Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

DER TOD AUS DEM MEER: Der Horror-Klassiker!
DER TOD AUS DEM MEER: Der Horror-Klassiker!
DER TOD AUS DEM MEER: Der Horror-Klassiker!
eBook353 Seiten4 Stunden

DER TOD AUS DEM MEER: Der Horror-Klassiker!

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Kritik hat Charles Birkin (* 24. September 1907; † 1986) mit Edgar Allan Poe verglichen. Und in der Tat: Es gibt nur wenige Autoren, die Horror-Stories mit derartig nachhaltiger Wirkung zu schreiben vermögen. Birkin gelingt es, den Leser immer wieder von neuem zu überraschen und zu schockieren.

Der Tod aus dem Meer enthält 15 der besten Erzählungen von Charles Birkin – erstmals seit fast fünfzig Jahren sind diese nun wieder in deutscher Sprache verfügbar.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum22. Aug. 2019
ISBN9783748713524
DER TOD AUS DEM MEER: Der Horror-Klassiker!

Ähnlich wie DER TOD AUS DEM MEER

Ähnliche E-Books

Horrorfiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für DER TOD AUS DEM MEER

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    DER TOD AUS DEM MEER - Charles Birkin

    Das Buch

    Die Kritik hat Charles Birkin  (* 24. September 1907; † 1986) mit Edgar Allan Poe verglichen. Und in der Tat: Es gibt nur wenige Autoren, die Horror-Stories mit derartig nachhaltiger Wirkung zu schreiben vermögen. Birkin gelingt es, den Leser immer wieder von neuem zu überraschen und zu schockieren.

    Der Tod aus dem Meer enthält 15 der besten Erzählungen von Charles Birkin – erstmals seit fast fünfzig Jahren sind diese nun wieder in deutscher Sprache verfügbar.

    DER TOD AUS DEM MEER

    (My Name Is Death/The Terror On Tobit)

    Ende der zwanziger Jahre waren die Scilly-Inseln als Ferienziel noch der Geheimtipp einiger weniger Kenner. Erst Jahre später, als die Schiffsverbindungen besser und die Inseln dadurch auch der großen Öffentlichkeit bekannt wurden, verloren sie ihre Abgeschiedenheit.

    Die wenigen Besucher, die ihren Weg dorthin fanden, hüteten eifersüchtig das Geheimnis jener vom Wirbel der Zeit noch unberührten Inselgruppe vor der Küste von Cornwall, selbst guten Freunden gegenüber. Irgendwie betrachteten sie die Scillys als ihre ganz persönliche Entdeckung und wollten sie nicht durch den Massentourismus entwerten und entzaubern lassen.

    In jenem Sommer vor vielen Jahren verbrachten zwei junge Mädchen ihre Ferien auf einer der Scilly-Inseln.

    »Du bist dir doch wohl klar darüber«, sagte Daphne, »dass wir in drei Tagen in London sein werden. Dann beginnt der Ernst des Lebens.«

    »Als ob ich das nicht selbst wüsste! Die letzten vierzehn Tage sind förmlich vorbeigeflogen.« Anne klappte ihr Buch mit einem kleinen harten Knall zu. »Mir jedenfalls hat es ausnehmend gut hier gefallen. Ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du mich mitgenommen hast.«

    Daphne hatte vor, sich nach dem Urlaub ehrenamtlich der Pflege körperlich behinderter Kinder zu widmen. Anne, deren fröhlicher, verschwenderischer Vater im Frühjahr ganz plötzlich gestorben war, hatte für September eine Stellung als Assistentin von Madame Stirling in der Berkeley Street angenommen. Dafür sollte sie fünf Pfund pro Woche, zuzüglich einer Provision für alle Kunden, die sie ihrer Chefin zuführte, erhalten. Die plötzliche Veränderung ihrer finanziellen Verhältnisse war für Jimmy Blakes Witwe und Tochter ein böser Schock gewesen; denn sie mussten feststellen, dass er eine beträchtliche Schuldenlast und nur sehr wenig Geld hinterlassen hatte.

