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Ein Chinese sagt nicht, was er denkt: Höhen und Tiefen einer europäisch-chinesischen Zusammenarbeit
Ein Chinese sagt nicht, was er denkt: Höhen und Tiefen einer europäisch-chinesischen Zusammenarbeit
Ein Chinese sagt nicht, was er denkt: Höhen und Tiefen einer europäisch-chinesischen Zusammenarbeit
eBook283 Seiten3 Stunden

Ein Chinese sagt nicht, was er denkt: Höhen und Tiefen einer europäisch-chinesischen Zusammenarbeit

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Über dieses E-Book

Als Christian Schütz mit seinem chinesischen Geschäftspartner eine Firma gründete, ahnte er noch nicht, dass er damit die Tür zu einer ihm völlig neuen Welt aufstoßen würde. Durch die Geschäftsgründung – und später auch durch die Ehe mit seiner chinesischen Frau – erhielt er tiefe Einblicke in die Kultur und den Alltag Chinas. In seinem Buch erzählt er bildreich von den Höhen und Tiefen seiner geschäftlichen und privaten Kontakte mit Menschen aus dem chinesischen Kulturraum.
Das chinesische Wort für Konflikt besteht aus zwei Zeichen: 危 机. Das erste Zeichen bedeutet Gefahr, das zweite Chance. Ein Konflikt wird in China sowohl als Gefahr als auch als Chance wahrgenommen. Der Autor leistet mit seinem Buch einen Beitrag zum besseren Verständnis der chinesischen Gesellschaft und beleuchtet dadurch die geopolitischen Spannungen zwischen Ost und West. Er hofft, dass wir Differenzen weniger als Gefahr betrachten, sondern unterschiedliche Meinungen, Kulturen und Religionen als Chance begreifen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum31. Jan. 2024
ISBN9783756266784
Ein Chinese sagt nicht, was er denkt: Höhen und Tiefen einer europäisch-chinesischen Zusammenarbeit
Autor

Christian Emil Schütz

Der Autor Christian Emil Schütz wurde am 6. November 1951 geboren. Er wuchs in Wohlen, einer Nachbargemeinde der Stadt Bern auf. Nach seiner Ausbildung zum Primarlehrer war er an Volksschulen im Kanton Bern und an einer Waldorfschule in Deutschland tätig. In England und in den Vereinigten Staaten verbrachte er Lern- und Erfahrungszeiten. Nachdem er aus gesundheitlichen Gründen seinen Beruf als Lehrer aufgeben musste, gründete er 2009 mit einem chinesischen Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin eine Firma, mit der er zwei TCM-Praxen eröffnete, die er bis heute als Geschäftsführer leitet. Christian Schütz ist mit Frau Prof. Gu verheiratet, durch die er einen vertieften Einblick in die chinesische Kultur erhielt. Nicht nur durch den gemeinsamen Austausch, sondern auch durch die Aufenthalte in China bei der Familie seiner Ehefrau. Im Rahmen einer Zauberflöteninszenierung lernte Christian Emil Schütz 1996 den russischen Kinder- und Jugendchor Sophia kennen, für den er wiederholt Konzerttourneen in die Schweiz, nach Deutschland, Frankreich und in die Vereinigten Staaten organisierte. Durch seine Vermittlung gab der Musikverlag Claves eine CD mit den liturgischen Liedern der russisch-orthodoxen Kirche heraus. Der Autor hat einen Sohn aus einer früheren Beziehung und einen Enkel. Christian Emil Schütz wohnt mit seiner Frau im Elternhaus in Wohlen b. Bern.

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    Buchvorschau

    Ein Chinese sagt nicht, was er denkt - Christian Emil Schütz

    Kapitel 1

    „Die beste Möglichkeit die Zukunft vorherzusagen, ist sie zu gestalten."

