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TELEPATIS - GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 5
TELEPATIS - GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 5
TELEPATIS - GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 5
eBook745 Seiten10 Stunden

TELEPATIS - GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 5

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Über dieses E-Book

Günter Teske, 1933 in Berlin geboren, erlernte den Beruf eines Bautischlers. Von 1954 bis 1958 war er Mitglied der Straßenradsport-Nationalmannschaft der DDR. 1954 nahm er an der Weltmeisterschaft teil. Später arbeitete Günter Teske als freiberuflicher Sport-Journalist und ab 1967 als freischaffender Schriftsteller.

Telepatis enthält – erstmals zusammengefasst in einem Band – seine gesammelten Science-Fiction-Erzählungen: In mehreren dieser Erzählungen Teskes wird seine langjährige Erfahrung als Sportler und Sportreporter spürbar, etwa wenn er in der Erzählung Ein talentierter Mittelstürmer den menschlichen Ehrgeiz gewöhnlicher Fußballer auf einen Roboter in Menschengestalt stoßen lässt, der mit seinem hundertprozentig fairen Spiel alle Sportler zur Verzweiflung treibt, oder einen Betrugsversuch der besonderen Art schildert, wenn in Der Vierfache ein Eiskunstläufer aus dem Jahr 2190 in die Zeit zurückreist, um 1985 endlich einmal ein Championat zu gewinnen.

Telepatis von Günter Teske erscheint als Band 5 der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR im Apex-Verlag.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum24. Sept. 2019
ISBN9783748716211
TELEPATIS - GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN: Kosmologien - Science Fiction aus der DDR, Band 5

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    Buchvorschau

    TELEPATIS - GESAMMELTE ERZÄHLUNGEN - Günter Teske

    Das Buch

    Günter Teske, 1933 in Berlin geboren, erlernte den Beruf eines Bautischlers. Von 1954 bis 1958 war er Mitglied der Straßenradsport-Nationalmannschaft der DDR. 1954 nahm er an der Weltmeisterschaft teil. Später arbeitete Günter Teske als freiberuflicher Sport-Journalist und ab 1967 als freischaffender Schriftsteller.

    Telepatis enthält – erstmals zusammengefasst in einem Band – seine gesammelten Science-Fiction-Erzählungen: In mehreren dieser Erzählungen Teskes wird seine langjährige Erfahrung als Sportler und Sportreporter spürbar, etwa wenn er in der Erzählung Ein talentierter Mittelstürmer den menschlichen Ehrgeiz gewöhnlicher Fußballer auf einen Roboter in Menschengestalt stoßen lässt, der mit seinem hundertprozentig fairen Spiel alle Sportler zur Verzweiflung treibt, oder einen Betrugsversuch der besonderen Art schildert, wenn in Der Vierfache ein Eiskunstläufer aus dem Jahr 2190 in die Zeit zurückreist, um 1985 endlich einmal ein Championat zu gewinnen.

    Telepatis von Günter Teske erscheint als Band 5 der Reihe Kosmologien – Science Fiction aus der DDR im Apex-Verlag.

    Telepatis

    Der Mann, der von dem großen Plakat über dem Kinoeingang herablächelte, sah sympathisch aus. Henryk Belote blieb stehen und betrachtete sein eigenes Bild. Langes dichtes Haar umrahmte das schmale Gesicht, machte es weich und irgendwie verträumt. Jetzt trug man das Haar vorwiegend kurz geschnitten, das sah energischer aus. Die geschwungenen Lippen bekräftigten noch den Eindruck, dass es sich bei diesem Henryk Belote eher um einen Filmstar als um einen Raumfahrer handelte. Nur wer genau hinsah, entdeckte im Ausdruck seiner Augen und in den Linien, die sich um seine Mundwinkel zogen, jene Zeichen von Energie und Härte, die man von solch einem Mann erwartete.

    Henryk Belotes Porträt schwebte über der Felsenlandschaft eines toten Planeten, und unten, in gezackten Buchstaben über den zerklüfteten Boden gemalt, stand der Titel des Films: Abenteuer Phoebe. Und dann, darunter und etwas kleiner: Mit Raumschiffpilot Henryk Belote. Zwei Filmleute hatten die Expedition zur Phoebe begleitet, zum kleinsten und interessantesten Mond des Saturns, der den Riesenplaneten im Gegensatz zu den anderen Satelliten in entgegengesetzter Richtung umkreist. Natürlich kannte Henryk die Filmreportage, denn er war sozusagen der Hauptdarsteller des Streifens geworden. Aber was hatten der Regisseur, die Kameraleute und die Cutterin aus der nüchternen, harten, oft gefährlichen, aber niemals besonders aufregenden Arbeit gemacht?

    Es war eine unterhaltsame Reportage auch für ihn geworden, denn nun sah er eigene Verhaltensweisen plötzlich in einem anderen Licht, gewöhnliche Situationen wirkten hochdramatisch, wenn sie in Bezug zu ihrem Forschungsobjekt und der ständigen Gefahr im Weltraum gebracht wurden. Auch die Routinearbeit und der Rhythmus des Bordlebens waren so verdichtet worden, dass sie selbst einen nur mäßig an der Raumfahrt interessierten Besucher fesselten. Den Höhepunkt aber bildeten die Szenen von der schwierigen Landung auf Phoebe, den Flügen mit dem Erkundungsschweber über den bizarren Kratern und jene Irrfahrt mit dem Rover durch Methangassümpfe, über Trümmerebenen und Bodenrisse.

    Dazwischen dann die Einblendungen seines Gesichts, konzentriert und manchmal schweißbedeckt, mit harten Linien um die Mundwinkel und auch mit erkennbarem Erschrecken in den Augen. Emotionen, deren er sich erst bewusst wurde, als er den Film sah. Von diesem Moment an war jenes eigenartige Gefühl der Verwunderung und des Stolzes in ihm, das Menschen immer dann ergreift, wenn ihnen später die Großartigkeit und die Vorbild Wirkung ihrer vollbrachten Leistung bestätigt werden.

    Gleich nach dem überraschenden Erfolg auf dem Bildschirm wurde der Film auch in Kinos gezeigt. Der Name Henryk Belote geisterte durch die Köpfe von Millionen Jungen, die ihm einmal nacheifern wollten. Belotes Poster zählte neben den Konterfeis von Schlagersängern und Filmstars zum Wandschmuck unzähliger Mädchenzimmer. Das alles war so unerwartet für ihn gekommen, dass er sich auch jetzt, fünf Monate nach Rückkehr der Phoebe-Expedition, noch nicht ganz an diese Situation gewöhnt hatte. Dabei war er keineswegs ein Mensch, der sich aus verklemmter Bescheidenheit gegen jede Art von Popularität wehrte. Öffentliche Anteilnahme und ein bisschen Publicity gehörten eben zum Lebensstil der modernen Zeit. Doch er spürte auch den Nachteil seines Ruhms. Überall, wo er sich zeigte, stand er im Mittelpunkt, musste er Fragen beantworten, wurde eingeladen. Wahrscheinlich würde es auch diesmal nicht anders sein, wenn er ins Tanzkino ging, um sich den Film auf Facettenleinwand und im Drei-D-Format anzusehen.

    Aber warum sich darüber aufregen, dachte Henryk Belote, der Ruhm fordert eben seinen Tribut. Er hätte ja ablehnen können, als die Kameraleute sich gerade ihn unter den zweiundvierzig Besatzungsmitgliedern aussuchten. Nun bekam er die Quittung.

    Belote warf einen Blick auf sein Bild und schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten begann die Neunzehnuhrvorstellung. Wie in den großen Clubkinos üblich, wurde der Film nur einmal am Abend vorgeführt. Anschließend konnte man im großen Saal bis nach Mitternacht tanzen oder sich in einen Nebenraum zurückziehen, Schach, Billard, Skat oder Galaxis spielen, diskutieren oder lesen.

    Er ging zum Automaten, steckte ein Geldstück in den Schlitz für »Filmabend« und zog die Karte heraus. Als er das Billett in den Entwerter schob, fühlte er einen Blick. Die Verkäuferin am Programm- und Zeitschriftenstand betrachtete ihn, und Belote spürte, wie es in ihrem Kopf arbeitete. So sahen ihn die meisten Leute an, ehe dann ein erlösendes Lächeln über ihr Gesicht glitt und sie ihn ansprachen.

    »Sie sind doch der Kosmonaut Belote?«, fragte die Frau. »Ich bin’s, aber es bleibt unter uns«, erwiderte er.

    Die Frau nickte mit Verschwörermiene. »Ich sag nichts, aber nur, wenn Sie mir ein Autogramm geben.« Sie hielt ihm ein Programmheft hin, von dessen Titelblatt ihn wieder Henryk Belote anlächelte.