    Daphne Bristow war als Kind einmal auf der Insel Bryher gewesen und hatte jene herrlichen Ferien nie vergessen. Impulsiv hatte sie Anne Blake gefragt, ob sie Lust hätte, mitzukommen. Sie hielt es für klüger, wenn Anne den Zauber der Mittelmeerküste vergessen würde, denn sie hatte kurz vorher ihre Verlobung mit einem melancholischen jungen Mann gelöst, den sie ein Jahr zuvor in Cannes kennengelernt hatte. Jetzt wusste Daphne, dass ihr Vorschlag richtig gewesen war. Das Haus auf Bryher, wo sie als Kind gewohnt hatte, war inzwischen in andere Hände übergegangen, und so waren sie schließlich auf St. Mark's geblieben.

    Anne und Daphne waren seit ihrer Kindheit miteinander befreundet und hatten auch ihre Debütantinnensaison zusammen erlebt.

    Auf dem runden Wohnzimmertisch verbreitete eine gemütliche Öllampe ihr warmes Licht; die gelb-weiß karierten Vorhänge bauschten sich sacht im leichten Abendwind. Auf St. Mark's, der kleinsten bewohnten Scilly-Insel, gab es insgesamt kaum ein Dutzend Häuser.

    »Es tut dir also nicht leid, dass ich dich überredet habe, mitzukommen?« Daphne lächelte ihrer Freundin liebevoll zu. »Du hast dich ganz bestimmt nicht gelangweilt?«

    »Das weißt du doch. Es war einfach paradiesisch.«

    »So paradiesisch wie in Cannes?« Daphne bereute sofort diese taktlose Frage.

    »Mir hat es noch nie irgendwo so gut gefallen. Mehr kann man wohl nicht sagen.«

    In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Mrs. Arraway, die Mutter des jungen Fischers, dem das Häuschen gehörte, kam herein, um das Geschirr abzuräumen. Anne sagte zu ihr: »Die Hummern waren einfach köstlich. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ungern wir an unsere Abreise denken.«

    Mrs. Arraway lachte. »Nun, es gibt Schlimmeres.« Sie war eine freundliche, mütterliche Frau, die - abgesehen von einigen wenigen Fahrten nach Penzance - ihr ganzes Leben auf den Inseln verbracht hatte. »Mir tut es auch leid, dass Sie wieder wegmüssen. Ich kann nur hoffen, dass ich es Ihnen hier gemütlich genug gemacht habe, und dass es Ihnen nicht zu ruhig war.«

    »Herrlich war's!« Daphne bot ihr eine Zigarette an. »Wir hätten Sie aber gern noch um einen Gefallen gebeten.«

    »Und das wäre?« Mrs. Arraway lehnte die Zigarette ab und zog fragend die Augenbrauen hoch.

    »Ob Jean uns wohl morgen Abend nach Tobit hinüberrudern würde? Wir möchten dort über Nacht bleiben. Das wäre ein wunderbarer Abschluss unserer Ferien. Er könnte uns am nächsten Morgen wieder abholen. Meinen Sie, dass er es tun würde - oder hat er keine Zeit?«

    »Ich weiß nicht«, sagte Mrs. Arraway unschlüssig. »Was wollen denn zwei junge Damen wie Sie auf Tobit? Da gibt's doch nichts als Möwen.«

    »Wir möchten gern unter offenem Himmel schlafen - wie Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel. Kann es etwas Romantischeres geben? Das wäre ein herrlicher Spaß! Ach bitte, überreden Sie Jean, dass er uns hinbringt.«

    Mrs. Arraway runzelte die Stirn. Offensichtlich behagte ihr die Idee gar nicht. »Tobit ist ein höchst ungesunder Ort«, sagte sie nach einer Pause. »Am besten, man macht einen Bogen um die Insel. Außerdem gibt's da kein Trinkwasser«, schloss sie triumphierend.

    »Das macht nichts. Wir könnten ja eine Thermosflasche mitnehmen. Bitte, sagen Sie ja, Mrs. Arraway«, flehte Daphne.

    »Nun, ich weiß nicht recht«, antwortete die Wirtin. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde, mein Kind. Ich schicke Jean zu Ihnen, und dann können Sie selbst hören, was er dazu meint. Aber ich kann Ihnen jetzt schon verraten, dass er diesen verrückten Einfall bestimmt nicht unterstützen wird.« Sie nahm das Tablett auf und ging mit besorgter Miene hinaus.