    Abraham Lincoln, 1809–1865

    Die Vorgeschichte

    Am 27. Juni 2009 saß ich mit meinem chinesischen Geschäftspartner Dr. Wu¹ beim Notar, um die für eine Firmengründung notwendigen Dokumente zu unterzeichnen. Beinahe wäre die Gründung gescheitert, denn mein chinesischer Geschäftspartner wollte nicht, dass seine Teilhabe in irgendeiner Form sichtbar wurde. In diesem Fall hätte er jedoch auch kein Verwaltungsrat der Firma oder Teil der Geschäftsführung werden können. Beide Funktionen müssen transparent sein, sonst hat er bei strategischen und operativen Entscheidungen kein Mitspracherecht. Dies konnte Dr. Wu jedoch nicht verstehen. Seine Überzeugung war: Wer eine Firma besitzt, hat das Sagen.

    Ich ging davon aus, dass unser Ziel die Gründung einer Firma war, die Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin plant, aufbaut und betreibt.

    Wir hatten uns sieben Jahre zuvor kennengelernt. Die Arbeit als Lehrer belastete mich damals so stark, dass ich mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen hatte. Meine Verdauung war schlecht, eine Darmspiegelung ergab, dass ich an Reizdarm litt. Das kam wohl vom Stress, den ich in meinem Beruf hatte. Als ich den Hausarzt fragte, wie man einen Reizdarm heilen könne, sagte er mir, dass die Schulmedizin eigentlich nicht genau wisse, wie solche Beschwerden zu heilen seien. Aufgrund seiner Erfahrungswerte sei es vermutlich möglich, mir mit Traditioneller Chinesischer Medizin zu helfen.

    Bis dahin war ich noch nie in Kontakt mit Traditioneller Chinesischer Medizin gekommen. Von ihr wusste ich praktisch nichts, nur dass Nadeln im Spiel sind. Diese Vorstellung hielt mich zunächst davon ab, umgehend einen Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) zu suchen. Bei der Recherche nach dem Begriff Traditionelle Chinesische Medizin stieß ich auf die Websites von drei Praxen in meiner Stadt. Ich entschied mich für jene, deren Internetauftritt mich am meisten überzeugte.

    Bei meinem ersten Termin stellte sich heraus, dass der chinesische Arzt kaum Deutsch verstehen und sprechen konnte. So gut wie möglich versuchte ich ihm mit Händen und Füßen zu erklären, was ich ausdrücken wollte. Seine positive Körpersprache ließ mich zu dem Schluss kommen, dass er mitbekommen hatte, um was es für mich ging. Erst Jahre später sollte ich von demselben Arzt lernen, dass man sich besser nicht auf das stützt, was ein Chinese nach außen zeigt. Ein Chinese sagt nicht, was er denkt. Mit Chinese war auch ganz konkret Dr. Wu gemeint. Rückblickend weiß ich nicht, ob er damals meine Ausführungen zur Gänze verstanden hatte. Nachdem ich mit meinen Informationen fertig war, bat er mich, meine Hand auf ein weiches Kissen zu legen. Mit seinen Fingern fühlte er längere Zeit meinen Puls. Anschließend machte er ein Zeichen, dass ich meine Zunge herausstrecken solle. Er studierte sie und nickte zufrieden. Anscheinend wusste er nun alles, was für eine Behandlung notwendig war.

    Ich legte mich mit dem Rücken auf die Behandlungsliege. Für meine Körpergröße von 1,96 Metern war die Liege zu kurz, die Füße ragten darüber hinaus. Zum Glück konnte ich nicht sehen, wie er für die Behandlung die Nadeln vorbereitete, sonst hätte dies bei mir möglicherweise Angstgefühle ausgelöst. Bevor er eine Nadel setzte, desinfizierte er den Einstichpunkt; der Schmerz dauerte nur kurz. Auf diese Weise steckte er ungefähr 10 bis 15 Nadeln nicht nur in meinen Bauch, sondern auch in meine Beine und Arme. Heute weiß ich, dass in der TCM die Nadeln nicht nur an jenen Stellen gestochen werden, an denen sich die Beschwerden befinden.