    Er kritzelte seinen Namenszug quer über die Nase. »Beeilen Sie sich, der Film fängt gleich an«, riet sie ihm. »Fast alle Plätze sind besetzt.«

    Die ihm entgegengebrachte Hochachtung kribbelte Belote so angenehm wie eine Massagedusche über die Haut. Er versuchte vergeblich, dagegen anzukämpfen, und begann zu verstehen, dass manchen Menschen der Ruhm sogar zu Kopf steigt.

    Im Filmsaal umfing ihn Dunkelheit. Noch bevor sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, fasste ihn eine angenehm feste Hand und führte ihn zu einer Sesselgruppe. Undeutlich erkannte er zwei Plätze, anscheinend die einzigen, die noch frei waren. Gerade lief der Vorspann des Films mit der eigenartigen Weltraummusik. Auch Belote konnte sich der Wirkung dieser Melodie nicht entziehen, die in wechselndem Arrangement den Streifen begleitete. Sie war auf so beispiellose Art entstanden, dass sie hervorragend zum Phoebe-Film passte. Professor Kamakaidse hatte mit seinem 2012 in Betrieb genommenen riesigen Radioteleskop kosmische Signale aufgenommen, deren Intervalle auf vernunftbegabte Wesen als Absender schließen ließen. Erfolgskomponist Griffith war dann auf die Idee gekommen, die Impulse mittels eines komplizierten Verfahrens in musikalische Töne umzusetzen. Die ungewöhnliche, aber eingängige Melodie stand schon kurz nach Aufführung des Phoebe- Films an der Spitze der populärsten Schlager.

    Die ersten Szenen begannen mit dem Meteoritenalarm kurz vor dem Landemanöver. Das Schrillen der Alarmglocken, der wilde Tanz der Zeiger und die flackernden, Gefahr ankündigenden Signallampen in der Kommandozentrale gaben dieser Situation Rasanz. Dazwischen immer wieder sekundenlang der unendliche Kosmos mit seinen Millionen glitzernder Lichter und die aus einer Entfernung von anderthalb Milliarden Kilometern blass leuchtende Sonne. Die Szenen wechselten schneller. Man sah einen auf das Raumschiff zurasenden Meteoriten, eine Erschütterung ging durch die Phoebe II, eine Großaufnahme zeigte zwei Hände, die festgekrallt um bebende Lehnen lagen, das Licht ging aus. Nur für einen Augenblick. Dann erfasste die Kamera das kopfgroße Loch in der Außenhaut des Schiffs.

    Belote wusste, dass diese Aufnahme erst nach der Landung auf Phoebe gemacht worden war, aber hier in der richtig zusammengestellten Szenenfolge wirkte alles viel gefährlicher und dramatischer, als sie es damals empfunden hatten. Und da machte es auch nichts aus, dass den Filmschöpfern die kurze Sekunde Dunkelheit erst nachträglich eingefallen war. Im Moment des Aufpralls und danach hatten alle Lichtquellen jedenfalls unerschütterlich ihren Dienst getan. Vielleicht waren sie im Raumschiff auch nur so ruhig gewesen, weil niemand so recht an einen Zusammenstoß geglaubt hatte - die Möglichkeit, getroffen zu werden, stand theoretisch eins zu zehn Millionen.

    Nun gut, entsprechend der mathematischen Wahrscheinlichkeit würden dafür die nächsten zehn Millionen irdischen Raumschiffe das Weltall ohne Zusammenstoß durcheilen. Für die Phoebe II hätte dieser faustgroße Eisenbrocken allerdings eine Katastrophe heraufbeschwören können, wenn seine Geschwindigkeit größer gewesen und er dazu noch in das Triebwerk geschlagen wäre.

    Henryk Belote spürte die Spannung der Zuschauer fast körperlich. Er lächelte geschmeichelt und versuchte die Gesichter seiner beiden Nachbarinnen zu erkennen. Er sah nur ihre glänzenden Augen und die Haare: lang und dunkel bei der einen und blondes Kurzhaar bei der anderen. Dann wandte er sich wieder der Filmwand zu und folgte beeindruckt der Handlung.

    Die Zeit schien in kosmischem Tempo vergangen zu sein, als das Licht langsam den Saal erhellte. Er musterte die beiden jungen Frauen.

    »Ich träum wohl noch«, sagte die Dunkelhaarige. Sie starrte 8elote ungläubig an und knuffte ihre Freundin. »Bin ich jetzt auf Phoebe, oder sind wir im Kino?«

    »Das ist eine kluge Frage«, sagte Henryk Belote. Jetzt ging es wieder los: ob er der Raumschiffpilot Belote sei, wie man am besten solche Gefahren meistern und ob er nicht etwas erzählen könne.

    Stimmengewirr setzte ein. Viele Zuschauer erhoben sich und suchten die Nebenräume auf. An Henryks Tisch herrschte Schweigen. Er wollte einem ersten Impuls nachgeben und gehen, doch ein erneuter Blick auf die beiden jungen Frauen hielt ihn zurück. Beide waren bildhübsch.

    »Ich glaube, er ist es«, stimmte die Blonde der Freundin zu. »Was meinen Sie damit?«, fragte Henryk.

    »Na, Belote.« Aus dem Gesicht der Dunkelhaarigen war das anfängliche Erstaunen gewichen, nun spürte Henryk, wie ein starkes Gefühl von Zuneigung und Bewunderung von ihr ausging.

    »Das haben schon viele gesagt, seit der Film gezeigt wird«, sagte er. »Es ist nur die Ähnlichkeit mit dem Piloten.«

    »Unglaublich.« Ihre Bewunderung ließ merklich nach.

    So stark wie heute hatte er noch nie Stimmungen und Gefühle anderer Menschen gespürt, es war fast, als seien es die eigenen Empfindungen.

    »Solch eine Ähnlichkeit gibt’s ja gar nicht«, meinte die Dunkelhaarige.

    »Und warum nicht?«, fragte Henryk.

    »Weil... irgendwo müssen doch Unterschiede sein.«

    »Was redet ihr denn da?«, fragte die Blonde. Sie betrachtete ihre Freundin, dann sah sie unsicher zu Henryk.

    Die Dunkelhaarige zuckte die Schultern. »Was wir reden? Du hast es doch gehört. Er hat mich gefragt, warum es diese Ähnlichkeit nicht geben soll. Wie heißen Sie denn überhaupt?«

    »Henryk...« Belote stockte und lächelte die beiden amüsiert an. »Nein, nicht Belote, Henryk Bergader. Und Sie?«

    Die Frauen kicherten leise. »Das möchten Sie wissen. Raten Sie mal!«

    »Das ist nicht schwer.« Er zeigte auf die Dunkelhaarige und nannte den ersten besten Namen, der ihm einfiel. »Sie sind Lisa Malborg. Und Ihre Freundin heißt Kristina Bolen. Kristina mit K.«

    Die beiden Frauen sahen sich verwundert an. Henryk war es im selben Moment, als lasse jemand kaltes Wasser auf seinen Rücken tropfen.

    »Wie kommen Sie auf unsere Namen?«, fragte die Blonde und dachte anscheinend angestrengt nach. »Ich kenne Sie bestimmt, ich weiß nur noch nicht, woher.«

    »Aus dem Film eben«, schlug Henryk ironisch vor. Er konnte nicht glauben, dass er die richtigen Namen genannt hatte. »Quatsch, Sie kennen mich und Lisa, also müssen wir uns schon irgendwo begegnet sein. Aber wo?«

    Henryk spürte immer noch Zweifel, doch langsam wurden sie von einem Gefühl der Ratlosigkeit verdrängt. Die Namen schienen wirklich zu stimmen. Aber woher wusste er sie? »Reden wir von etwas anderem. Was möchten Sie trinken?«, fragte er.

    Kristina wollte Cola mit Kognak, Lisa Sekt, sie äußerten sich aber nicht.

    »Also gut, einmal Sekt, einmal Cola mit Kognak - und einmal Blutige Mary für mich«, stellte Henryk fest.

    »Langsam werden Sie mir unheimlich«, sagte die blonde Kristina. Ihr Gesichtsausdruck ließ jedoch darauf schließen, dass sie es eher amüsant fand. »Sie können wohl Gedanken lesen. Aber dann wissen Sie alles, was wir...« Sie brach ab.

    Henryk fühlte deutlich jenen angenehm-grauslichen Schauer, der Kristina erfasst hatte. »Schön wäre es ja«, sagte er, »doch die Erklärung ist ganz einfach.« Er machte eine Pause, und die beiden Frauen sahen ihn gespannt an. So einfach war die Erklärung nicht, ihm fiel nichts Vernünftiges ein. »Ja, ich denke mir, die meisten Frauen trinken Sekt und Cola mit Kognak. Wenn man das anbietet, stimmt es meistens.«

    »Sie müssen große Erfahrungen mit Frauen haben«, meinte Lisa und sah ihm vielsagend in die Augen.

