springend verließen sie das Wasser, entfalteten lederhäutige Stummelflügel, erhoben sich ungelenk in die Luft und flogen im Zickzack hin und her, die Rüssel in alle Richtungen drehend und schlürfend Luft einsaugend.

    »Achtung«, warnte Gerstfeld, »fliegende Nacktegel.«

    Aber Reik starrte weiter auf das Wasser, denn der grünliche Schein wurde noch intensiver, und umgeben von flackerndem Licht, tauchten andere Wesen auf, die kleine stechende Augen und viele dünne Krallen hatten. Wie Schmetterlinge umtanzten sie jenes augenlose Tier, das wieder an die Oberfläche gekommen war.

    Reik begriff, dass die Grünlichtigen die Augen des Moraxons waren und dem Glatthäutigen zeigen konnten, wo sich die Beute befand. Und Reik erkannte, dass er und Gerstfeld das Ziel des Angriffs waren. Er schrie auf und stürzte davon, vorbei an Gerstfeld, der ihm dichtauf folgte.

    Reik stolperte, riss Wasserpflanzen ab und rannte platschend und taumelnd weiter. Der Bann war gebrochen.

    Während Reik keuchend weiterhastete, bemerkte er, wie sich die Position der Bäume veränderte. Jetzt trat er nicht mehr auf der Stelle, gewann Boden. Zugleich stellte er fest, dass der grünliche Schein sie immer noch umtanzte, dass die Wesen der Tiefe ihnen klatschend, schmatzend und knurrend folgten.

    »Endlich begreifst du«, rief Gerstfeld erleichtert, »dass man hier nicht ruhen und sich aufgeben darf. Wir werden es schaffen.«

    Das Wasser unter ihren Füßen wurde flacher und flacher. Sie liefen über trockenen, leicht federnden Sumpfboden. Der grüne Schimmer blieb zurück. Die Geräusche der Verfolger wurden leiser und verebbten schließlich. Stille umgab die beiden. Gerstfeld übernahm nun wieder die Führung, nickte Reik, als er ihn überholte, anerkennend zu.

    Reik sah sich um. Einer der Algenwälder war ihnen deutlich nähergekommen. »Wollen wir durch den Wald?«, fragte der Junge.

    »Auf keinen Fall«, antwortete Gerstfeld, ohne seinen Lauf zu unterbrechen, »wenn es sich vermeiden lässt. Man kann allzu leicht in das Endmoor geraten. Oder man begegnet Virulon und seinen Kriegern. Es ist schwer, ihn zu besiegen. Wir wollen nicht hindurch.«

    »Wir kommen ihm aber nahe«, flüsterte Reik, »wir sollten uns mehr links halten.«

    »Umgekehrt«, widersprach Gerstfeld, »er nähert sich uns. Es ist ein Wettlauf. Er will uns den Weg abschneiden und uns in den Gorgos treiben. Hier gibt es zwei Ströme: Gorgos und Hacos. Man kann sie nicht überwinden. Wir müssen laufen. So schnell du kannst.«

    Sie kamen immer schneller voran. Reik spürte neuen Mut und neue Kraft in sich. Hunger und Durst waren vergessen und seine Mutlosigkeit verweht. Er war überzeugt, dass sie den Wettlauf gewinnen würden. Plötzlich jedoch versank er bis an die Oberschenkel im weichen Boden. Wütend wollte sich Reik befreien. Das war nicht leicht. Der Untergrund hielt ihn fest. Nur langsam und mühevoll zog er erst ein Bein und dann das andere hervor. Schwarzbraune Erde bedeckte seine Hosen. Reik, in dem sicheren Gefühl, dass Gerstfeld neben ihm stand und ihm zusah, versuchte einige Pflanzen auszureißen, um sich damit zu säubern. Er zerrte an den weißlichen Stängeln, holte aber nur die weitverzweigten Wurzeln und Sprosse aus dem Sumpfboden. Dabei richteten sich die Pflanzen auf, überragten ihn. Und als sich Reik umwandte, stellte er verblüfft fest, dass ihn die Pflanzen wie ein weißlich-gelbes Gitter umgaben. Er wollte sie niederdrücken. Doch sie leisteten Widerstand. Reik versuchte über sie hinwegzuklettern. Dabei rutschte er immer wieder ab. Als Reik es mit einem Sprung versuchen wollte, hielt ihn der Sumpfboden fest, und er stürzte gegen die Pflanzenbarriere, die ihn aufnahm und sanft zurückdrückte, sodass er auf dem Rücken zu liegen kam. Angst beschlich ihn. Er spähte durch eine Ritze und sah, dass Gerstfeld kaum größer als ein Daumennagel schien und kleiner und kleiner wurde. Hatte er denn nicht bemerkt, dass Reik ihm nicht mehr folgte?

    Reik irrte im Kreis umher. Die Pflanzen hatten ihn gefangen. Und irgendwo in weiter Ferne schimmerte es grünlich, und erneut hörte er das Klatschen jenes blinden Wesens, das ihre Spur immer noch nicht aufgegeben hatte.