    Die Basis der Traditionellen Chinesischen Medizin bilden 14 Meridiane, die durch den gesamten Körper gehen. Jeder Meridian wird in weitere Meridiane unterteilt, die mit den Sinnesorganen Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut sowie mit allen übrigen Organen verbunden sind. So erhält man Zugriff auf ein Organ an einer Stelle, die sich an einem ganz anderen Ort befindet.

    Nach der letzten Nadel bedeckte mich der chinesische Arzt mit einem leichten Baumwolltuch, sodass ich nicht frieren musste. Dann verließ er das Behandlungszimmer und ließ mich allein. Zwischendurch fragte er immer mal wieder nach, ob es mir gut gehe. Nach ungefähr 50 Minuten erlöste er mich von den Nadeln. Schnell und ohne weitere Beschwerden. Ich vereinbarte weitere Termine, da mindestens zehn bis zwölf Sitzungen notwendig waren, damit sich eine Besserung einstellen konnte.

    In der Praxis war noch ein anderer Arzt tätig, der schon länger in der Schweiz war. Bei meiner Anmeldung fragte mich die Praxisassistentin, bei welchem Arzt ich mich behandeln lassen möchte. Da ich keinen der beiden kannte, überließ ich ihr die Wahl. Schon an dieser Stelle wurden wohl Weichen gestellt, die ich damals nicht bewusst wahrgenommen hatte. Die Praxisassistentin sprach Deutsch. Sie konnte mir Auskunft über die Behandlungen geben, jedoch war sie nicht in der Lage, die sprachliche Barriere zwischen mir und dem Arzt zu überwinden.

    Bei jeder Sitzung wurde die Kommunikation mit dem chinesischen Arzt besser. Ich fand heraus, dass er noch nicht lange in der Schweiz war, und seine Familie – seine Frau und ein Sohn – noch in China waren. Wie musste es für diesen chinesischen Arzt sein, in einem Land zu leben, dessen Sprache er nur ansatzweise verstehen und sprechen konnte? Nach einer Behandlung fragte ich ihn spontan, ob er Interesse habe, mit mir an einem Samstag einen Ausflug zu machen. Seine Reaktion war positiv.

    Wir fuhren nach Leukerbad in die Therme und auf der Rückfahrt besuchten wir Schloss Chillon am Genfersee, zweifellos eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Schweiz.

    Im Auto erzählte er mir von Mao Zedong. Welche außerordentlichen Fähigkeiten er hatte, konnte er doch zwei verschiedene Dinge gleichzeitig machen: einen Brief schreiben und sich mit jemandem unterhalten. Durch die Art und Weise, wie Dr. Wu mir von Mao Zedong erzählte, kam ich zu dem Schluss, dass es ihm ein Anliegen ist, ein positives Bild von Mao Zedong abzugeben.

    Der erste und der zweite Opiumkrieg im 19. Jahrhundert unter Führung Großbritanniens hinterließen beim chinesischen Volk tiefe Narben, nicht nur durch die militärischen Niederlagen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich europäische Staaten schamlos an chinesischen Kulturgütern bedient haben, die heute in den großen Museen Europas ausgestellt sind. Durch die beiden japanischen Kriege wurde China erneut tief gedemütigt; so schwer, dass Chinesen noch heute Mühe haben, Beziehungen mit Japanern zu pflegen. Von Zeit zu Zeit wird dieser Graben in China aufgerissen. In diesen Momenten ist es dann von Vorteil, kein japanisches Auto zu besitzen, muss man doch in einer solchen Situation befürchten, dass aufgebrachte Chinesen ihren Hass auf Japan ausleben, indem sie japanische Autos beschädigen.

    Am 1. Oktober 1949 ist Mao Zedong zweifellos etwas Außergewöhnliches gelungen: Mit der Gründung der Volksrepublik China wurde das Land nicht nur vereint, sondern erhielt seine eigene Identität zurück. Durch die aufgezwungenen Kriege lag China 1949 am Boden. Mao Zedong musste buchstäblich von Null beginnen. Der Vater einer Assistentin unserer heutigen Praxen stand am 1. Oktober 1949 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, als Mao Zedong die Volksrepublik China ausrief. Barfuß. Damals hätten wohl wenige gedacht, dass China lediglich 70 Jahre später derart erstarken könne, dass es sich zu einer Herausforderung der westlichen Welt entwickelt. Einer der wenigen, die das vorausgesehen haben, war mein Geographielehrer: Es muss 1964 gewesen sein, als er im Unterricht sagte, nicht Russland sei eine Bedrohung für Europa, sondern China. Er sprach von der gelben Gefahr. Das meiste aus meiner Schulzeit habe ich vergessen, doch diese Aussage ist mir bis heute im Kopf geblieben.