    »Na, es geht.« Henryk fühlte sich geschmeichelt. Als erfahrener Mann zu gelten konnte niemals schaden. Dass ihm weder die Bücher an Bord des Raumschiffes noch die Automaten oder der Anabioseschlaf derartige Erfahrungen hatten vermitteln können, das brauchten die beiden nicht zu wissen. Er winkte dem Kellner und bestellte.

    »Wenn Sie so viel von uns wissen, dann kennen Sie vielleicht auch unser Alter«, sagte Lisa.

    Henryk starrte sie durchdringend an. »Ich spüre ganz deutlich: Sie sind zwei lautere Charaktere, nett, hilfsbereit, liebevoll. Und so jung.«

    Die Frauen lachten und schüttelten fröhlich die Köpfe. »Keine Ausreden, Sie Hellseher. Wie alt sind wir? Aber bitte mit Geburtsdatum.« Kristina drohte ihm scherzhaft mit dem Finger und sah ihm übertrieben streng in die Augen.

    »Nun gut, ihr Frauenzimmer, ihr sollt euren Willen haben«, sagte Henryk mit tiefer Stimme, »aber stört mich jetzt nicht, denn ich sehe sonst nicht, dass unsere dunkelhaarige Lisa am vierzehnten Juli einundzwanzig Jahre alt wird und die blonde Kristina erst am neunten Januar das Alter von zwanzig Jahren erreichte.«

    »Das gibt es doch nicht.« Lisa riss die Augen auf, als hätte Henryk ihr eben verkündet, sie sei die richtige Frau für ihn und er schlage als Hochzeitstermin den morgigen Tag vor. »Habe ich Sie vielleicht schon auf der Bühne gesehen, als Gedächtniskünstler oder so etwas Ähnliches?«

    Henryk lächelte verwirrt. Die Gedanken, die erschreckend deutlich auf ihn einstürmten, begannen ihn zu beunruhigen. Woher wusste er Namen, gewünschte Getränke und nun sogar die Geburtstage? Waren es eigene oder fremde Überlegungen, die in seinem Kopf saßen, oder war die Ausstrahlungskraft dieser beiden so stark, dass sie auf ihn telepathisch wirkten?

    Der Kellner brachte die Getränke, Musik setzte ein. Die ersten Paare strebten der Tanzfläche zu. Kristina fordert mich zum Tanzen auf, dachte er. Sieh an, die Jüngere ist hier die Kessere.

    »Ich kann aber nicht gut tanzen«, sagte Henryk und erhob sich.

    »Eine ulkige Art, jemanden aufzufordern«, meinte Kristina.

    »Und wen meinen Sie denn überhaupt, Henryk, mich oder Lisa?« Sie erhob sich und sah ihn so an, als gebe es darauf nur eine Antwort.

    Unsicher trottete er hinter ihr her. Ihm fiel ein, dass er schon oft Fragen oder Antworten anderer Menschen gehört hatte, noch ehe sie den Mund aufmachten.

    Auf der überfüllten Tanzfläche blieb kein Raum für die platzfordernden Gambos, Holla-Crazys und Brakes. Henryk war es auch lieber so, denn seine Kenntnis der modernen Tänze befand sich auf einem Stand, der vier Jahre zurücklag. Sie drehten sich fast auf der Stelle.

    Henryk zog Kristina sanft an sich und merkte, dass sie ihn sympathisch fand. Als er sie noch enger an sich drücken wollte, setzte sie ihm Widerstand entgegen. Sofort lockerte er seinen Griff. Er spürte ein leises Gefühl der Enttäuschung, wusste aber nicht, ob es von Kristina kam oder in ihm hochstieg. Sei doch keine Mimose, sagte sie. Verblüfft betrachtete er ihren geschlossenen Mund. Vernahm er schon wieder ihre Gedanken? Warum hatte sie sich aber dann gesträubt? Langsam zog er sie wieder dichter an sich. Sie kam ihm willig entgegen.

    Lisa erwartete sie nach dem Tanz am Tisch. »Ich weiß, woher wir uns kennen. Vom Schachclub.«

    »Ich war in Ihrem Schachclub?«, fragte Henryk überrascht. »Da haben wir’s.« Lisa klatschte zufrieden in die Hände. »Nun haben Sie sich verraten. Woher sollten Sie sonst wissen, dass wir zusammen in einem Schachclub waren.«

    Ja, woher? Er hatte es bis zu dieser Sekunde nicht gewusst und seiner Meinung nach auch nichts anderes geäußert. Aber Lisas Logik schien eigenen Gesetzen zu folgen. »Ich kann mal gerade die Figuren richtig stellen - und dann in einem Schachclub«, protestierte Henryk.

    Doch auch für Kristina schien damit das Geheimnis geklärt zu sein. »Komm, wir gehen tanzen«, sagte sie.

    Henryk hatte sich nach dem Kellner umgesehen und reagierte nicht; denn wahrscheinlich hatte sie ihn nur in Gedanken auf gefordert.

    »Also, dann nicht.« Kristina, halb erhoben, setzte sich schmollend wieder hin.

    »Entschuldige.« Henryk war verwirrt. »Ich weiß nicht... Ich wollte noch schnell etwas bestellen. Aber das können wir auch später.« Er stand unsicher auf. Ihm war, als träume er alles. Gedanken und Worte vermischten sich und raubten ihm die Übersicht über das, was gewünscht, und das, was gesagt wurde. Und das war nicht immer dasselbe.

    Kristina erhob sich sofort. Sie war nicht nachtragend. »Sieh nur, sogar rot wird er«, sagte sie zu Lisa.

    Es gelang Henryk im Laufe des Abends nicht, die beiden Frauen davon zu überzeugen, dass er niemals einem Schachclub angehört hatte.

    »Das möchte ich zu gern selbst überprüfen«, sagte Kristina.

    Henryk gab nach. »Von mir aus können wir es gleich probieren.« Er fühlte sich erschöpft von der ständigen Spannung, die richtigen Worte zu wählen, und er fühlte sich auch ermattet vom Tanzen, denn Kristina ließ keine Runde aus. Seine Kondition war nach dem Raumflug noch nicht die beste.

    Im Schachraum herrschte jenes angespannte Schweigen, das Henryk an die verhassten Klausurarbeiten erinnerte. Mehr als ein Dutzend Männer und vier Frauen saßen sich einander gegenüber, die Köpfe in die Hände gestützt und tiefsinnig die Figuren auf dem Schachbrett betrachtend. Nur hin und wieder wurde die Stille durch ein Räuspern oder die leisen Worte »Schach!« oder »Gardez!« unterbrochen. Zuschauer standen herum und sahen den Spielern schweigend zu. Kristina wandte sich an einen älteren Mann, der an der Stirnseite des Raums allein an einem kleinen Tisch saß und, zurückgelehnt in einen gemütlichen Clubsessel, ein Buch las. »Können Sie uns ein Schachspiel geben?«, fragte sie.

    Der Mann sah von seiner Lektüre auf und nickte. »Dazu bin ich doch da, Fräulein Bolen.« Er erhob sich, ging an eine Schrankwand und reichte ihr ein Brett sowie den Kasten mit den Figuren.

    »Woher kennen Sie mich?«, fragte Kristina.

    Der Mann schmunzelte. »Sie gehörten doch lange Zeit zu unseren Stammgästen.«

    »Das liegt aber einige Jahre zurück.«

    »Ich habe Sie trotzdem erkannt. Ihre kesse Stupsnase, das hellblonde Haar - eine hübsche Frau sind Sie geworden.«

    Kristinas Gesicht wurde von einem zarten Rot überhaucht. »An welchem Tisch sollen wir spielen?«, fragte sie schnell. »Tisch neun, und viel Spaß! Ich freue mich, dass Sie dem Schachspiel treu geblieben sind und nicht nur an das Galaxis denken.«

    »Was ist denn Galaxis?«, fragte Henryk, als sie zum Tisch gingen.

    Kristina sah ihn groß an. »Sag bloß, du kennst es nicht?« Henryk schüttelte den Kopf. Das Spiel musste während der Jahre ihrer Phoebe-Expedition in Mode gekommen sein. »Es ist ein Spiel, bei dem man Sterne entdecken kann und fremdes Leben kennenlernt, man muss Gefahrensituationen meistern und beispielsweise bei Raumschiffhavarien die richtigen Entscheidungen treffen«, erklärte Lisa. »Ich finde es wahnsinnig spannend.«

    Sie wählten die Steine, Kristina bekam Weiß. Sie begann mit dem Schäferzug, den Henryk ohne Mühe stoppte. Doch dann musste er auf der Hut sein. Kristina hatte anscheinend seine Reaktion vorausgesehen, denn sie baute unbeirrt einen Angriff auf. Henryk merkte, dass sie seine Dame auf ein bestimmtes Feld locken wollte, um dann mit dem Springer in einen ungedeckten Raum vorzustoßen. Als Henryk nicht auf ihre Pläne einging, bot sie ihm ein Läuferopfer an. Er verschmähte es, denn zu deutlich verrieten ihm' ihre Gedanken, dass er in eine Falle gelockt werden sollte. Im Laufe der Jahre hatte er zwar bestimmte Standardzüge vergessen, doch allmählich erinnerte er sich immer besser an die Grundregeln. Das Spiel begann ihm Spaß zu machen, denn allzu viel konnte ihm nicht passieren; Kristinas Kombinationen waren für ihn leicht zu durchschauen. Er konzentrierte sich darauf, ihre Pläne zu durchkreuzen und auf einen Fehler von ihr zu warten.