    Anne schob die Vorhänge auseinander und blickte in die Nacht hinaus. Gegen den samtblauen Himmel hoben sich die schroffen Felszacken der Scilly-Inseln wie phantastische Gebilde ab. Bei Tag wirkte die Szenerie viel freundlicher, nicht so abweisend. Da gab es überall olivgrünes Moos, das mit winzig rosa und malvenfarbigen Blumen übersät war.

    »Woran mag es wohl liegen, dass diese Inseln irgendwie verzaubert wirken?«, sagte Anne. »Ich habe noch nie so sehr den Eindruck des Uralten, des Urweltlichen empfunden. Nicht auf Saint Mark's«, schränkte sie ein, »aber die anderen! Die wirken so traurig und - ja, geduldig und ruhig, wie sanfte, verblasste und verwelkte Schönheiten, die sich an ihre großartige Vergangenheit erinnern und ohne Bitterkeit auf das Ende warten.«

    »Ja«, sagte Daphne, »aber sie sind auch irgendwie düster und beängstigend.«

    Jemand klopfte an die Tür. »Das wird Jean sein. Daphne, wir müssen ihn einfach dazu überreden, dass er uns hinüberbringt. Es würde ein unvergessliches Erlebnis sein. Herein!«, rief Anne.

    Jean Arraway kam in das kleine Wohnzimmer. Er sah auffallend gut aus, fast ein wenig zigeunerhaft, was hier auf den Inseln sehr ungewöhnlich war. Seine dunklen Augen schienen stets auf ein weit entferntes Ziel gerichtet zu sein, wie man es oft bei Menschen findet, die den größten Teil ihres Lebens auf dem Meer verbringen.

    »Ja, Miss? Sie wollten mich sprechen?«

    »Wir möchten Sie um Ihre Hilfe bitten«, sagte Anne.

    »Um was handelt es sich denn, Miss?«

    »Dass Sie uns morgen nach Tobit bringen. Wir möchten über Nacht bleiben, und Sie holen uns dann Freitag wieder ab. Sie wissen ja, dass wir am Sonntag wegmüssen. Nicht wahr, Jean, Sie tun uns den Gefallen?« Anne lächelte ihn an und bot dabei ihren ganzen nicht unbeträchtlichen Charme auf.

    Er schüttelte den Kopf. »Sie können nicht über Nacht auf Tobit bleiben, Miss«, sagte er in bestimmtem Ton.

    »Warum nicht?«, fragte Daphne.

    »Es ist ungesund.«

    »Was meinen Sie damit, dass es ungesund ist?«, warf Anne ungeduldig ein. »Ihre Mutter hat genau denselben Ausdruck gebraucht.«

    Er blickte sie nachdenklich an. »Das ist schwer zu erklären«, sagte er schließlich. »Dort sind böse Dinge passiert...«

    »Was für Dinge?«, fragte Daphne hartnäckig.

    »Seltsame Dinge.« Offensichtlich war ihm nicht wohl zumute, und er schien nicht gewillt zu sein, sich näher auszulassen. »Böse Dinge«, wiederholte er. Ein kurzes Schweigen breitete sich in dem kleinen Zimmer aus, während die beiden Mädchen darauf warteten, dass er fortfahre.

    »Ich denke, dort lebt niemand?«, sagte Anne. »Wie können dann dort böse Dinge geschehen?«

    »Nein, jetzt lebt niemand mehr dort. Ein- oder zweimal sind Leute - Fremde vom Festland - hingefahren. Das ist nachts kein guter Ort.«

    »Wollen Sie damit sagen, dass es dort Gespenster gibt?«

    Er lächelte ohne Fröhlichkeit. »Sie wollen das Ganze als Ammenmärchen abtun, Miss. Aber vor zwei Jahren, da ist mal ein Maler allein rüber gerudert. Er beachtete alle Warnungen nicht. Er war richtig störrisch.«

    »Und was ist ihm zugestoßen?«, wollte Daphne wissen.

    »Ich weiß nicht.«

    »Warum dann diese Geheimnistuerei?«, fragte Anne.