    Tatsächlich begann am 1. Oktober 1949 der unglaubliche Aufstieg Chinas. Heute ist das Land kurz davor, die Weltführerschaft in Anspruch zu nehmen. Mao Zedong hat den Grundstein dafür gelegt. Dass später während der Kulturrevolution Millionen Menschen verhungern mussten, versucht man bis heute in China weitgehend auszublenden. Nichts sollte das einmalige Erbe Mao Zedongs beflecken. Auch dass Mao Zedong mehrere Frauen hatte, verzeiht man ihm, wenngleich dies per Gesetz verboten war. Schließlich war es früher immer auch das Privileg der chinesischen Kaiser, die nicht nur ein paar, sondern gleich hunderte Frauen in ihre Obhut nahmen. Meinem chinesischen Arzt war es offensichtlich ein Anliegen, dass ich die Bedeutung und Stellung Mao Zedongs, dem Begründer des heutigen selbstbewussten Chinas, kenne.

    Wir machten in der Folge noch weitere Ausflüge in die Berge und vertieften dabei unsere Beziehung. Schon bald waren wir per Du.

    Er lud mich zu sich nach Hause zum Essen ein. Es ist der Stolz eines chinesischen Gastgebers, dass es bei einem Essen nicht nur zwei, drei Gerichte gibt, sondern mindestens zehn. Er musste schon den ganzen Nachmittag gekocht haben, als ich bei ihm eintraf. Eine chinesische Mahlzeit ist weit mehr, als lediglich den Hunger zu stillen. Man lässt sich Zeit, diskutiert über China und die Welt. Unser Gesprächsthema beschränkte sich nicht nur auf China, sondern wie bei früheren Treffen sprachen wir auch über das politische Geschehen in der Schweiz, die sieben Bundesräte, durch die die Schweiz regiert wird. Für Chines*innen unvorstellbar, dass auf diese Weise ein Land regiert werden kann. Um ein Land zu führen, braucht es einen starken Machthaber, der unangefochten an der Spitze steht, so ist ihre klare Vorstellung. Das Gleiche gilt auch für eine Firma oder Institution: Es kann immer nur einen Chef geben, dem sich alle zu unterwerfen haben. Es war nicht so, dass mein chinesischer Arzt mir das so gesagt hat; das wurde mir erst viel später bewusst. Chines*innen sagen nicht, was sie denken. Aber die Tatsache, dass er mit mir über die sieben Bundesräte sprach, die gleichberechtigt die Regierung in der Schweiz bilden, war ein Zeichen, dass das für ihn ein Thema war. Wäre ich ein Chinese, so hätte ich damals seine persönliche Meinung zwischen den Zeilen verstehen müssen, nämlich dass er sich nicht vorstellen könne, dass ein Land oder eine Institution gleichzeitig von sieben Menschen gleichberechtigt regiert werden kann.

    Dr. Wu sprach auch über das Essen. Er machte mich darauf aufmerksam, wie sich die Menschen in seiner Heimat, im Süden Chinas, eher vegetarisch ernähren. Im Norden Chinas sei das anders. Dort sei das Angebot für pflanzliche Nahrungsmittel zu klein, deshalb würde man sich dort vermehrt auch mit Fleisch ernähren. Würde man sich vegetarisch ernähren, so müsse man mengenmäßig mehr essen, damit genügend Energie aufgenommen wird. Studien in China hätten gezeigt, dass sich die Verdauungsorgane der Menschen, die im Süden leben, von den Verdauungsorganen der Menschen im Norden Chinas genetisch unterscheiden. Durch die Jahrhunderte hindurch haben sich der Magen und der Darm dem lokalen Nahrungsangebot angepasst.