    Schließlich übersah sie einen Läufer, und Henryk spürte fast körperlich, wie der Schreck sie nach diesem Zug durchzuckte. Hoffentlich merkt er nicht, dass er mir den Turm schlagen und meine Deckung hinten aufreißen kann, dachte sie.

    Henryk schmunzelte vor sich hin. Er nahm den Turm und kam sofort in eine vorteilhafte Position, die er ausbaute. Kristina gab auf. »Von wegen, du kannst nicht spielen«, sagte Lisa. »Kristina war Sektionsmeisterin, und du hast sie ganz schön geschafft.«

    Kristina blickte schweigend auf das Brett und ging die letzten Züge in Gedanken noch einmal durch. »Gibst du mir Revanche?«, fragte sie.

    Henryk nickte. »Gern.« Diese Art Schach war ein Kinderspiel. Wenn man jede Falle, jede Kombination und Verteidigungsvariante des Gegners erkannte, dann waren Gegenzüge nur eine logische Handlung, die nicht allzu viel schachsportliches Können verlangte. Je konzentrierter und angestrengter Kristina nachdachte, umso deutlicher hörte er ihre Gedanken. Ja, es war ein Hören, klar und verständlich. Er hatte den Eindruck, sie erläutere ihm wie ein Schachlehrer einem Schüler ihre Überlegungen, um ihn zu selbständigen Schlussfolgerungen und Gegenmaßnahmen anzuregen.

    Das zweite Spiel dauerte nicht so lange. Kristina war unsicher geworden, machte zwei schwere Fehler hintereinander und wurde von Henryk mit einer schönen Kombination matt gesetzt. So ein Ärger, da habe ich mich aber reinlegen lassen, dachte sie. Henryk musste wieder lächeln.

    »Lach nicht so gemein«, sagte Kristina, »das kann ich nicht leiden.« Henryk spürte deutlich ihren Missmut, anscheinend verlor sie nicht gern. »Du musst ein guter Spieler gewesen sein, das heißt, du bist es noch. Wir werden ein andermal richtig spielen.«

    »Sehr gern, doch ich habe schon jetzt richtig gespielt. Besser kann ich nicht.«

    »Haha, sehr witzig.« Kristina zog die Mundwinkel ruckartig nach oben. »Bringst du mich nach Hause?«

    »Ja, sehr gern.«

    »Sehr variabel bist du aber nicht in deinen Antworten.«

    »Legst du solchen Wert auf Worte?«

    Kristina legte wohl mehr Wert auf Taten. Vor der Haustür blieb sie stehen, schlang ihre Arme um seinen Hals und sah ihm zärtlich in die Augen. Henryk küsste sie, und sie seufzte leise. Mit nie gekannter Erregung und auch mit leisem Erschrecken merkte Henryk, wie sich ihr ganzer Körper heftig an ihn drängte.

    »Wir können doch zu mir hochgehen«, flüsterte sie.

    »Ja, gern«, sagte Henryk wieder.

    Kristina lachte auf. »Du machst wohl alles gern.« Sie ging vor ihm die Stufen hoch. Ihre schmale Taille, die frauliche Rundung der Hüften unter dem dünnen Sommerkleid und die wohlgeformten Beine dicht vor seinem Gesicht drängten ihn dazu, sie zu berühren. Oder waren es Kristinas Wünsche? Henryk spürte den unwiderstehlichen Drang, ihr einen liebevollen Klaps auf den Popo zu geben. Er tat es.

    Kristina blieb ruckartig stehen. Sie drehte sich langsam um. »Was ist denn mit dir los?«, fragte sie ärgerlich. »Bin ich ein Pferd?«

    »Ich weiß nicht... entschuldige!« Henryk schämte sich, denn die Gefühle, die ihm entgegenschlugen, ließen sich auch beim besten Willen nicht in die Kategorie Zärtlichkeit einordnen. Dabei hätte er schwören mögen, Kristina habe eine körperliche Berührung gewünscht. Nun wusste er, dass es keineswegs das Verlangen nach diesem Klaps war. Er sah zerknirscht zu Boden. Das Wissen um fremde Gedanken nutzte einem nur wenig, wenn die notwendigen Erfahrungen fehlten.

    »Vielleicht ist es besser, du gehst«, sagte Kristina. Er nickte. Ihm fiel nichts ein, um die peinliche Situation zu beenden. »Na denn«, sagte er. Er drehte sich um und registrierte erfreut, dass Kristina ihre Worte schon bereute. Er zögerte einen kurzen Moment, doch sie sagte nichts. Nur ihre Gedanken drangen auf ihn ein, und da war ihm, als nenne sie ihn »einen netten, schüchternen Jungen, der nicht gleich eingeschnappt sein solle.«

    Er ging langsam die Stufen hinunter, wandte sich um und sagte: »Ich melde mich bei dir, Kristina. Du willst doch noch Schach gegen mich spielen.«

    Sie sprach immer noch nicht. Henryk wurde von einer starken Enttäuschung gepackt. Nun wusste er gar nicht mehr zwischen seinen und Kristinas Gefühlen zu unterscheiden. Sollte einer schlau werden aus diesen Frauen, sie wünschten sich das eine und taten das andere.

    Entschlossen ging er die Stufen zum Eingang hinunter und warf die Tür hinter sich zu.

    Kristina war überraschend freundlich gewesen am Telefon, als sei nichts vorgefallen. Henryk hatte die Revanchepartien

    Überlegen gewonnen und sich gefreut, dass sie die Niederlagen recht gelassen hinnahm. Der Heimweg und die Zärtlichkeiten vor der Haustür - das alles war wie beim ersten Mal gewesen. Und da Henryk diesmal seinen Wunsch nach einem freundschaftlichen Klaps unterdrückt hatte, war die Nacht anders, aber seinen Vorstellungen entsprechend verlaufen. Nein, eigentlich stimmte das nicht, denn seine Phantasie hatte sich gegenüber der Wirklichkeit als viel zu dürftig erwiesen.

    In letzter Zeit war Kristinas Laune ausgezeichnet. Ihre glänzende Stimmung wurde von seinen ständigen Siegen gegen einige bekannte Spieler noch gehoben. Jedes Mal sammelte sich an seinem Tisch eine Gruppe interessierter Zuschauer, die alle Züge aufmerksam verfolgten. Sein Ruf war auch zu einigen bekannten Spielern der Stadt gedrungen, die ebenfalls gegen ihn angetreten waren. Ihm bereitete es keine große Schwierigkeiten, sie mit Hilfe ihrer eigenen Überlegungen zu bezwingen.

    Eines Abends war ein großer, hagerer Mann aufgetaucht, hatte ihn mit stechendem Blick beobachtet und nach dem erfolgreich beendeten Spiel leise angesprochen. »Sportfreund Bergader, ich möchte Sie für unseren Schachclub werben.«

    »Und wer sind Sie?«, fragte Henryk.

    Leicht gekränkt verkündete der Mann: »In Schachkreisen kennt mich jeder, ich bin Julius Sultan, Vorsitzender des Schachvorstandes unserer Stadt. Sie haben nicht von mir gehört?«

    »Nein, ich spiele ja nur zum Vergnügen Schach.«

    »Schach ist mehr als ein Vergnügen, es ist ein Kampf unterschiedlicher Temperamente und Anschauungen, verschiedener Charaktere und geistiger Potenzen.«

    »So habe ich es noch nie betrachtet«, bemerkte Henryk trocken.

    »Sie sind ja auch noch lange kein ausgereifter Spieler.« Vielleicht begreifst du die Größe des Schachspiels nie, dachte Sultan. Und deine Erfolge sind nur das Resultat irgendwelcher glücklichen Umstände.

    Henryk wurde erst später klar, dass ihn die abfälligen Gedanken tief getroffen und zum Eintritt in den Schachclub Königsbauer bewegt hatten. »Und was sind dann meine Gegner, die ich bezwungen habe?«

    Sultan machte eine Handbewegung, die seine Geringschätzung ausdrückte. »Gegen richtige Könner haben Sie noch nie gespielt. In einem großen Saal, vor Fernsehkameras und Hunderten von Zuschauern, da sieht es anders aus.« Langsam begann Henryk sich zu ärgern. »Ich war bisher ganz zufrieden. Und außerdem möchte ich nicht in einem großen Turnier starten.«

    »Aha, Sie kneifen. Na ja, ich kann Sie schon verstehen.«

    »Gar nichts verstehen Sie.«

    Sultan grinste. Ein Feigling, habe ich mir gedacht, ging es ihm durch den Kopf. Viel Gerede um diesen Burschen und nichts dahinter.