    »Nun, sehen Sie, Miss, er ist nie wieder zurückgekommen. Er verschwand einfach.«

    »Das ist unmöglich. Wohin könnte er denn verschwunden sein? Sicher ist er ertrunken.«

    »Niemand kann es sagen. Man fand sein Boot. Es war fest vertäut.« Jean zuckte mit den breiten Schultern. »Es gibt viele seltsame Geschichten über Tobit. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es für Menschen dort nicht geheuer.«

    »Was für Geschichten?«, fragte Daphne gespannt.

    »Nun«, sagte Jean zögernd, »dieser Maler war nicht der einzige, der dort hinfuhr. Ein Jahr davor war es eine Dame, ich glaube, sie war Schriftstellerin. Sie machte auf Saint Agnes Urlaub und bestand darauf, eine Nacht auf Tobit zu verbringen. Genau wie Sie. Als der Fischer, der sie hingebracht hatte, sie wieder abholen wollte - da war sie nicht mehr da.«

    »Das glaube ich nicht. Sie wollen uns doch nur von unserem Vorhaben abbringen«, sagte Daphne. Sie ging zu ihm hin und blickte ihm in die Augen. »Aber ob Sie uns nun mitnehmen wollen oder nicht - wir fahren hin, nicht wahr, Anne? Wir werden eben ein anderes Boot mieten, und niemand wird uns daran hindern. Schließlich kann man uns das nicht verweigern. Das wäre ja Boykott.« Der junge Mann schien von ihrer Ausdrucksweise verwirrt zu sein.

    »So ist es«, sagte Anne. »Auf die Geschichte fallen wir nicht rein.« Sie warf ihm einen ebenso herausfordernden wie aufmunternden Blick zu.

    »Ich würde es an Ihrer Stelle nicht tun, Miss.« Ihr Charme ließ ihn völlig kalt. »Keiner der Männer hier wird Sie hin rudern. Das ist wirklich ein unguter Ort. Tobit gehört dem Meer und den Geschöpfen des Meeres.«

    »Reden Sie keinen Unsinn, Jean.« Anne war an männlichen Widerspruch nicht gewöhnt. »Soll das vielleicht heißen, dass Sie es einfach ablehnen, uns hinzufahren? Das wäre wirklich eine grobe Unhöflichkeit!«

    »Tut mir leid, Miss, aber so ist es nun mal.« Er zupfte verlegen am Gürtel herum und vermied es, sie anzusehen.

    »Dann rudern wir eben selbst hinüber. Was der Maler allein konnte, werden wir zu zweit auch schaffen. Und wenn wir am Freitag bis zum Mittag nicht zurück sind, dann wissen Sie, dass das Gespenst uns geschnappt hat, und können nach unseren Gebeinen forschen.«

    Jean gab keine Antwort; er blieb stumm und verlegen stehen. Schließlich sagte er: »Nun, gute Nacht denn. Vielleicht überlegen Sie es sich doch noch anders. Ich hoffe es jedenfalls.«

    »Oder Sie, Jean«, sagte Anne kühl. »Gute Nacht.«

    Als er gegangen war, wandte sie sich an ihre Freundin. »Hat man so etwas schon gehört! Entweder ist er zu faul, uns hinüberzurudern, oder er hat für abends eine Verabredung und will es nur nicht zugeben. Aber so oder so - es bleibt dabei, abgemacht?«

    »Natürlich«, sagte Daphne überzeugt. »Diese Fabelgeschichten können mich nicht kopfscheu machen.« Sie ließ sich in einen Rohrsessel fallen. »Aber wenn sie doch ein Körnchen Wahrheit enthalten, das... das wäre ein bisschen seltsam, nicht?«

    »Ja, sehr«, sagte Anne kurz. »Wenn diese beiden Leute wirklich verschwunden sind... Nun, wahrscheinlich sind sie ein Stück hinausgeschwommen, bekamen einen Wadenkrampf und ertranken. Wie man uns bei unserer Ankunft sagte - wenn man sich nicht genau auskennt, können die Strömungen sehr gefährlich sein.«

    Als Daphne und Anne am nächsten Morgen das hölzerne Gartentor zur Straße - die eigentlich nur ein Pfad war - öffneten, trafen sie Mrs. Arraway, die gerade Gemüse aus dem Garten geholt hatte und das herrliche Wetter pries.