    Dr. Wu stellte in Frage, dass die Verdauung der Schweizer die Voraussetzung mitbringt, dass man sich vorwiegend vegetarisch ernähren kann. Im Süden Chinas gibt es praktisch keine Kühe, deshalb sei es für ihn sehr schwer, in der Schweiz Milchprodukte zu essen. Sein Magen war nicht daran gewöhnt. Damit ich mit dem Essen als Schweizer genügend Energie aufnehmen könne, beschränkte er sich nicht auf vegetarische Gerichte, sondern es gab auch Gerichte mit Schweine- und Hühnerfleisch.

    Eine chinesische Mahlzeit besteht nicht aus verschiedenen Gängen, sondern alle Speisen kommen kurz nacheinander auf den Tisch. Eine Nachspeise gibt es nicht. Wenn man satt ist und viel getrunken hat (auf dieses Thema komme ich später zu sprechen), ist die Mahlzeit beendet. Als ich aufbrechen wollte, stellte mir Dr. Wu die Frage, ob wir gemeinsam eine Firma gründen wollen. Ein Unternehmen, das Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin plant, aufbaut und führt. Nun hatten wir wohl drei Stunden miteinander gegessen und gesprochen und kurz vor meinem Aufbruch kommt er zum eigentlichen Grund, weshalb er mich zum Essen einlud. Was sollte ich sagen? Mein Bauch war voll, Wein hatte ich auch getrunken, nicht gerade die beste Voraussetzung, um klar zu denken und Entscheidungen zu treffen. Vom Gefühl her war mir der Gedanke sympathisch, suchte ich doch in dieser Zeit eine neue berufliche Perspektive. An diesem Tag war ich jedoch nicht mehr in der Lage, klar zu überlegen und Fragen zu stellen. Eigentlich hätte man den ganzen Abend Zeit gehabt, sorgfältig über einen solchen Plan zu sprechen, sich ein genaueres Bild zu machen, wie eine solche Firma aussehen könnte. Stattdessen sprachen wir über das politische System in der Schweiz und über die unterschiedlichen Verdauungsorgane in China. Die Tatsache, dass Dr. Wu erst zum Schluss zum Thema kam, für das er mich zum Essen einlud, lag nicht an ihm, sondern es ist der übliche Weg, der in China gegangen wird: Man trifft sich zum Essen, um ganz am Ende das Geschäftliche zu beschließen.

    Bevor die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron den Auftrag zum Bau des Vogelnestes, das Olympiastadion in Peking, erhielten, mussten sie nicht nur einmal, sondern mehrmals nach Peking zu einem Essen fliegen. Sie wussten, dass sie beim Essen nicht über das Projekt sprechen durften, sondern dass es darum geht, sich kennenzulernen und das Vertrauen zu gewinnen, bis am Ende eines Essens das Geschäftliche innerhalb kurzer Zeit geregelt wird.

    Insofern hatte ich Glück: Bei mir reichte ein Essen aus, damit mich mein chinesischer Arzt über seine geschäftlichen Pläne informierte und sodann eine positive Antwort erwartete.

    Stehen wir im Leben vor einer Weggabelung, so können wir noch nicht wissen, wohin welcher Weg führen wird. Damit wir der Zukunft gerecht werden, tun wir gut daran, uns von festen Vorstellungen zu verabschieden. Zukunft lässt sich nicht vorstellen, sondern gemäß dem Zitat von Abraham Lincoln gestalten. Zukunft ist in jedem Fall unwägbar.


    ¹ Name geändert

    Kapitel 2

    „Wenn Sie nur Dinge machen, von denen Sie im Voraus wissen, wie sie laufen, wird Ihr Unternehmen untergehen."