    Eine Bewegung schreckte Reik auf. Auf dem oberen Rand bewegte sich etwas. Reik blickte hoch und sah ein Tier, das ihn unverwandt anschaute. Es war halb so groß wie der Junge und besaß große, halbkugelige und gläsern wirkende Augen. Der Mund war weit vorgestülpt. Arme und Beine waren mager, schienen nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen, überzogen von einer faltigen und ledernen dunklen Haut. Die Finger und Zehen erinnerten an junge Schlangen, die in die verschiedensten Richtungen krochen. Der prallvolle Bauch hing ein wenig herab. Das Tier glänzte rostrot, und nur die Innenflächen seiner Hände und Füße und seine Lippen schimmerten blassblau.

    »Fifififi«, machte das Tier und bewegte seinen Kopf unruhig hin und her, »gefangen, du bist gefangen.«

    »Ich bin gefangen«, wiederholte Reik und sah sich vergeblich nach einer Waffe um.

    »Gerstfeld hört nicht«, fuhr es fort, »der ist weit weg. Aber die Nacktegel werden kommen und Moraxon. Auch die Astranos, die Irrlichter, und Nebulon, der Nebelhäutige. Surax, das watschelnde Moorschwein, und der Lachenfraß. Sie kommen immer, wenn es Beute gibt.«

    »Spotten kann ich auch«, erwiderte Reik, »aber helfen ist eine andere Sache.«

    »Achsoklein spottet nicht«, antwortete es und ließ die Arme herabhängen, »Achsoklein kann sogar helfen!«

    »Wie heißt du?« Reik musste lachen. »Achsoklein? Das ist doch kein Name, und so klein bist du auch wieder nicht.«

    Das Glasäuglein schien beleidigt. Es kehrte Reik den Rücken zu. »Als Achsoklein geboren wurde«, widersprach es Reik, »war es, ach, so klein. Und darum heißt es Achsoklein. Und es ist immer noch sehr klein.«

    »Also gut«, lenkte Reik ein, »du bist sehr klein. Hilfst du mir jetzt hier raus?«

    »Was gibst du mir dafür?«, fragte Achsoklein.

    »Was willst du haben?« Reik warf einen besorgten Blick über die Schulter, wo es bereits hörbar schnaufte, platschte, hastete und vorankeuchte. Die Verfolger schienen sich zu nähern, auch wenn sie noch nicht zu sehen waren.

    »Was hast du?«, fragte Achsoklein, blinzelte und legte den Kopf schief.

    »Ein Notizbuch«, zählte Reik auf, »einen Kugelschreiber und ein paar Buntstifte. Eine kleine Feuerwehr ohne Leiter. Etwas Kleingeld. Was noch...?« Er dachte nach.

    Achsoklein schüttelte traurig den Kopf. »Du hast nichts, was Achsoklein mag. Nichts. Schade.«

    »Dann sag doch wenigstens, was du willst«, bat Reik, denn die Geräusche wurden zunehmend lauter.

    »Du sollst mich in den Schlaf wiegen«, flüsterte Achsoklein verträumt und schlang seine langen, spinnenbeindünnen Arme um die eigenen Schultern, wiegte sich ein wenig hin und her, »und du sollst mir ein Lied singen und meine Träume beschützen. Willst du das?«

    »Von Wollen kann keine Rede sein«, antwortete Reik, »aber ich werde es tun, wenn du mich befreist.«

    »Abgemacht«, sagte Achsoklein. Und mit unerwartetem Eifer und mit Bewegungen, denen Reik nicht folgen konnte, entflocht das rostrote, glasäugige Wesen die Pflanzen und schaffte einen Durchgang für Reik.

    Der Junge zwängte sich stöhnend hindurch, stand endlich wieder auf festem Untergrund und lief in die Richtung, in der Gerstfeld verschwunden war.

    Das Glasäuglein hielt sich dicht bei Reik. »Er hat es geschafft«, piepste es in den höchsten Tönen, »er ist noch am Wald vorbeigekommen. Wir schaffen es nicht.«

    Reik sah, dass der Wald den gesamten Horizont verdeckte. Die hochaufragenden Wurzeln waren dunkel und glatt. Die Wassertropfen fielen mit solcher Heftigkeit von den Ästen herab, dass man meinen konnte, ein Regenguss ginge nieder. Die Algen glänzten schwarz, waren vielschichtig und ineinander verwoben. Der Wald verdeckte jetzt schon die Sonne, und ein düsterer Schatten legte sich über das Land, über Reik und Glasäuglein. Die beiden blieben stehen, versuchten mit ihren Blicken die Finsternis zu durchdringen, wagten kaum zu atmen. In dem Dämmer zuckten Augenpaare auf. Sie wurden beobachtet, angestarrt und gemustert.

    »Und das ohne Gerstfeld«, Reik stöhnte und sah Achsoklein in die gläsernen Augen. »Können wir nicht um den Wald herumlaufen?«

    »Dort ist das Endmoor«, jammerte das Kleine, »und auf der anderen Seite Gorgos. Surax und die anderen haben uns den Rückweg abgeschnitten... Wir müssen hindurch.«

    »Hier vorn«, Reik deutete auf einen der vielen Waldausläufer, »scheint er weniger dicht zu sein. Versuchen wir es.«

    Im Wald war es finster, uneben der Boden und glatt. Reik rutschte immer wieder aus, stürzte über Wurzeln und faulende Äste, verfing sich in den dichten Algenbärten und keuchte und schimpfte ununterbrochen. Achsoklein blieb dicht bei ihm und fiepte bei jedem unbekannten Geräusch angstvoll auf. Und es half Reik,

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