    »Ihr Sohn zeigte sich gestern Abend nicht gerade hilfsbereit«, sagte Anne vorwurfsvoll. »Hat er es Ihnen erzählt?«

    Mrs. Arraway presste die Lippen aufeinander und runzelte besorgt die Stirn. »Ja, das hat er«, sagte sie. »Kindchen, vergessen Sie Ihr verrücktes Vorhaben. Ich weiß, dass Jean alles versucht hat, um Sie davon abzubringen. Sie kennen diese Inseln nicht so wie wir. Wie sollten Sie auch?«

    »Mrs. Arraway«, sagte Daphne, »was gibt es denn dort so Furchterregendes? Schmuggler? Oder andere zwielichtige Gestalten?«

    »Nein, Kindchen. Schmuggler sind aus Fleisch und Blut. Ich will gar nicht leugnen, dass es hier früher viele Schmuggler gab. Aber das Ding auf Tobit - nun, niemand weiß, was es eigentlich ist. Seit Generationen erzählt man sich jedoch, dass Tobit dem Meer gehört, und dass das Meer jedes Jahr ein Opfer verlangt - zum Ausgleich für das, was es uns gibt.« In ihrer Stimme klang Stolz mit, als sie sagte: »Nein, vor Schmugglern würde sich mein Jean nicht fürchten. Das Unheil kommt nicht von Menschen. Was dort passiert, ist etwas ganz anderes, etwas, gegen das man sich nicht wehren kann.«

    Trotz des warmen Sonnenscheins fröstelte Daphne unter einer unheilvollen Vorahnung. Die Inselbewohner wussten sicher mehr über diese Dinge als sie und Anne. »Aber das Meer hat doch letztes Jahr auf sein Opfer verzichtet, nicht wahr?«, fragte sie. »Was sagen Sie dazu?«

    »Darüber sollte man nicht scherzen, Miss. Ich bitte Sie sehr, nicht nach Tobit zu fahren.« Es konnte kein Zweifel bestehen, dass sie es ernst meinte; sie sagte auch nicht mehr wie sonst Kindchen, sondern Miss.

    »Ich kann genauso starrköpfig sein wie Jean«, sagte Anne mit einem Lächeln, das ihren Worten die Spitze nahm. »Wir müssen einfach hin. Es wird schon gutgehen. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen.« Sie legte eine Hand auf Mrs. Arraways Arm. »Wir leihen uns Jeans Schrotflinte und sein Flensmesser und nehmen außerdem ein Kruzifix und eine Flasche Whisky mit, so dass wir gegen alles gewappnet sind. Würden Sie so nett sein und uns einen Picknickkorb herrichten? Vielleicht gibt's noch mal Hummern? Wir wollen um halb sieben los, damit wir genügend Zeit haben, uns einzurichten, bevor es dunkel wird.«

    Bevor Mrs. Arraway etwas sagen konnte, gingen die beiden Mädchen davon. In den bunten Shorts und den gestreiften leichten Pullovern, Badeanzug und Handtuch über einen Arm gehängt, sahen sie unbeschwert und fröhlich aus. Nach hundert Metern trafen sie auf ein paar Fischer, die auf den Bänken vor dem Holzschuppen und dem flachen Steingebäude saßen, welche den winzigen Hafen flankierten. Die Männer flickten ihre Netze oder saßen nur schweigsam und rauchend herum. Sie nickten den Mädchen freundlich zu. Jean war nicht zu sehen.

    Nichts hätte weniger unheilträchtig oder harmloser wirken können als dieses friedliche Bild. Das Meer lag fast unbewegt und blau, grün und dunkelviolett schimmernd im strahlenden Sonnenschein - ein Farbspiel, das eher in die Tropen als in diese raue Gegend zu passen schien. Und doch konnte dieses gleiche Meer sich in ein gnadenloses Ungeheuer verwandeln, das mit schäumenden Wellenkämmen und tosender Brandung gegen die Felsen donnerte und sie zermahlte. Nicht umsonst waren die Inseln in den alten Zeiten ein Paradies für Strandräuber gewesen.