    »Warum sollte ich Angst haben«, fuhr Henryk mit erhobener Stimme fort. »Wenn Sie etwas für sich behalten können, würde ich Ihnen den Grund nennen.«

    »Selbstverständlich kann ich das.«

    »Ich möchte nicht öffentlich spielen, weil ich Henryk Belote und nicht Bergader heiße.«

    »Nein«, sagte Sultan überrascht. Dann wurde seine Stimme gleichgültig. »Aber das macht doch nichts, ob Bergader oder Belote, das bleibt sich gleich.« Er tut gerade, als müsse jeder diesen Weltraumfahrer kennen, dachte er. »Und warum haben Sie Ihren richtigen Namen verschwiegen?«

    »Private Gründe.«

    »Schade.« Sultan verzog säuerlich sein Gesicht. Dieser Bursche verkohlt mich doch. Wenn es stimmt, dann wäre es eine große Sache: Weltraumfahrer Belote vom Club Königsbauer gegen Großmeister Thinnin zum Beispiel. Kristina trat zu ihnen und nickte Sultan zu. »Oh, der Schachchef der Stadt persönlich.«

    »So ist es, Schachfreundin.« Henryk spürte das Gefühl des Stolzes in Sultans Brust. Da musste er ihn vorhin tief getroffen haben, weil er ihn nicht kannte. »Es wäre sehr schade, wenn solch ein Talent wie Ihr Freund Belote nicht in unserem Club spielen würde, schöne Frau.«

    »Was - Belote?«, fragte sie und sah Henryk überrascht an.

    Er nickte.

    »Du bist also doch Belote. Ich habe es mir fast gedacht. O du Schuft.« Sie lachte. Auf Henryk griff ein starkes Gefühl der Bewunderung und Hochachtung über. Es kam nicht von Sultan. »Bilde dir nur nicht ein, dass ich dir nun auch meinen richtigen Namen sage. Da kannst du lange warten.«

    »Vielleicht vier, fünf Monate, schätze ich«, sagte Sultan mit leicht anzüglichem Lächeln. »Länger werden Sie es ihm wohl nicht verheimlichen können, Frau Belote.«

    Henryks Kopf zuckte erschrocken herum. »Was meint er, Kristina? Ist irgendetwas...«

    »Es sollte wohl ein Scherz sein«, sagte sie verstimmt. Doch dann glitt ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht. »Aber wie schnell wird aus einem Spaß bitterer Ernst.«

    »Wie meinst du das? Bist du dir denn sicher, ich meine...«

    »Wer weiß - alles brauchst du schließlich nicht zu wissen.«

    Sollten ihm solch wichtige Gedanken entgangen sein? Henryk versuchte zu erkennen, was sie nicht aussprach. Aber außer einer fast schmerzhaften und liebevollen Zuneigung spürte er bei Kristina nur Freude und Spaß. Doch dann war da auch ein starkes mütterliches Gefühl... War es erst Wunsch oder schon Wirklichkeit?

    Henryk war Mitglied des Clubs Königsbauer geworden, hatte zwei Meister und einen Internationalen Meister bezwungen. Die Erfolge waren hauptsächlich das Ergebnis seiner telepathischen Fähigkeiten. Henryk wusste das. Doch dieses Talent bereitete ihm auch Schwierigkeiten. Gedanken seiner Konkurrenten, ihre Kombinationen und die Ideen ausgeklügelter Fallen stürmten ebenso auf ihn ein wie Überlegungen oder heftige Gefühle anderer, die in seiner Nähe standen. Er kannte kaum noch den Reiz der vielen kleinen Geheimnisse, und manchmal sehnte er sich danach zurück. Überdies hatte ihm Kristina erzählt, dass die Andeutung seiner Vaterschaft nur ein Scherz gewesen sei, und er fühlte sich etwas enttäuscht.

    Jetzt saß er zur zweiten Routineuntersuchung im Kosmonauten-Zentrum. Noch im Vorzimmer der Psychologen war er sich nicht schlüssig, ob er über seine eigenartigen Fähigkeiten sprechen sollte. Zu sehr verlockte ihn der Gedanke an weitere Schacherfolge, er fühlte sich geschmeichelt durch Kristinas Bewunderung und war stolz auf die anerkennenden Berichte in den Zeitungen, die sein Talent mitunter enthusiastisch feierten. Es hatte sich eine neue Belote-Taktik herausgebildet, die von Schachexperten analysiert wurde. Henryk selbst war am meisten davon überrascht, dass einige Analytiker nach dem Studium seiner Partien ein neues Spielsystem entwickelten, das viele Anhänger fand.

    Was würde geschehen, wenn er nun die Wahrheit sagte? Sein echtes Können reichte vielleicht aus, um Kristina matt zu setzen - wenn er einen guten Tag hatte.

    Eine Krankenschwester riss ihn aus seinen Überlegungen. »Bitte, Kosmonaut Belote«, sagte sie und öffnete die Tür zum Arztzimmer.

    Er trat ein und begrüßte Doktor Wuschkow. Der Psychologe hatte zur Ärztekommission gehört, die vor Beginn der Phoebe-Expedition für die Auswahl der Besatzung verantwortlich gewesen war. Auch nach der Rückkehr betreute er sie nun.

    »Wie geht’s, Henryk?«, fragte er und deutete auf die bequemen Ledersessel, die um einen runden Tisch gruppiert waren.

    Henryk kannte die Zeremonie und schmunzelte amüsiert, als Doktor Wuschkow einen Ordner auf schlug und kurz darin blätterte.

    »Ihre Werte könnten gar nicht besser sein. Sie sind ein kräftiger, kerngesunder Mann, jedenfalls was die psychischen Funktionen und Parameter angeht. Ich bin sehr zufrieden.«

    »Ich kann auch nicht klagen«, sagte Henryk und sah dann zu Boden. Jetzt war der Augenblick gekommen, Doktor Wuschkow alles zu berichten. Sie waren darüber belehrt worden, dass sogar solche simpel erscheinenden Reaktionen wie Schreckhaftigkeit, Unsicherheit ohne ersichtlichen Grund ebenso wie Schlaflosigkeit, Nervosität, großer Appetit auf bestimmte Speisen oder ausgefallene sexuelle Wünsche mitzuteilen seien. Um wie vieles wichtiger musste da erst seine telepathische Fähigkeit sein. Doch er konnte sich nicht zu einem Geständnis durchringen.

    »Wie geht es mit dem Lernprogramm weiter?«, begann der Doktor.

    »Normal, nur die Grundlagen der neuen Sensorsteuergeräte wollen mir nicht richtig in den Kopf. Vielleicht begreife ich die Sache in den praktischen Seminaren besser.«

    Doktor Wuschkow nickte. Er erkundigte sich, ob er in anderer Beziehung bisher nicht gekannte Schwierigkeiten habe, fragte nach persönlichen Veränderungen, wie ihm seine Lieblingsspeisen schmeckten, ob er noch immer Kriminalromane allen anderen Büchern vorziehe, und kam auf seine Hobbys zu sprechen. »Ich nehme an, für die Rover-Crossrennen ist die Zeit jetzt etwas knapp geworden.«

    »Das stimmt, dafür spiele ich oft Schach«, sagte Henryk. »Das habe ich schon gehört. Und sehr gut.« Ob seine Erfolge auch mit dieser eigenartigen Telepatis Zusammenhängen? fragte sich Doktor Wuschkow.

    Henryk hatte Mühe, seinen Schreck zu verbergen. Anscheinend hatte der Arzt nichts gemerkt, denn er betrachtete nachdenklich seine Unterlagen. Sollte ich nicht der einzige Kosmonaut mit telepathischen Fähigkeiten sein, dachte Henryk und sagte: »Ich glaube, ich besitze dafür Talent. Vorher wusste ich es nur noch nicht.«

    »Wann vorher?«

    »Vor der Expedition zur Phoebe. Ich habe damals allerdings nur selten Schach gespielt.«

    »Und nun? Stellen Sie irgendeinen Unterschied zu früher fest?« Doktor Wuschkow blickte ihn aufmerksam an. Alles deutet darauf hin, als sei auch bei ihm diese Veränderung eingetreten, argwöhnte er.