    Jeff Bezos, 1964–heute

    Der (unsichtbare) Plan

    Am nächsten Tag wurde mir klar, dass wir uns möglichst rasch wieder treffen müssen, damit wir nicht nur über eine Idee, sondern über den eigentlichen Plan sprechen konnten. Diesmal war ich es, der die Initiative ergriff und meinem chinesischen Arzt, der über Nacht zu meinem potenziellen Geschäftspartner geworden war, klarmachte, dass wir über sein Vorhaben sprechen konnten und sollten.

    Er erzählte mir von einem Studienfreund, der gern in die Schweiz kommen würde, um wie er als Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin zu arbeiten. Er bezeichnete ihn als seinen großen Bruder. Welche Bedeutung hinter der Bezeichnung steht und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, wurde mir erst später bewusst. Hätte ich von Anfang an das Ziel hinter seinem Plan gekannt, so hätte ich gespürt, dass die gemeinsame Basis für die Gründung einer TCM-Praxis nicht ausreichend groß war; das Risiko jedoch umso größer war, dass früher oder später Konflikte auftreten, die die Zusammenarbeit erschwerten.

    Meinem chinesischen Arzt war dies wohl bewusst, deshalb legte er bei weiteren Treffen seine Karten nie ganz offen auf den Tisch. Chinesen wissen genau, dass es für das Erreichen eines Zieles hinderlich sein kann, offen und transparent zu handeln. In der westlichen Kultur bezeichnen wir ein derartiges Verhalten als eine Täuschung. Nicht so in China. Eine Täuschung ist ein durchaus legitimes Mittel, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen. Die hohe Kunst besteht dabei darin, dass einem erst beim Erreichen des Zieles bewusst wird, welche eigentliche Intention hinter dem Plan stand. Dann kann es jedoch meist schon zu spät sein, um noch eine andere Richtung einzuschlagen.

    Für mich war seine Begründung ausreichend, dass die Praxis für seinen Studienfreund eröffnet werden sollte. Die Herausforderung, diesen Plan umzusetzen, motivierte mich und so steckte ich über mehrere Wochen meine persönliche Energie in das Projekt. Natürlich verriet mir der chinesische Arzt auch erst später, weshalb er mich überhaupt gefragt hatte, mit ihm zusammen das Projekt umzusetzen. Es war ihm bewusst, dass er es aus eigener Kraft nicht geschafft hätte. Er brauchte einen Einheimischen, der in der Lage war, die unterschiedlichen Aufgaben und Probleme zu lösen. Im westlichen Kulturkreis hätte man wohl gesagt: „Ich habe diesen konkreten Plan, den ich allein nicht umsetzen kann. Aus diesem Grund brauche ich dich." In den Augen von Chines*innen wäre eine solche Aussage unangebracht, stellt man sich doch als schwach dar und macht gleichzeitig den Partner stark. Oberstes Prinzip von Chines*innen ist es, die eigene Schwäche niemals aufzudecken, es sei denn, man verdeckt mit dieser Haltung gleich eine Täuschung. Auf diese raffinierte Strategie gehe ich später noch ein.

    Dr. Wu wollte vermeiden, dass ich der Stärkere war, er wollte die Nummer eins bleiben. Für mich sollte es eine Ehre sein, mit ihm zusammenzuarbeiten, ohne dass von Beginn an der Vorhang gelüftet wurde, hinter dem die eigentlichen Ziele des Plans sichtbar wurden.

    Neben der Information, dass sein großer Bruder Arzt in unserer ersten Praxis werden sollte, informierte mich Dr. Wu – ich nannte ihn nun beim Vornamen Shiyan² – darüber, welche Aufgaben gelöst werden müssen, damit das (vordergründige) Ziel erreicht werden konnte. Er hatte zuvor selbst Informationen eingeholt. Die schwierigste Hürde war zweifellos die Arbeitsbewilligung für den Arzt. Bei EU-Bürgern reicht ein Arbeitsvertrag aus, um in der Schweiz arbeiten zu können. Kommt man aus einem sogenannten Drittstaat, so wird es schwierig und kompliziert. Ich begann mich zu informieren, bei welchen Stellen welche Gesuche gestellt werden müssen. Insgesamt sind es vier staatliche Stellen, die für eine Arbeitsbewilligung von chinesischen Ärzten in der Schweiz zuständig sind. Ich fing an, im Internet zu recherchieren, und studierte sämtliche Informationen und Gesetzesparagrafen.