    Es war schon fast sechs Uhr, als Anne und Daphne nach einem langen, faul am Strand verbrachten Tag heimkehrten. Sie fühlten sich zufrieden und angenehm müde und waren von der stark salzhaltigen Luft und von den im Wasser verbrachten Stunden ein wenig benommen. Die golden gebräunte Haut unterstrich ihre jugendliche Frische. Sie strahlten förmlich vor Gesundheit und Wohlbehagen.

    Jean erwartete sie mit mürrischer Miene. Er trug ein offenes blaues Hemd. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt, so dass seine muskulösen Arme gut zur Geltung kamen. Leichte Schuhe aus Segeltuch und fleckige Drillichhosen vervollständigten seinen Anzug.

    »Guten Abend, Jean«, rief Anne ihm zu.

    »'n Abend, Miss.« Er wich ihrem Blick aus.

    »Das war ein schöner Tag heute«, sagte Daphne.

    Er sagte nichts und folgte den Mädchen auf dem von Feldblumen gesäumten Pfad zum Häuschen. Als sie die Tür erreicht hatten, sagte er plötzlich: »Sie fahren also nach Tobit hinüber?«

    »Ja«, antwortete Daphne, die Hände angriffslustig in die Hüften gestemmt.

    »Dann bring ich Sie hin, Miss«, sagte er überraschend.

    »Ich dachte, dass Sie nichts dazu bewegen könnte«, sagte Anne. »Wir hatten uns schon damit abgefunden, allein hinfahren zu müssen.«

    Jean errötete und betrachtete sie mit mürrischer Miene. »Es wäre nicht gut, wenn Sie allein hinfahren - das heißt, es ist nicht gut, dass Sie überhaupt dorthin wollen. Es würde mich beruhigen, wenn Sie meine Begleitung annehmen.«

    »Danke. Wir sind Ihnen wirklich dankbar«, sagte Daphne. Sie konnte sehen, wie verlegen er war, und wieviel Überwindung es ihn kostete, dieses Angebot zu machen. Ihr selbst war bei dem Gedanken, allein hinüberrudern zu müssen, nicht allzu wohl gewesen. Das Boot, das sie gemietet hatten, war ziemlich alt und schwer.

    »Er darf aber nicht auf der Insel schlafen«, sagte Anne. »Das würde alles verderben.« Als sie seine Verlegenheit sah, fügte sie hastig hinzu: »Ich will damit sagen, Jean, dass Sie uns dort absetzen und am Morgen wieder abholen oder die Nacht über im Boot bleiben.«

    Unter den dichten Brauen schoss er einen spöttischen Blick auf sie ab. »Wie Sie wünschen, Miss.« Seine Stimme klang leicht amüsiert. »Wann wollen Sie weg?«

    »Ungefähr in einer halben Stunde«, sagte Anne. »Wir treffen uns im Hafen.«

    Jean nickte. »Einverstanden.«

    Während sie im Schlafzimmer Decken und alles andere, was sie für ihr nächtliches Abenteuer brauchten, zusammenpackten, sagte Daphne: »Ich gebe es nicht gern zu, Anne, aber ich bin froh, dass Jean in der Nähe sein wird.«

    »Hast du Angst?«

    »Bestimmt nicht«, sagte Daphne, »aber im Notfall... Ich meine, dass wir dann schnell wegkönnen.«

    »Im Notfall?«, fragte Anne.

    »Ach, ich weiß nicht, weshalb ich das gesagt habe.«

    »Und wie dicht möchtest du Jean in der Nähe haben?«, fragte Anne lächelnd. »Von wegen froh! Was du in Wirklichkeit meinst, ist wohl, dass es dir lieber wäre, wenn ich im Boot schlafen würde, nicht wahr? Kommt nicht in Frage!«

    Daphne wurde blutrot, was sie maßlos ärgerte. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Aber du musst doch zugeben, dass er ein Bild von einem Mann ist.«

    Anne lachte. »Sicher.« Sie steckte eine Packung Zigaretten in ihren Beutel. »Ich kann mir jedenfalls keinen Grund denken, der uns in die Flucht treiben könnte, besonders dann nicht, wenn dein Adonis in der Nähe ist. Und jetzt beeil dich! Wir müssen uns noch von Mrs. Arraway verabschieden und das Essen einpacken. Und vergiss ja nicht, Streichhölzer mitzunehmen.«

    Jean wartete schon auf sie, und nachdem er das Gepäck verstaut hatte, ging es los. Tobit lag fast vier Kilometer westlich von St. Mark's, eine letzte Bastion gegen die unaufhörlichen Attacken des Atlantiks. Sie ließen die Samson-Insel links liegen; auch dort gab es außer den Seevögeln kein lebendes Wesen. Nur eine verfallene Hütte verriet, dass einstmals ein Schäfer dort ein paar Schafe geweidet hatte.