    Henryk hatte in den letzten Wochen gelernt, seine Worte genau zu überdenken, bevor er sie aussprach. Und trotzdem hätte er den Arzt fast gefragt: Wem geht es denn ebenso? Er schluckte und atmete tief durch. Er hatte kein Recht, seinen Zustand zu verheimlichen. Im eigenen Interesse, denn die bisher positiven Auswirkungen konnten ihn psychisch gefährden oder sogar ins Negative Umschlägen. »Ja, es gibt einen großen Unterschied«, sagte Henryk zögernd, »wie Sie es schon vermuten.«

    Doktor Wuschkow war nicht überrascht. Er nickte ihm freundlich zu. »Ich habe es geahnt und freue mich, dass Sie es mir ebenfalls sagen.« Damit scheint erwiesen, dass die chemische Substanzveränderung im Gehirn etwas damit zu tun hat, fügte er in Gedanken hinzu.

    »Das Gehirn ist verändert?«

    Doktor Wuschkows Augen weiteten sich ungläubig. »Woher wissen Sie, Henryk?« Er lachte unsicher. »Natürlich, ich vergaß... Sie können fremde Gedanken lesen. Aber so deutlich?«

    Henryk nickte.

    Doktor Wuschkow erhob sich, lief um den Tisch herum, rieb die Hände, als freue er sich über einen geglückten Streich, legte sie dann ruckartig auf den Rücken, räusperte sich und setzte sich wieder. Er konnte seine Erregung nicht unterdrücken. Eine Sturzflut von Gedanken ging ihm durch den Kopf, von denen Henryk nur Bruchstücke erkennen konnte.

    »Was ist mit meinem Gehirn?«, fragte er wieder.

    »Es ist nicht schlimm, ich hätte eher darauf kommen sollen.« Doktor Wuschkow blätterte mit schlanken Fingern eilig in dem Ordner. »Bekanntlich gibt es in jungen und alten Hirnen gravierende Unterschiede im Säurehaushalt. Bei Ihnen sind in der Untersuchung Werte ermittelt worden, die auf ein ungewöhnlich junges Gehirn schließen lassen. Zumindest was die Säuren und vor allem die Zahl und das Verhalten der Tigroidschollen betrifft.«

    »Ist das schlimm?«

    »Schlimm - nein. Doch das müssen Sie und die anderen am besten selbst einschätzen.« Zumindest ist es ungewöhnlich. Bei Kannin, Schikolski, Domay und Lecattre sind die Werte jedenfalls nicht so extrem, dachte er.

    »Also alle, die mit mir die Erkundungsflüge über die Methangassümpfe unternommen haben«, sagte Henryk.

    Ein überraschter Blick des Arztes traf ihn, dann lächelte Doktor Wuschkow etwas gequält. »Man muss sich wirklich erst daran gewöhnen, dass Sie Gedanken lesen. Ja, es sind alle, die mit Ihnen über den Sümpfen im Einsatz waren. Aber so stark wie bei Ihnen ist es bei keinem anderen ausgeprägt.« Er sprang wieder auf, holte eine andere Mappe vom Schreibtisch, zog ein Diagramm heraus und vertiefte sich darin. Es stimmt, Henryk hat die meisten Einsatzstunden, dachte er.

    »Meinen Sie, dass es davon ist?«, fragte Henryk.

    Doktor Wuschkow zuckte die Achseln. »Bei Ihnen traut man sich ja gar nicht, überhaupt etwas zu denken. Also, genau weiß es noch keiner, aber es ist naheliegend.« Er rechnete einen Moment und fuhr dann fort: »Hier haben wir es. Sie sind mit zweihundertzehn Stunden Spitzenreiter, danach folgt Schikolski mit einhunderteinundsiebzig. Ja, es könnte der Grund sein.« Er klappte die Mappe zu und sah ihn ernst an. »Erzählen Sie mir alles, jedes Wort, jede Beobachtung ist wichtig. Wir werden alles auf Tonspeicher aufnehmen.« Henryk erzählte, was er seit der ersten Untersuchung erlebt hatte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass bei ihm das Gedankenlesen sich erst langsam entwickelt und nun anscheinend den Höhepunkt erreicht hatte.

    »Haben Sie jetzt irgendwelche Beschwerden?«, fragte Doktor Wuschkow.

    »Beschwerden - keine. Nicht dass ich wüsste. Es macht natürlich Spaß, die Gedanken anderer zu erkennen, manchmal aber auch nicht.«

    »Erkennen Sie alles ganz deutlich, also im Zusammenhang, oder nur bruchstückhaft?«

    »Das ist unterschiedlich. Ein Mensch mit festen Meinungen denkt auch klarer, deshalb muss nicht immer richtig sein, was er denkt. Dabei ist es, als spreche jemand ganze Sätze zu mir. Dann wieder höre ich nur Wörter... Hier muss man natürlich kombinieren, doch das ist nicht allzu  schwer nach dem vorangegangenen Gespräch. Eine andere Form sind die Gefühlsäußerungen, also wenn man Selbstüberschätzung, Verachtung, Wut, Freude und vor allem Liebe...« Er stockte und wusste nicht, wie er das Thema wechseln sollte.

    »Das ist interessant, besonders im Intimbereich!« Doktor Wuschkow forderte ihn lebhaft zum Weitersprechen auf. »Wie ist es mit Ihrer Freundin?«

    Henryk wurde rot. Gerade darüber wollte er nicht reden. »Muss das sein?« Im selben Moment ärgerte er sich. Er zierte sich wie ein verklemmter Jüngling, dabei wusste er genau, welch wichtige Aufschlüsse seine Erlebnisse den Ärzten geben konnten. »Entschuldigen Sie. Ja, die Gefühle und Gedanken von Kristina spüre ich besonders stark. Wenn sie mit mir schlafen will zum Beispiel.«

    »Also, die Gedanken Ihrer Freundin fließen in die eigenen ein?«

    »Ja, sie stimulieren sozusagen. Ist sie guter Laune oder sehr zärtlich, werde ich dadurch animiert. Umgekehrt ist es genauso.« Henryk schwieg und räusperte sich dann. Die Worte fielen ihm schwer, es erschien ihm wie Verrat, die gemeinsamen Stunden zärtlicher Liebe, schöner Gefühle und höchster Glücksempfindung einem anderen detailliert zu erzählen. Aber es musste wohl sein. »Ist sie abgelenkt, gleichgültig oder vielleicht sogar ärgerlich, überträgt sich das auch auf mich. Es dämpft sozusagen meine Lust, und manchmal, wenn diese Gefühle sehr stark sind, werde ich dann auch ärgerlich, meine Stimmung wird schlechter.«

    »Ich verstehe - ich verstehe. Und wie ist es, wenn Sie Ihre Freundin umstimmen wollen?«

    »Natürlich mache ich das auch, mit den üblichen Mitteln. Zärtlichkeit, Musik, etwas trinken, auf sie eingehen - das muss ich Ihnen doch nicht alles erzählen.«

    »Nein, nein, aber wie reagiert sie?«

    »Sicherlich wie jede Frau, die liebt. Der Wunsch nach Zärtlichkeit wird bei ihr stärker, ich fühle das ganz genau, in gleichem Maße hebt sich meine Stimmung, wir harmonieren sehr gut.«

    Doktor Wuschkow kratzte sich etwas verlegen sein Ohrläppchen. »Wie ist es beim Verkehr, haben Sie da Probleme?« Henryk war die Frage unangenehm. Er zögerte.

    »Ja, ich muss schon so direkt fragen. Vielleicht hängt von Ihren Erfahrungen das Glück in zahlreichen Ehen ab«, sagte er eindringlich. Er breitete die Hände aus und fuhr beschwörend fort: »Sie wissen sicherlich, dass ein hoher Prozentsatz aller verheirateten Frauen auf sexuellem Gebiet nicht zufrieden sind. Hier böte sich für die Medizin eine phantastische Möglichkeit, der Menschheit Glück zu bringen auf einem sehr wichtigen Gebiet.«

    »Ich weiß nicht, bei uns klappt es prima«, sagte Henryk. »Sehen Sie, sehen Sie«, rief Doktor Wuschkow begeistert. Er beruhigte sich wieder. »Oder Sie sind beide von Natur aus ein ideales Paar.«

    »Ich weiß nicht, Kristina war meine erste Frau.«

    »Was? Erstaunlich!« Doktor Wuschkow rieb sich wieder das Ohrläppchen. »Das müsste man natürlich genau wissen, vier, fünf Frauen würden genügen.«

    »Soll ich vielleicht als Versuchstier eingesetzt werden.« Henryk war ehrlich empört. Nicht einmal in seinen erotischsten Träumen hatte er sich mehr sinnliche Freuden vorgestellt, als er sie jetzt mit Kristina genoss.