    Neben den staatlichen Bewilligungen gilt es, den Arzt bei drei verschiedenen Stellen zu registrieren, damit die Behandlungen über eine private Zusatzversicherung für komplementäre Medizin abgerechnet werden können. Welche Voraussetzungen notwendig sind, weicht bei jeder staatlichen und privaten Stelle ab.

    In einem Punkt hatte Dr. Wu bereits vorgearbeitet: Er wusste, dass in 30 Kilometern Entfernung Räumlichkeiten ausgeschrieben waren, die als Praxis in Frage kamen. Dort gab es noch keine Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin. Umgehend nahm ich mit dem Vermieter Kontakt auf. Alles passte, doch ich konnte nicht gleich einen Mietvertrag unterzeichnen, da die Arbeitsbewilligung des chinesischen Arztes in weiter Ferne lag. Der Vermieter hatte mich als Interessenten vermerkt und wollte sich bei mir melden, falls noch weitere Personen an den Räumen Interesse hatten.

    Da der große Bruder in China sicher kein Deutsch sprach, suchte ich eine Dolmetscherin, um die Kommunikation zwischen dem Arzt und den Patient*innen zu gewährleisten. Ihnen sollte es nicht so ergehen wie mir: Eine Kommunikation, von der man nicht sicher war, ob die Informationen beim Arzt angekommen sind oder nicht. Unterdessen hatte ich herausgefunden, dass es in anderen Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin Dolmetscherinnen gab. In der Stadt gab es seit 1983 einen Verein Freundschaft mit China. Mitglieder waren junge Student*innen, die bereits seit 1973 nach China reisten, um das kommunistische Gesellschaftsmodell kennenzulernen. Nicht wenige sahen in der Kulturrevolution Mao Zedongs eine verheißungsvolle Alternative zu unserem kapitalistischen System. Mit dem Verein wollte man die Beziehung zu China vertiefen. Waren es am Anfang gesellschaftspolitische Ziele, die man verfolgte, so wurde der Verein später zu einem Treffpunkt von Familien, die durch ihre Herkunft mit beiden Kulturen verbunden sind.

    Von diesem Verein hat mir Dr. Wu nicht erzählt, was kein Zufall war, sondern Teil seiner Strategie: Niemand sollte wissen, dass er hinter dieser Firma steckt. Als ich ihm von diesem Verein erzählte, teilte er mir mit, dass niemand wissen dürfe, dass er Teil unseres Plans war. Für mich war es nicht einfach, dieses Konstrukt aufrechtzuerhalten. Sobald ich jemandem von meinem Plan erzählte, war die erste Frage meiner Gegenüber, wie ich als Schweizer auf die Idee käme, eine Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin zu eröffnen. Die Unwahrheit zu sagen, hinterließ bei mir einerseits ein schlechtes Gewissen, andererseits konnte Unehrlichkeit später eine Zusammenarbeit behindern. Ich antwortete, dass ich von einem Chinesen angefragt worden sei, das Projekt mit ihm zu machen, dieser jedoch nach außen nicht in Erscheinung treten möchte.

    Durch den Verein Freundschaft mit China fand ich tatsächlich Chinesinnen, die mit Schweizern verheiratet waren und ziemlich gut Deutsch sprachen. Ich konnte sogar zwischen mehreren Bewerbungen auswählen. Auch hier sollten sich die Probleme erst später zeigen.

    Für mich war ein wichtiger Punkt, eine juristische Grundlage in Form einer Aktiengesellschaft oder GmbH zu schaffen. Die Aktiengesellschaft hielt ich für unseren Fall als geeignet. Mein Geschäftspartner teilte meine Meinung und schlug vor, dass beide zu 50 Prozent an der Firma beteiligt sein sollten. Damals waren am Horizont noch keine dunklen Wolken sichtbar, so machte ich mir keine Gedanken,

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