    Tobit selbst duckte sich tief ins Meer. Seine bizarre dunkle Form wirkte wie ein urweltliches Tier, das nach dem Todesstoß versteinert war und jetzt sacht in der Dünung schaukelte. Überall waren Felsblöcke verstreut, die von Wind und Wasser zu grotesken Gebilden geformt worden waren. Sie hätten gut die Monumente eines Volkes sein können, das in einer von grauen Nebeln verschleierten Vorzeit auf diesem steinigen Vorposten des sagenhaften Kontinents Atlantis gelebt hatte!

    Daphne war so sehr in Gedanken verloren gewesen, dass sie überrascht war, als die Küste vor ihr auftauchte. Jean schwang sich ins Wasser und watete, beladen mit Decken und Proviant, an Land. Vom Boot aus konnten die Mädchen sehen, dass in den felsigen Buchten viel Treibholz angeschwemmt worden war; man würde also nicht mit Brennholz sparen müssen.

    Nach ein paar Minuten kam Jean durch das flache Wasser zurück. Er hatte während der Fahrt kaum ein Wort gesprochen, und es war offensichtlich, dass er sich immer noch nicht für den Ausflug begeistern konnte. »Soll ich Sie ans Ufer tragen, Miss?«

    »Wir können selbst durchwaten«, sagte Anne.

    »Dann werde ich Ihnen helfen, ein Lager zu machen. Drüben am anderen Ende der Insel gibt es eine sandige Stelle, die sicher windgeschützt ist.«

    Das Meer glühte im Abendrot, als die Mädchen hinter Jean her gingen. Ab und zu stolperten sie über Felsbrocken, die von glitschigem, merkwürdig rotem Seetang bedeckt waren. Nach fünf Minuten erreichten sie eine schmale Halbinsel. Dort war die von Jean erwähnte sandige Stelle, die fast ganz von hohen, windzerfressenen Felsen eingeschlossen war.

    »Sieh mal, Daphne«, sagte Anne. »Ist das nicht eigenartig? Wie ein Druidenkreis.«

    »Das ist einer von den Feenkreisen«, mischte Jean sich ein. »Davon gibt es hier noch mehr. Sie wurden von den Zwergen angelegt. Bei den Ringen am Strand trafen sie sich mit den Wassergeistern.«

    »Wirklich?«, sagte Daphne lachend. »Dann müssen wir ihnen ja für diesen idealen Lagerplatz dankbar sein.« Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ach, was ich noch wissen wollte - werden Sie im Boot übernachten? Das dürfte aber nicht sehr bequem sein.«

    »Nein, das werde ich nicht«, sagte Jean ruhig. »Es wäre nicht richtig von mir, Sie allein zu lassen. Das ist gefährlich, sage ich Ihnen. Es ist nicht sicher. Tobit ist verflucht. Es gehört dem Meer und mag keine Eindringlinge.«

    »Wenn Sie Angst haben, Jean, warum wollen Sie dann nicht lieber nach Saint Mark's zurückfahren? Wir möchten Sie keineswegs gegen Ihren Willen hierbehalten.« Annes Vorschlag klang wie eine Herausforderung.

    Jean blieb gelassen und ignorierte ihren Spott. »Ich will gar nicht abstreiten, dass ich tatsächlich Angst habe«, sagte er, »aber ich lasse Sie trotzdem nicht allein.«

    »Wo wollen Sie denn bleiben?«, fragte Daphne.