    »Nein, nein, regen Sie sich nicht auf. Niemand wird Sie zwingen, es war nur eine Überlegung. Erzählen Sie weiter.«

    Henryk sah ärgerlich zu Boden. Vielleicht hätte er doch lieber schweigen sollen. Wer weiß, was jetzt auf ihn zukam. »Also, ich spüre genau, wenn Kristina... wenn sie also gern dabei ist. Ich meine, auch wenn es zum Höhepunkt kommt. Dann ist es bei mir ebenso. Ja, eigentlich klappt es erst dadurch, denn ihre Empfindungen spüre ich ja zur selben Zeit. Und wenn sie keinen Spaß dabei hat, vergeht auch mir die Lust. Das ist alles, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

    »Ich verstehe. Großartig, wenn das stimmt.«

    »Natürlich stimmt das«, sagte Henryk erbost und etwas verschämt.

    »Nein, das meine ich nicht. Ich meine, wenn es durch die Telepathie zu dieser schönen Übereinstimmung kommt, dann wäre es ein großer Schritt zu absolutem körperlichem Glück.«

    »Denken Sie auch an die Nachteile?«, fragte Henryk. »Niemand kann seine Gedanken völlig verbergen, man wird ständig von Stimmungen beeinflusst...«

    »Das ist richtig, aber darüber müssen höchste Ärztekommissionen entscheiden. Woran ich denke, ist eine Art Liebestrank, der diese telepathische Fähigkeit verleiht. Er braucht nur für begrenzte Zeit wirksam zu sein, als Garantie für vollkommene sexuelle Partnerschaft.«

    Henryk war es plötzlich, als sehe er eine schwarzhaarige, schlanke junge Frau, die etwas gelangweilt im Bett lag und ihn spöttisch anlächelte.

    »Ist Ihre Frau dunkelhaarig und schlank?«, fragte Henryk. »Ja, wie kommen Sie jetzt darauf?« Doktor Wuschkow wurde plötzlich rot. »Man kann Ihnen ja nichts vormachen, ja, ich habe auch an meine Ehe gedacht. Vielleicht etwas egoistisch, aber glauben Sie mir, es ist ein Problem.«

    »Und wie geht es nun weiter?«

    Doktor Wuschkow musste sich einen Moment konzentrieren.

    Henryk merkte, wie sehr ihn dieses persönliche Engagement verwirrt hatte. Und die Tatsache, dass Henryk seine tief verborgene Absicht erkannt hatte, machte ihn unsicher. »Ich kann das nicht allein entscheiden. Ich denke aber, wir werden keine Experimente anstellen, Sie nur beobachten. Später könnte eine Expedition auf der Phoebe gezielte Versuche unternehmen und das Rätsel lösen.«

    »Ich kann also vorläufig weiter Gedanken lesen?«

    »Was sollen wir machen, Sie einsperren? Natürlich werden Sie unter ständiger Kontrolle stehen, jeder Ihrer Schritte und jede Ihrer Handlungen muss beobachtet werden, Sie sollten uns jede Ihrer Erfahrungen und alle Ihre Gedanken mitteilen.«

    »Auch mit Kristina?« unterbrach ihn Henryk.

    Doktor Wuschkow sah ihn einen Augenblick verständnislos an, dann lächelte er. »Natürlich auch mit Kristina. Aber wir brauchen dabei nicht ins Detail zu gehen.«

    Die Ärzte hatten eine Wertskale der telepathischen Kraft aufgestellt, die von eins bis zehn reichte. Domay, ein ruhiger und ausgeglichener Typ, kam auf fünf, Schikolski, der Lustigste und Temperamentvollste der Phoebe-Besatzung, schaffte es sogar bis zur Sieben. Nur Henryk erreichte als einziger die Zehn. Dieser Zustand war seit Wochen konstant, und obwohl Henryk sich darauf eingestellt hatte, begann ihn eine unerklärliche Nervosität zu beunruhigen. Er war sogar mehrmals entschlossen, Kristina die Wahrheit zu sagen, doch die Furcht, sie damit zu verunsichern oder misstrauisch zu machen, hielt ihn davon ab. Was auch nützte ihr dieses Wissen?                                                             

    Die Telepatis, wie Doktor Wuschkow sein eigenartiges Talent bezeichnete, belastete Henryk psychisch sehr stark. Er fühlte sich oft morgens schon müde, war häufig nervös, und reagierte gereizt in Situationen, die er früher mit Humor und Gleichmut gemeistert hatte. An seinen Kräften zehrten nicht nur die unfreundlichen,  geringschätzigen und manchmal beleidigenden Gedanken einiger Gesprächspartner, er durfte sich ihnen gegenüber auch nicht das Geringste anmerken lassen. Er hatte sich so gut in der Gewalt, dass er anscheinend gelassen nur, auf die gesprochenen Worte reagierte, die mitunter so gar nicht mit der wahren Meinung übereinstimmten.

    Doch die ständige Konzentration strapazierte seine Nerven und ließ ihn immer häufiger die Gesellschaft anderer Menschen fliehen. Dabei hegte der größte Teil aller Männer und Frauen durchaus freundliche und gute Gedanken. Aber er wurde auch von fremden Stimmungen und Gefühlen beeinflusst. Ärger und Sorgen anderer bedrückten ihn in oft unerträglicher Weise. Sogar Mattigkeit und Enttäuschung, Zahnschmerz und Trauer legten sich über seine Empfindungen, töteten die eigene Fröhlichkeit und umhüllten ihn wie ein trüber, regnerischer Novembertag einen einsamen Spaziergänger. Ihm fehlte die Gleichgültigkeit des Phlegmatikers, jene dicke Haut, wie er sie vor allem bei denen entdeckte, die mit glatten, runden Gesichtern fröhlich in die Welt schauten. Auch Kristina gehörte zu jenen Zufriedenen. Was ihn aber dabei versöhnte, war die Tatsache, dass sie seine Gedanken nicht so durcheinanderbringen konnte wie ein sensibler, nervöser Typ.

    Ab und an nützte er seine Fähigkeit, um die eigene Stimmung aufzubessern. Das hielt zwar nie lange an, gab ihm aber die Gewissheit, dass sein Talent auch angenehme Seiten hatte. Wie jeder anständige Mensch musste er vor Anwendung seiner Methode erst einige Hemmungen überwinden - aber wie zum Beispiel sollte er sonst jemals in den Besitz verschiedener, stets gefragter Bücher kommen? Auch der neue Roman von Kenneth Wollner war angeblich bereits restlos vergriffen.

    »Leider alles ausverkauft«, behauptete die Verkäuferin der Zentrum-Buchhandlung. Sie sah ihn einen Moment lang abschätzend an und wandte sich dann ebenso uninteressiert ab wie bereits drei Kolleginnen vor ihr in den anderen Buchläden.

    Henryk merkte, dass sie ihn anlog. Doch bei ihr ließ sich nicht ein leiser Hauch jenes Schuldgefühls erkennen, das er immer bei anderen Gesprächspartnern verspürte, wenn sie bewusst die Unwahrheit sagten. Er versuchte es erneut. »Dabei ist mir gesagt worden, ich soll heute noch einmal vorbeikommen.«

    »Die Lieferung ist schon gestern gekommen, und die fünfundzwanzig Exemplare waren bis heute Vormittag vergriffen.«

    Henryk sah fast plastisch die zehn Wollner-Exemplare, die in einem Regal des Nebenraumes ständen. »Wenn Sie nebenan in den Lagerraum gehen und sich einmal das vierte Fach im Regal ansehen, dann finden Sie noch einen Band für mich.«

    Ein Schreck durchzuckte die bisher gelangweilt wirkende Verkäuferin. Woher weiß er das? fragte sie sich. »Aber die sind leider alle bestellt«, stotterte sie. Einem Mann, der so genau Bescheid wusste, musste man wohl mit der halben Wahrheit entgegenkommen.

    »Eben, das meine ich ja. Ihre Kollegin in der Gehaltsabteilung wollte eins zurücklegen lassen. Hat sie noch nicht angerufen?«

    Von der Gehaltsabteilung? Frau Werfel? Die ist auch gut, schickt mir einfach jemanden her. Oder Sonja? Aber die arbeitet in der Buchhaltung.

    »Ich glaube, Gehaltsabteilung war nicht ganz korrekt, ich meinte die Buchhaltung. Es war Sonja aus der Buchhaltung. Sie sagte, ich solle mich an die hübsche junge Verkäuferin wenden, dann gehe schon alles in Ordnung.«

    Ein fast körperlich spürbares Gefühl der Freude sprang auf Henryk über, in das sich Verlegenheit mischte. Die Buchhändlerin machte sich über ihr Aussehen keine Illusionen. Trotzdem zog über ihr hageres Gesicht ein Lächeln. Plötzlich jedoch musterte sie ihn misstrauisch. Der nimmt mich auf den Arm, das hätte Sonja nie gesagt. Und dann müsste er auch meinen Namen kennen, nicht Marlies, aber den Nachnamen Keibell.

    »Nein, sie hat nicht angerufen«, sagte sie kurz.