    »Da oben bei dem großen Stein... bei dem Monolith. Ich will in der Nähe sein, falls Sie mich brauchen.« Er sah Daphne lächelnd an. »Nicht allzu nahe, aber in Hörweite.«

    Daphne wandte sich zu Anne um. »Wir sollten jetzt Holz sammeln«, sagte sie. »Jean und ich übernehmen das. Du kannst inzwischen auspacken.«

    Die beiden Gestalten entfernten sich im zunehmenden Dämmerlicht, während Anne anfing, das Lager herzurichten. Tief im Innern fühlte sie sich gar nicht so sicher, jetzt, da die Nacht anbrach und es keine Rückkehr mehr gab. Sie schauerte zusammen. Wie kam sie nur auf diesen Gedanken? Keine Rückkehr? Was konnte sie - außer ihrem albernen Stolz - daran hindern, einfach zurückzufahren?

    Weg mit diesen lächerlichen Gedanken! Sonst würde sie noch hysterisch werden, und das könnte in der gegenwärtigen Situation sehr unangenehme Auswirkungen haben. Sehnsuchtsvoll dachte sie an das gemütliche Wohnzimmer in Mrs. Arraways Häuschen. Und doch konnte sie ein Gefühl der Furcht und des Unbehagens nicht unterdrücken. Es war, als ob irgendetwas Unheimliches sie bedrohte, als ob irgendetwas da sei, das sie belauerte.

    Als sie mit Holzbündeln beladen zum Lagerplatz zurückkehrten, sagte Daphne lächelnd zu Jean: »Vielen Dank, dass Sie hierbleiben.«

    Elf Uhr. Der Schein des Feuers flackerte geisterhaft über die Gesichter der beiden Mädchen.

    »Sollten wir nicht versuchen zu schlafen?«, fragte Daphne. »Es ist schon spät.«

    »Ja.« Anne warf ein Stück Holz aufs Feuer. »Ich wünschte, man hätte uns nichts von... von den anderen erzählt.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wo ist Jean?«

    »Dort oben auf dem Hügel«, sagte Daphne, »wie er es versprochen hat.«

    »Glaubst du, dass er schon schläft?«

    »Nein. Er sagte mir, er würde Wache halten.«

    »Warum?«

    »Keine Ahnung, vielleicht wegen des Gespenstes.«

    Anne kuschelte sich tiefer in die Decke. Es war nur zu leicht, sich ein Gespenst oder eine spukhafte Erscheinung vorzustellen - aber bald würde ja die Nacht vorbei sein.

    »Gute Nacht«, sagte Daphne resolut.

    »Gute Nacht.«

    Sie lagen still und lauschten auf das sachte Plätschern der Wellen, die auf den Strand aufliefen.

    So vergingen zwei Stunden. Daphne wälzte sich unruhig herum. Dann setzte sie sich auf. Ein feiner Dunst dämpfte das Funkeln der Sterne und verschleierte die Sichel des aufgehenden Mondes. Sie umschloss die Knie mit den Armen und starrte hinauf in die unendliche Weite des Raums. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Aber allmählich wurde sie von der friedlichen Ruhe, die über diesem winzigen Felshügel inmitten des Meeres lag, eingeschläfert, und sie schloss die Augen.

    Was war das? Daphne fuhr hoch. Ein seltsamer hoher Ton schien die Luft vibrieren zu lassen - ein durchdringendes Geräusch wie von einem Schwarm riesenhafter Stechmücken. Es stieg und fiel in einer monotonen Kadenz. Gelähmt vor Furcht, wagte sie nicht, sich zu rühren. Sie wusste nur, dass sie es nicht ertragen konnte, allein noch länger zuzuhören.

    »Anne!«, flüsterte sie eindringlich. Anne bewegte sich nicht. »Anne!«, rief sie lauter.

    »Ja, was ist denn? Was ist los?« Anne stützte sich verschlafen auf einem Ellbogen auf.

    »Kannst du es nicht hören?«, fragte Daphne.

    »Was?«

    Beide lauschten angespannt. Die See murmelte leise und spülte unaufhörlich in die unzähligen kleinen Buchten hinein. Über dem Seufzen des Wassers erhob sich jener andere Laut - ein hohes, unheimliches Pfeifen, das immer durchdringender wurde.

    »Das ist der Wind in den Felsen«, sagte Anne, aber es klang nicht sehr überzeugend. »Die sind förmlich durchsiebt von Spalten. Deswegen brauchst du keine Angst zu haben, Liebes. Schlaf ruhig weiter.«

    Das Feuer war zu einem glühenden Aschenhaufen niedergebrannt. Daphne starrte

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1