    »Aber Sie sind doch Fräulein Keibell, Marlies Keibell, oder?«

    Die Verkäuferin nickte jetzt freundlich und sagte: »Dann geht es schon in Ordnung.«

    Henryk verließ die Buchhandlung mit dem neuen Roman von Kenneth Wollner unter dem Arm und dem Gefühl, nicht völlig korrekt gehandelt zu haben. Und er freute sich über beides.

    Einmal hatte er sogar in einem Kaufhaus einen Taschendieb gestellt, noch ehe die bestohlene Frau den Verlust ihres Portemonnaies bemerkt hatte. Manchmal überlegte er, ob er seine Dienste der Polizei anbieten sollte, denn was ein Täter aussagte und was in seinem Kopf vorging, waren fast immer zweierlei Dinge. So mancherlei spielte sich unabhängig von gesprochenen Worten oder von überzeugender Mimik unter der Schädeldecke ab. Und dort würde er ohne Mühe die Wahrheit herausfinden, Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen feststellen, Namen von Komplicen erfahren, den Verbleib von Tatwerkzeugen ermitteln und den Tathergang rekonstruieren. Das wäre sicherlich eine interessante Tätigkeit. Doch darüber hatten auch die Ärzte und die Raumbehörde zu entscheiden.

    Im Moment war die Lösung einer anderen Aufgabe für ihn viel wichtiger. Er hatte Julius Sultans Drängen nachgegeben und musste gegen den Großmeister antreten. Der Gedanke an diese Begegnung bedrückte ihn. Auch jetzt, kurz vor dem Aufeinandertreffen, beschäftigte er sich noch mit Eröffnungsvarianten. Er blätterte lustlos in einem Schachlehrbuch, kam aber immer wieder auf eine raffinierte Falle zurück, die er sich aus einer Sammlung von vierhundertneunundneunzig anderen herausgesucht hatte. Er musste sich vor allem auf ein Spiel mit den weißen Figuren vorbereiten, denn seine Methode war auf die Zerstörung gegnerischer Angriffe gerichtet; die schwarzen Figuren kamen seiner Spielweise entgegen. Henryk schrak auf, als die Tür ins Schloss fiel. Kristina kam hereingestürzt und umarmte ihn. »Bin ich aufgeregt«, sagte sie. »Überall spricht man von dem Match.«

    »Ich würde mich gern noch etwas ausruhen«, brummte er. »Ja, entschuldige.« Sie schwieg einen Moment, sah auf die Uhr. »Jetzt ausruhen? In gut einer halben Stunde geht es los. Hast du Nerven!«

    Ja, Nerven hatte er. Aber zum Glück besaßen andere noch viel schlechtere.

    In der Theatergarderobe hielt er sein Gesicht vor den Spiegel. Er blickte drein, als hätte er das Spiel schon verloren. Aber soweit war es noch nicht. Aus dem Lautsprecher krächzte eine aufgeregte Stimme, der Großmeister Joseph Brenner und der Kosmonaut Henryk Belote möchten sofort in die Kulissen kommen. Ihm blieb keine Zeit mehr, eine freundliche Miene einzuüben. Also würde er sich so geben, wie ihm zumute war. Worauf hatte er sich da nur eingelassen. Er drehte den Kopf zu Kristina, die plötzlich losprustete. »Siehst du zerknittert aus, wie dein eigener Urgroßvater.« Sie schlug sich wenig damenhaft auf die Schenkel und lachte. Henryk wollte ärgerlich reagieren, doch da sprang der Funke Fröhlichkeit auf ihn über. Automatisch zogen sich seine Mundwinkel in die Breite. Kristinas Welt war Freundlichkeit und Liebe. Was wollte er mehr. Er nahm das Mädchen in die Arme, strich ihr zärtlich über den Rücken und tätschelte auffordernd ihren Popo.

    »Du suchst dir dafür aber eine sehr ungünstige Zeit aus«, sagte sie und lachte. Man musste solche Klapse nur zur richtigen Zeit geben.

    Der große Theatersaal war für dieses Match speziell hergerichtet worden. Auf einer erhöhten Fläche vor der Bühne standen der Spieltisch mit zwei großen Namensschildern und die beiden Stühle der Kontrahenten. Die Hälfte der Bühne nahm ein Diagramm mit magnetisch befestigten Figuren ein, auf ihm wurden für die Zuschauer im Saal und die Fernsehübertragung alle Züge demonstriert. Sechshundert Schachfreunde starrten zur Bühne, und für Tausende an den Fernsehgeräten wurde vom Regionalprogramm jeder Zug, von zwei Experten kommentiert, ins Haus geliefert. Applaus empfing die beiden Spieler. Sie gingen zum Tisch. Bei der Nennung seines Namens neigte Brenner selbstbewusst den Kopf, Henryk verbeugte sich unbeholfen. Der Sprecher stellte das Kampfgericht vor und erläuterte die wichtigsten Regeln des Kampfes. Dann trat der Hauptschiedsrichter zu den Kontrahenten und ließ sie die Farbe losen. Henryk zog Weiß. Ein Raunen ging durch den Saal. Das ist gut für mich, drangen Brenners Gedanken zu ihm, mit Weiß hat er immer Schwierigkeiten. Wahrscheinlich wird er wieder ein Gambit-Spiel machen und mit dem Damebauern eröffnen.

    Sieh an, dachte Henryk, der Meister hat mich aber genau studiert. Sie gaben sich die Hand und setzten sich.

    »Sind Sie bereit?«, fragte der Hauptschiedsrichter. Beide nickten. »Dann eröffne ich hiermit den Schaukampf.« Henryk überlegte nicht lange und zog den Bauern von d2 auf d4. Brenner wusste sofort, wie er antworten würde, doch er ließ sich Zeit. Eine Taktik aller guten Schachspieler, die auch den harmlosesten Zug erst dreimal überprüften. Dann setzte er den Bauern von d7 nach d5. Henryk musste lächeln. Er zog den nächsten Bauern von c2 nach c4 und war gespannt, was Brenner tun würde. Schlug er den Bauern auf c4, dann konnte er die Falle ausbauen. Brenner warf ihm einen kurzen Blick zu und vertiefte sich in die Stellung. Schließlich schlug er Henryks Bauern.

    Ohne lange nachzudenken, setzte Henryk seinen Springer auf f3. Wieder sah Brenner kurz zu ihm her, durch den Saal lief ein Gemurmel. Sichere ich jetzt den Bauern c4 ab, oder baue ich meine Position weiter aus? überlegte Brenner. Henryk konzentrierte sich auf seinen Gegenspieler und versuchte dessen Angriffsgedanken zu loben. Brenners Überlegungen endeten damit, dass er der Verlockung nach einer guten Angriffsstellung nicht widerstand und seinen Bauern auf a6 stellte. Bis jetzt lief alles nach Lehrbuch. Henryk zog von e2 nach e3.

    Ist das nun eine Kombination oder eine Falle? Ganz deutlich vernahm Henryk Brenners Frage. Diese Eröffnung kommt mir bekannt, vor. Hat Belote die Position schon genau analysiert? Die Gedanken schwirrten durch den Kopf des Großmeisters, er suchte intensiv nach einer Antwort. Doch mit der langjährigen Erfahrung und einer für gutes Schachspiel unerlässlichen scharfen Logik setzte Brenner die Partie mit dem Bauernzug b1 auf b5 fort. Noch hatte Brenner nicht durchschaut, dass es sich um eine Falle handelte.

    Henryk ging von a2 auf a4. Nach langer Überlegungspause schob Brenner seinen Läufer von c8 auf b7. Nun konnte Henryk angreifen. Er zog mit dem Bauern von a4 auf b5. Brenner wollte sofort mit dem Gegenschlag a6 auf b5 antworten, doch er zwang sich zur Ruhe. Was hat er vor? fragte sich der Großmeister, und Henryk dachte nur stereotyp den einen Satz: Schlag den Bauern, schlag den Bauern! In Brenners Kopf tauchten verschiedene Varianten auf, wurden geprüft und ebenso schnell verworfen. Henryk hatte einen Moment den Eindruck, ein Computer führe ihm ein Planspiel vor, Schachfiguren bewegten sich, hüpften von einem Feld aufs andere, standen plötzlich wieder auf ihren Ausgangspositionen und schoben sich abermals lautlos über das Schachbrett. Wie viele Möglichkeiten boten sich allein in dieser Stellung, und wie viele Gegenzüge gab es! Langsam ordnete sich das Durcheinander, und Brenner schlug den weißen Bauern auf b5. Die Feindseligkeiten waren nun offiziell eröffnet.

    Der Turm war an der Reihe. Henryk musste sich minutenlang konzentrieren. Folgte er Brenners Kombinationen, oder gehörte der Turmzug zu seinem eigenen Schlachtplan? Mit Mühe gelang es ihm, alle fremden Einflüsse zurückzudrängen. Ja, der Turm musste

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